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Hauptwachtmeister Yu stand vor der schwarzlackierten, soliden Eichentür des Vordereingangs und berührte den glänzenden Messingklopfer, der dieses shikumen-Haus offenbar schon seit seiner Errichtung zierte.
»Das Gebäude hat zwei Eingänge«, erklärte Alter Liang. »Die Vordertür kann man von innen verriegeln. Normalerweise wird nach neun Uhr abends abgeschlossen. Und dann gibt es noch den Hintereingang, der auf eine kleine Seitengasse führt.«
Für Hauptwachtmeister Yu, der nicht erwähnt hatte, daß er selbst seit vielen Jahren in einem ähnlichen Gebäude wohnte, war diese Erklärung unnötig, doch er hörte geduldig zu. Sie überquerten den Hof und gelangten in die Gemeinschaftsküche. In diesem Raum drängten sich die Kohleherde von zwölf und mehr Familien, samt Geschirr, Reihen von Briketts und abgeteilten Wandschränken. Yu zählte fünfzehn Herde. Am hinteren Ende der Küche befand sich eine Treppe, die sich insofern von der in seinem Haus unterschied, als man auf dem Absatz einen weiteren Raum abgeteilt hatte. Dieses zwischen Parterre und erstem Stock gelegene tingzijian galt allgemein als eines der schlechtesten Zimmer in einem shikumen-Haus.
»Gehen wir hinauf in Yins Zimmer. Aber seien Sie vorsichtig, Hauptwachtmeister, die Stufen sind sehr schmal. Ist das nicht ein Zufall«, fuhr Alter Liang fort, »daß in den dreißiger Jahren so mancher Schriftsteller in einem solchen Kämmerchen hauste? Ich erinnere mich, daß man sogar von ›Treppenkammerliteratur‹ sprach, wenn die Autoren sehr arm waren. In unserem Viertel hat vor 1949 ein berühmter tingzijian-Autor gelebt, aber mir fällt sein Name nicht ein.«
Yu konnte ihm auch nicht weiterhelfen, meinte aber, den Begriff schon einmal gehört zu haben. Er fragte sich, wie diese Schriftsteller sich bei all dem Getrappel auf der Treppe konzentrieren konnten.
»Sie haben eine Menge gelesen«, sagte Yu, mittlerweile überzeugt, daß der Nachbarschaftspolizist nicht nur ein unermüdlicher Redner, sondern auch ein Meister der Abschweifung war.
Die Tür war versiegelt. Alter Liang wollte gerade den Papierkleber entfernen, als die vorwurfsvolle Stimme einer Bewohnerin ertönte: »Genosse Alter Liang, Sie müssen kommen und uns helfen. Dieser herzlose Mann hat seiner Familie seit über zwei Monaten nicht einen Yuan gegeben.«
Ein Familienkrach, vermutete Yu. Das kam ihm gerade recht. »Sie brauchen mich nicht zu begleiten, Alter Liang«, sagte Yu. »Sie haben so viele andere Pflichten. Das hier wird ohnehin eine Weile dauern. Anschließend sollten wir uns mit dem Nachbarschaftskomitee zusammensetzen. Könnten Sie das arrangieren?«
»Wie wäre es um zwölf Uhr im Büro?« fragte Alter Liang. »Aber bevor ich Sie verlasse, Hauptwachtmeister Yu: Hier ist ein ausführlicher Bericht über den Tatort. Insgesamt drei Seiten.«
Yu überflog den Bericht, während er, auf dem Treppenabsatz stehend, den Alten Liang in der Gemeinschaftsküche verschwinden sah.
In der Akte, die er im Bus gelesen hatte, war der Tatort mit einem Satz als »praktisch unbrauchbar« bezeichnet worden. Kaum etwas in Yins Zimmer war unberührt geblieben; das lag an der Art und Weise, wie der Leichnam entdeckt worden war. Ein Assistent, der zusammen mit Doktor Xia Fingerabdrücke nehmen wollte, sagte, aus der Vielzahl an Abdrücken und Schmierern auf allen Oberflächen seien so gut wie keine Schlüsse zu ziehen.
