28
Vor hundertfünfzig Jahren war die alte Windmühle der Stolz Manhams gewesen. Es war keine Kornmühle, sondern eine vom Wind angetriebene Pumpe, wie sie früher zu Hunderten dazu gedient hatten, den Sumpf in den Broads trockenzulegen. Heute war sie ein verfallenes Gemäuer, das in keiner Weise mehr an die goldenen Tage erinnerte. Dort, wo einmal die stattlichen Flügel angebracht gewesen waren, war nur ein Loch im zerbröckelnden Mauerwerk übrig geblieben, und von dem sie umgebenden Land hatte die Natur wieder Besitz ergriffen. Über die Jahre war der viel zu nasse Boden mit Buschwerk zugewachsen, bis der baufällige Turm völlig überwuchert war.
Aber leer stand er nicht.
Ich konnte mir später aus Mackenzies Erzählung zusammenreimen, was geschehen war. Der Plan hatte darin bestanden, gleichzeitig die Windmühle, das Haus der Brenners und das Cottage, in dem Dale Brenner wohnte, zu stürmen. Dahinter steckte die Absicht, beide Männer zu fassen, ohne ihnen oder ihren Familien die Gelegenheit zu geben, sich gegenseitig zu warnen. Obwohl die Vorbereitungen so länger dauerten, glaubte man auf diese Weise die besten Chancen zu haben, Jenny lebend zu finden. Natürlich nur, wenn alles nach Plan lief.
Ich hätte ihnen sagen können, dass nie etwas nach Plan läuft.
Mackenzie begleitete das Kommando, das die Windmühle übernehmen sollte. Die Abenddämmerung setzte bereits ein, als sich die Wagen und Transporter mit den Polizeibeamten in ihren kugelsicheren Sachen dem Ziel näherten. Unter ihnen war ein bewaffnetes Sondereinsatzkommando sowie Sanitäter und ein Krankenwagen, um Jenny und mögliche andere Verletzte sofort ins Krankenhaus zu bringen. Da nur ein schmaler und überwucherter Weg zur Windmühle führte, hatte man beschlossen, die Fahrzeuge am Rande des Waldes stehen zu lassen und das letzte Stück zu Fuß zurückzulegen.
Vor der Windmühle verharrten sie zwischen den Bäumen, während einzelne Teams losgeschickt wurden, um die Türen und Fenster auf der Rückseite zu sichern. Während er darauf wartete, dass sie ihre Stellungen bezogen, betrachtete Mackenzie die Ruine. Sie wirkte verlassen, und im abnehmenden Licht schien das dunkle Mauerwerk die einsetzende Dunkelheit aufzusaugen. Dann knisterte sein Funkgerät und eine Stimme sagte ihm, dass jeder seine Position eingenommen hatte. Mackenzie schaute den Leiter des Einsatzkommandos an. Er nickte kurz.
»Los.«
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Zu der Zeit wusste ich von alledem nichts. Mir war nur quälend bewusst, dass ich nichts tun konnte außer zu warten. Doch Mackenzie hatte Recht. Ich hatte genügend verpfuschte Polizeieinsätze erlebt, um zu wissen, dass sie anständig geplant werden mussten. Aber das machte es mir nicht leichter.
Es war offensichtlich gewesen, dass ich am Polizeiwohnwagen nicht wohlgelitten war, selbst wenn ich hätte bleiben wollen. Doch ich hatte es nicht ertragen können, herumzusitzen und dort aus den finsteren Gesichtern erraten zu wollen, was geschah. Ich war zurück zum Landrover gegangen und hatte Ben angerufen. Er hatte wissen wollen, was vor sich ging. Meine Hände zitterten, als ich seine Nummer wählte.
»Hör mal, warum kommst du nicht her und wartest hier?«, hatte er gesagt. »Lass uns gemeinsam den Whisky austrinken. Du solltest jetzt nicht allein sein.«
Ich wusste seine Fürsorge zu schätzen, lehnte aber dennoch ab. Alkohol war das Letzte, was ich jetzt wollte. Oder Gesellschaft. Ich beendete den Anruf und starrte durch die Windschutzscheibe. Der Himmel über Manham hatte sich kupferrot eingetrübt, immer dunklere Wolken zogen heran. Die Luft roch nach Regen. Mit einem untrüglichen Timing kam die Hitzewelle schließlich zum Ende. Wie eine Menge anderer Dinge.