Der Bericht lautete folgendermaßen:
Am Morgen des 7. Februar war Lanlan, eine Bewohnerin aus dem ersten Stock des Ostflügels, etwa um drei Viertel sieben vom Gemüsemarkt zurückgekehrt. Als sie die Treppe hinaufging, kam sie an Yins Zimmer vorbei. Normalerweise war deren Tür geschlossen. Es war bekannt, daß Yin früh am Morgen im Volkspark Tai-Chi übte und in der Regel nicht vor acht Uhr zurückkam. Doch an diesem Morgen stand die Tür ein wenig offen. Es ging sie zwar nichts an, aber Lanlan registrierte es, weil es ungewöhnlich war. Sie bückte sich, um ihren Schuh zuzubinden, und spähte durch den Türspalt. Dabei bemerkte sie etwas, das wie ein umgekippter Stuhl aussah. Sie klopfte, stieß nach kurzem Warten vorsichtig die Tür auf und sah Yin, ein weißes Kissen neben dem Gesicht, am Boden liegen. Sie ist krank, war Lanlans erster Gedanke, oder ohnmächtig aus dem Bett gefallen. Rasch trat sie ins Zimmer, massierte bei Yin den Nothilfepunkt über der Oberlippe und rief nach Hilfe. Sofort tauchten sieben oder acht Leute auf. Einer spritzte kaltes Wasser auf Yins Gesicht, einer fühlte ihren Puls, ein anderer rannte, um den Krankenwagen zu rufen. Dann erst bemerkten sie, daß Yin nicht mehr atmete und daß mehrere Schubladen herausgezogen und durchwühlt worden waren. Noch mehr Menschen drängten in das winzige Zimmer. Als ihnen endlich klar wurde, daß hier ein Verbrechen geschehen war, hatten sie fast alles im Raum angefaßt.
Schließlich traf Alter Liang mit dem Nachbarschaftskomitee ein, doch auch das trug kaum zur Bewahrung des Tatorts bei. Ein Mitglied ging sogar so weit, das Kissen aufs Bett zurückzulegen und alle Schubladen wieder in die Schränke zu schieben.
Eines wurde in dem Bericht nicht erwähnt. Laut Parteisekretär Li war kurz nach Eintreffen des Alten Liang auch die Staatssicherheit am Tatort erschienen und hatte das Zimmer gründlich durchsucht. Auch sie hätten sich an die Regeln halten und Handschuhe tragen müssen, doch danach hatte Li nicht gefragt. Er wußte auch nicht, was sie mit ihrer Durchsuchung bezweckt hatten. Bei einer Dissidentin und Schriftstellerin war das Auftauchen der Staatssicherheit allerdings kaum verwunderlich. Außerdem war das Präsidium angewiesen worden, die Behörde über den Fortgang der Ermittlungen auf dem laufenden zu halten.
Yu strich sich nachdenklich übers Kinn, legte den Bericht in die Kladde zurück und entfernte das Siegel an der Tür. Der Raum, den er betrat, war ein schmuckloser, schäbiger kleiner Würfel. Wie bereits aus dem Bericht hervorging, deutete nichts auf einen Kampf hin, zumindest hatten sich keine Spuren davon erhalten. Einen Tag nach dem Mord und gemäß allem, was er gerade gelesen hatte, machte sich Hauptwachtmeister Yu keine Hoffnungen, irgend etwas zu finden.
Das Mobiliar schien Yin nach ihrem Auszug aus dem Wohnheim angeschafft zu haben. Es war typisch für die Achtziger; dunkelbraune, schlichte, funktionale Möbel in brauchbarem Zustand; ein einzelnes Bett, ein Tisch, ein Stuhl, ein Schrank mit großem Spiegel an der Tür, ein Sofa mit verblichenem rotem Bezug und ein Hocker, der auch als Nachttisch gedient haben mochte.
In einem Aschenbecher auf dem Tisch entdeckte er mehrere Zigarettenkippen. Braune Filter, eine amerikanische Marke namens »More«. Eine Art Schreibmaschine stand ebenfalls auf dem Tisch. Ein Computer war es jedenfalls nicht, da war sich Yu sicher. Vielleicht eine elektrische Schreibmaschine.
In einem kleinen Wandschränkchen fand er mehrere Dosen mit Teeblättern, ein Glas Nestle’s löslicher Kaffee, ein paar grobe Keramikschalen, ein Bündel Eßstäbchen in einem aus einer Wurzel geschnitzten Behälter, eine Tasse und ein Glas. Offenbar hatte sie hier kaum Gäste empfangen.
Das Bett war ordentlich gemacht, vermutlich von einem ihrer Nachbarn. Unter dem Laken gab es keine Matratze; sie hatte auf den harten Holzplanken geschlafen. Die vergilbte, mit Baumwolle gestopfte Steppdecke mußte bereits vier oder fünf Jahre alt sein und war an vielen Stellen geflickt. Sie fühlte sich starr an unter seiner Berührung. Das Kissen, das keinen Bezug hatte, war im Vergleich zur Steppdecke relativ weiß.
Dann wandte er sich den Schubladen zu. Die oberste enthielt Quittungen von verschiedenen Geschäften, unbenutzte Briefumschläge und ein Reisemagazin. In der zweiten waren Notizbücher, ein Block, ein Stapel Papier und ein Bündel Briefe, von denen einige englische Absender trugen. Der Inhalt der dritten war gut durchmischt: ein kleines Sortiment an Modeschmuck – vielleicht ein Souvenir ihres Hongkong-Aufenthalts –, eine Shanghai-Uhr mit Lederarmband und eine Halskette mit irgendeinem exotischen Tierknochen.
Der Inhalt des Kleiderschranks bestätigte seine Erwartungen. Die Kleidung war in tristen Farben gehalten, konventionell und meist von billiger Qualität. Die einzige Ausnahme bildete ein weißes Wollkleid, das nicht unbedingt teuer, aber dennoch aus gutem Stoff war.
Auf dem Bücherregal standen chinesische und englische Wörterbücher, die Geschichte der Han-Dynastie in mehreren Bänden, Ausgewählte Werke von Deng Xiaoping, sowie mehrere Exemplare von Tod eines chinesischen Professors und von Ausgewählte Gedichte von Yang Bing. Außerdem sah er einen Stapel alter Illustrierten, einige davon aus den vierziger und fünfziger Jahren, zwischen deren Seiten Lesezeichen hervorschauten.
Schließlich fand er ein altmodisches Photoalbum, auf dessen schwarzen Pappeseiten die Aufnahmen mit kleinen Aluminiumsternchen festgehalten wurden. Die ersten Seiten enthielten ausschließlich Schwarzweißphotos. Einige zeigten Yin als kleines Mädchen mit einem Pferdeschwanz. Dann folgten Farbaufnahmen von Yin mit dem roten Halstuch: eine junge Pionierin, die auf dem Schulhof der Flagge mit den Sternen salutiert. Auf einem handkolorierten Photo stand sie glücklich lächelnd zwischen einem weißhaarigen Mann und einer mageren kleinen Frau, vermutlich ihren Eltern, auf dem Volksplatz.
Er wandte sich einer Aufnahme zu, die 1967 oder 1968, also in den Anfangsjahren der Kulturrevolution, entstanden sein mußte. Darauf trug Yin die rote Armbinde und hielt eine Rede auf einer Bühne, in deren Hintergrund vor rotem Samtvorhang eine Reihe hoher Regierungsvertreter saßen. Sie war die Vertreterin der Roten Garden bei einer nationalen Studentenkonferenz gewesen, doch trotz ihres politischen Ranges wirkte sie wie ein unerfahrenes Mädchen. Ihr Gesicht war nicht wirklich jung, aber von jugendlicher Leidenschaft belebt. Das Ganze sah aus wie ein Plakat der Roten Garden, das er einmal gesehen hatte. Die folgenden beiden Seiten dokumentierten die glanzvollsten Momente ihrer politischen Karriere. Ein Photo zeigte sie am Tisch mit hohen Parteifunktionären bei einer Konferenz in der Verbotenen Stadt.