Abrupt war ich aus dem Landrover gesprungen, um Mackenzie erneut zu beknien, mich mitkommen zu lassen. Doch ich war stehen geblieben, bevor ich den Wohnwagen erreicht hatte. Ich wusste, wie seine Antwort ausfallen würde, und ich würde Jenny nicht helfen, wenn ich jetzt die Arbeit der Polizei behinderte.
Und dann war mir plötzlich die Lösung gekommen. Ich durfte sie vielleicht nicht bis zur Windmühle begleiten, aber sie konnten mich nicht davon abhalten, in der Nähe zu warten. Dazu musste ich Mackenzie nicht um Erlaubnis bitten. Ich könnte etwas Insulin mitnehmen und bereit sein, wenn Jenny gefunden wurde. Das war kein besonders raffinierter Plan, aber es war immerhin besser, als gar nichts zu tun. Ich hatte bereits Kara und Alice verloren. Ich konnte nicht einfach untätig abseits stehen, während Jennys Schicksal entschieden wurde.
In meiner Arzttasche hatte ich kein Insulin, aber im Kühlschrank der Praxis gab es einen Vorrat. Ich war zurück zum Wagen gerannt, zum Bank House gefahren und hatte den Motor des Landrovers laufen lassen, während ich hineingestürzt war. Die Abendsprechstunde war vorbei, aber Janice war noch da gewesen. Sie schaute überrascht auf, als ich so hereingeplatzt kam.
»Dr. Hunter, ich habe gar nicht mit Ihnen gerechnet … Ich meine, haben Sie etwas gehört …?«
Ich hatte nur den Kopf geschüttelt und war zu sehr in Eile gewesen, um zu antworten. Ich lief in Henrys Arbeitszimmer und riss den Kühlschrank auf. Als Henry hereingerollt kam, schaute ich mich nicht einmal um.
»David, was machst du denn da?«
»Ich suche Insulin.« Ich wühlte durch die Fläschchen und Packungen. »Komm schon, wo ist es, verflucht nochmal?«
»Beruhige dich und erzähl mir, was passiert ist!«
»Es sind Carl Brenner und sein Cousin. Sie halten Jenny in der alten Windmühle gefangen. Die Polizei wird sie stürmen.«
»Carl Brenner?« Er hatte einen Moment gebraucht, um die Nachricht zu verarbeiten. »Und warum brauchst du Insulin?«
»Ich fahre hin.« Das Insulin starrte mich an. Ich hatte es mir geschnappt und schloss den Stahlschrank auf, um eine Spritze hervorzuholen.
»Aber die Polizei wird doch einen Krankenwagen dabeihaben, oder?«
Ich hatte nicht geantwortet und in den Fächern stur weiter nach den Einwegspritzen gesucht.
»David, denk doch mal nach. Die werden gut ausgestattete Notfallteams mit Insulin und allem anderen Kram haben. Was bringt es, wenn du ihnen dazwischenfunkst?«
Die Frage hatte mich in meiner Raserei innehalten lassen. Die ganze fanatische Energie, die mich angetrieben hatte, war wie weggeblasen. Ich starrte blöde auf das Insulin und die Spritzen in meinen Händen.
»Ich weiß es nicht.« Meine Stimme war heiser.
Henry seufzte. »Leg es zurück, David«, sagte er sanft.
Ich verharrte noch einen Moment, dann tat ich, was er gesagt hatte.
Er nahm meinen Arm. »Komm und setz dich. Du siehst furchtbar aus.«
Ich ließ mich von ihm zum Stuhl führen, setzte mich aber nicht. »Ich kann mich nicht hinsetzen. Ich muss etwas tun.«
Er schaute mich besorgt an. »Ich weiß, dass es schwer ist. Aber manchmal kann man einfach nichts tun, egal, wie sehr man es will.«
Meine Kehle hatte sich zugeschnürt. Ich spürte, wie mir Tränen in die Augen stiegen. »Ich will dort sein. Wenn sie gefunden wird.«
Einen Augenblick sagte Henry nichts. »David …«, begann er zögernd. »Ich weiß, dass du das nicht hören willst, aber … also, meinst du nicht, du solltest auf das Schlimmste gefasst sein?«
Ich hatte das Gefühl, als hätte mir jemand in den Magen geschlagen. Ich bekam keine Luft mehr.
»Ich weiß, wie sehr du sie magst, aber …«
»Sag es nicht.«
Er nickte müde. »In Ordnung. Pass auf, ich mache dir einen Drink …«
»Ich will keinen Drink!« Ich zügelte mich. »Ich kann nicht herumsitzen und warten. Ich kann einfach nicht.«
Henry sah hilflos aus. »Ich wünschte, ich fände die richtigen Worte. Es tut mir Leid.«
»Gib mir etwas zu tun. Irgendetwas.«
»Es gibt nichts. Es ist nur ein Hausbesuch eingetragen, und …«
»Wer ist es?«
»Irene Williams, aber es ist nicht dringend. Du solltest lieber hier bleiben und …«
Doch ich war schon auf dem Weg zur Tür gewesen. Ich ging hinaus, ohne das Krankenblatt der Patientin mitzunehmen, und bemerkte kaum den besorgten Blick, mit dem Janice mich betrachtete. Ich musste in Bewegung bleiben und mich von der Tatsache ablenken, dass Jennys Leben nicht in meinen Händen lag. Ich versuchte diesen Gedanken zu verdrängen, als ich zu den kleinen Reihenhäusern am Rande des Dorfes fuhr, wo Irene Williams wohnte. Die gesprächige, immer gut gelaunte, über siebzig Jahre alte Frau wartete stoisch darauf, dass ihre arthritische Hüfte ersetzt wurde. Normalerweise besuchte ich sie gerne, doch an diesem Abend war ich nicht in Plauderlaune.
»Sie sind so still. Hat es Ihnen die Sprache verschlagen?«, fragte sie, als ich ihr Rezept ausstellte.
»Ich bin nur müde.« Ich stellte fest, dass ich ihr ein Rezept für Insulin statt für Schmerzmittel ausgestellt hatte. Ich zerknüllte es und schrieb ein neues.
Sie lachte leise. »Glauben Sie nicht, ich wüsste nicht, was mit Ihnen los ist.«
Ich konnte sie nur anstarren. Sie lächelte; ihre falschen Zähne waren das einzige Jugendliche in ihrem faltigen Gesicht.
»Sie brauchen ein nettes Mädchen. Das würde Sie ein bisschen aufmuntern.«
Ich hatte mich gerade noch davon abhalten können, nicht sofort aus der Tür zu stürzen. Zurück in der Sicherheit des
Landrovers, legte ich meinen Kopf auf das Lenkrad. Ich schaute auf meine Uhr. Die Zeiger schienen sich mit spöttischer Langsamkeit zu bewegen. Es war noch zu früh, als dass es etwas Neues hätte geben können. Ich hatte genügend Erfahrung mit der Arbeitsweise der Polizei gesammelt, um zu wissen, dass die Beamten wahrscheinlich immer noch redeten, die Einsatzkommandos instruierten und ihr Vorgehen endgültig festlegten.
Ich hatte mein Handy trotzdem überprüft. Das Signal war schwach, doch der Empfang reichte aus, dass mich Anrufe oder Nachrichten hätten erreichen können. Nichts. Ich starrte durch die Windschutzscheibe auf das Dorf. In dem Moment ging mir auf, wie sehr ich Manham hasste. Ich hasste die gedrungenen Steinhäuser, und ich hasste die flache, sumpfige Landschaft. Ich hasste das Misstrauen und den Neid der Einwohner. Ich hasste es, dass ein perverser Mörder unbemerkt hier hatte leben können, bis sein Wahnsinn zum Ausbruch kam. Vor allem hasste ich die Tatsache, dass mir das Dorf Jenny geschenkt und dann wieder genommen hatte. Verstehst du? So hätten auch wir werden können.