Doch dann schien es eine Lücke zu geben. Nicht daß Photos gefehlt hätten, aber es gab einen abrupten Sprung von der jungen Rotgardistin zu der Frau mittleren Alters, die man im Türrahmen der Kaderschule stehen sah. Es war, als wäre sie mit dem Umblättern einer einzigen Seite um zwanzig Jahre gealtert.
Als Yu das Album zuklappte, war es Zeit für sein Treffen mit dem Nachbarschaftskomitee.
Das Komitee war ursprünglich der verlängerte Arm der lokalen Polizeidienststelle gewesen, zuständig für alles, was außerhalb der jeweiligen »Arbeitseinheiten« der Leute lag. Es organisierte wöchentliche politische Schulungen, überprüfte die Anzahl der in einem Gebäude wohnenden Mieter, bot Tagesbetreuung für Kinder an, teilte die Geburtenquoten zu, schlichtete Streitigkeiten unter Nachbarn und kontrollierte die Anwohner permanent. Das Komitee war berechtigt, über jeden Anwohner Bericht zu erstatten, und solche Berichte fanden Eingang in die vertrauliche Personalakte, die bei der Polizei über jeden einzelnen geführt wurde und dem Staat jederzeit eine effektive Kontrolle seiner Bürger erlaubte.
Doch wie bei so vielen anderen Institutionen hatte sich in den vergangenen Jahren auch die Rolle des Nachbarschaftskomitees gewandelt, obgleich die Sicherheit im Wohnviertel nach wie vor zu seinen Hauptaufgaben gehörte. Man hatte bestimmt ein scharfes Auge auf jemanden wie Yin gehabt. Außerdem könnte Yu vermutlich Informationen über etwaige verdächtige Anwohner bekommen.
Als Hauptwachtmeister Yu das Büro betrat, bemerkte er zu seinem Erstaunen, daß Alter Liang ein Arbeitsessen organisiert hatte. Sechs Essensbehälter aus Plastik waren in der Tischmitte aufgereiht; sie enthielten die Spezialität einer nahe gelegenen Hühnerbraterei. Außer Yu und dem Alten Liang waren vier Mitglieder des Nachbarschaftskomitees anwesend und saßen bereits mit gezückten Eßstäbchen da.
»Das Drei-Gelb-Huhn ist nicht schlecht – gelbe Federn, gelber Schnabel, gelbe Füße. Natürlich aus Pudong, garantierte Freilandhaltung, das ist ein himmelweiter Unterschied zu diesen Hühnchen aus Massenbetrieben«, erläuterte Alter Liang und nahm ebenfalls die Stäbchen zur Hand.
Genosse Zhong Hanmin, verantwortlich für die Sicherheit im Viertel, äußerte als erster eine Vermutung im Zusammenhang mit dem Mord. Seines Erachtens deuteten die herausgezogenen und durchwühlten Schubladen darauf hin, daß der Eindringling etwas stehlen wollte. »Als Yin dann zurückkam, verlor er den Kopf«, folgerte Zhong. »Ich bezweifle, daß es ein unmittelbarer Nachbar oder Bewohner der Gasse gewesen ist. Vermutlich war es ein Fremder, der das Zimmer auf gut Glück nach Wertsachen durchsucht hat. Wie das alte Sprichwort sagt: Ein Karnickel grast nicht vor dem eigenen Bau.«
Manches sprach für eine solche Vermutung. Schon seit Monaten streiften Wanderarbeiter durch das Viertel, aber das war nichts Ungewöhnliches in einer Stadt, die immer mehr Arbeitskräfte aus anderen Provinzen anzog.
Außerdem, dachte Hauptwachtmeister Yu, war es verständlich, daß Zhong ihn von der Gasse ablenken wollte. Falls sich einer der Anwohner als Krimineller entpuppen sollte, würde das Komitee zur Verantwortung gezogen werden.