Dieses beinahe fiebrige Gefühl war so schnell vergangen, wie es gekommen war, und hatte mich nervös und schwach zurückgelassen. Dunkle Wolken überzogen den Himmel wie ein sich ausbreitender blauer Fleck, als ich den Wagen startete. Jetzt konnte ich nur noch zurückfahren und auf den Anruf warten, vor dem ich solche Angst hatte. Der Gedanke daran erstickte mich.
Und dann war mir schließlich etwas anderes eingefallen. Als ich am Morgen Scarsdale auf dem Kirchhof getroffen hatte, hatte mir Tom Mason vom schlimmen Rücken seines Großvaters erzählt. Dies Leiden des alten Mannes war chronisch, der Preis dafür, dass er sein Leben über die Blumenbeete anderer Leute gebeugt verbracht hatte. Bei ihm vorbeizuschauen, würde ein paar weitere Minuten verstreichen lassen und mich ablenken, bis ich damit rechnen konnte, etwas von Mackenzie zu hören. Mit an Verzweiflung grenzender Erleichterung hatte ich den Wagen gewendet und mich auf den Weg zum Haus der Masons gemacht.
Der alte George und sein Enkel wohnten in dem ehemaligen Pförtnerhaus des Herrenhauses von Manham, das am Waldesrand am See lag. Die Familie war dort seit Generationen als Gärtner angestellt gewesen, und als junger Mann hatte George noch auf dem Anwesen gearbeitet, ehe das Haus nach dem Krieg abgerissen wurde. Das Pförtnerhaus war der einzige Überrest, ein paar gepflegte und kultivierte Morgen Land, die inmitten des sich wieder ausbreitenden Waldes überlebt hatten.
Der metallische Glanz des Sees war durch die Bäume zu sehen, als ich im Hof geparkt hatte und losgegangen war, um an die Tür zu klopfen. Sie hatte eine große Milchglasscheibe, die unter meiner Hand leicht klapperte. Als niemand Öffnete, klopfte ich erneut. Während ich wartete, vibrierte die Luft unter einem grollenden Donner. Ich schaute zum Himmel und war überrascht, wie schnell es dunkel geworden war. Die heranziehenden Gewitterwolken hatten dem Tag vorzeitig ein Ende bereitet. Bald würde es stockduster sein.
Während mir das durch den Kopf gegangen war, hatte ich mich über noch etwas gewundert. Im Haus brannten keine Lichter. Seltsam, wenn jemand zu Hause sein sollte. Hier wohnten nur die beiden, Toms Eltern waren gestorben, als er noch klein war. Sollte George sich so weit erholt haben, dass er wieder zur Arbeit gegangen war? Ich strebte zurück zum Landrover, doch schon nach wenigen Schritten blieb ich stehen. Das Gefühl, dass etwas nicht stimmte, ließ mich nicht los. Eine unheimliche Ruhe vor dem Sturm lag in der Luft. Ich schaute mich auf dem Hof um, gepackt von dem unbehaglichen Gefühl, dass gleich etwas passieren würde. Doch ich konnte nichts erkennen.
Als etwas auf meinen nackten Arm fiel, schreckte ich hoch. Ein dicker Regentropfen hatte mich getroffen. Wenig später zuckte ein greller Blitz über den Himmel. Für einen Augenblick war alles blendend hell erleuchtet. In der darauf folgenden unheilvollen Stille nahm ich ein Geräusch wahr, das ich eher spürte als hörte. Einen Moment später wurde es von dem tosenden Krachen des Donners übertönt, aber ich wusste, dass ich es mir nicht eingebildet hatte. Ein leises, beinahe unterschwelliges Summen, das ich sehr gut kannte.
Fliegen.
Und während mir dämmerte, was das bedeutete, stand Mackenzie mehrere Meilen entfernt zwischen Käfigen voller verängstigter Tiere und Vögel, während ein atemloser Sergeant bestätigte, was er bereits wusste.
»Wir haben alles überprüft«, sagte der Beamte. »Aber hier ist niemand.«