Als zweiter äußerte sich Genosse Qiao Lianyun, der Generaldirektor des Nachbarschaftskomitees. Er gab einen Hinweis, der Zhongs Theorie zu widersprechen schien. Dieser beruhte auf Informationen von Peng Ping, die von allen »Krabbenfrau« genannt wurde, weil sie ihren Lebensunterhalt bestritt, indem sie vor ihrer Haustür Krabben pulte. Die Tür ging auf die Seitengasse hinaus und lag dem Hintereingang des shikumen-Hauses gegenüber. Die Krabbenfrau hatte ein Abkommen mit dem nahe gelegenen Markt. Sie mußte die gepulten Krabben vor acht Uhr liefern, da die Shanghaier Hausfrauen gewöhnlich in aller Frühe zum Einkaufen gingen. Daher begann sie ihre Arbeit in der Regel schon um Viertel nach sechs. Sie erinnerte sich nicht, Yin an diesem Morgen von ihren Tai-Chi-Übungen zurückkehren gesehen zu haben, doch hatte sie sich gegen halb sieben mit Lanlan unterhalten. Peng behauptete steif und fest, sie hätte sich an jenem Morgen nicht von der Stelle gerührt, bis sie den Aufruhr in Yins Haus gehört hatte und nachschauen gegangen war. Qiao hielt ihre Aussage für glaubhaft, denn die Krabbenfrau galt als verläßlich. Außerdem konnte sie mit ihren vom Krabbenschleim besudelten Fingern kaum irgendwo hingegangen sein. »Selbst wenn jemand versucht hätte, das Haus heimlich durch die Hintertür zu verlassen, wäre er von ihr gesehen worden«, schloß Qiao. »Vor allem, wenn es ein Fremder war, der sich in aller Frühe dort hinausschlich. Und was die Vordertür anbelangt, so hielten sich an jenem Morgen mehrere Anwohner im Hof auf, die jeden bemerkt hätten, der das Haus verlassen wollte.«
Qiaos Argument wurde vom Alten Liang bekräftigt, der daraufhin zu einer ausführlichen Analyse der Sicherheit in der Gasse und ihren Gebäuden ausholte. Da es in der letzten Zeit mehrfach Diebstähle im Viertel gegeben hatte, sah sich das Nachbarschaftskomitee zu Präventivmaßnahmen veranlaßt. Alle Eingänge zu den Gassen waren mit schmiedeeisernen Gittern gesichert worden, die abends um halb zwölf abgeschlossen und morgens um halb sechs wieder geöffnet wurden. Jeder Anwohner hatte seinen Schlüssel.
Abgesehen davon gab es eine feste Regelung für die Eingänge des Gebäudes. Sowohl Vorder-wie Hintertür blieben über Nacht verschlossen. Die von innen verriegelte Vordertür wurde nicht vor sieben Uhr geöffnet, und etwa gegen halb zehn abends wieder verschlossen. Die Hintertür wurde von jenen, die sie frühmorgens oder spätabends benutzten, abgeschlossen.
Yu hörte zu, machte Notizen, kommentierte das Gesagte aber nicht. Nach anderthalb Stunden ließen sich die Ereignisse des vorigen Morgens folgendermaßen rekonstruieren:
Yin gehörte zu den Frühaufstehern. Sie hatte das Gebäude am 7. Februar etwa um Viertel nach fünf durch den Hintereingang verlassen, um im Volkspark Tai-Chi zu üben. Niemand sah sie an diesem Morgen weggehen, aber es gab keinen Grund zu der Vermutung, daß sie von ihrer Gewohnheit abgewichen wäre. Seit ihrem Einzug hatte sie jeden Morgen Tai-Chi geübt, und sie galt als pünktlich.
Lanlan war am fraglichen Morgen um halb sechs hinuntergegangen und hatte die Hintertür verschlossen gefunden. Sie schloß auf und hinter sich wieder zu. Sie ging an jenem Tag früher als gewöhnlich auf den Lebensmittelmarkt, um frische Meeresfrüchte zu kaufen, denn sie erwartete für den Nachmittag einen Gast aus Suzhou.
Kurz darauf verließen zwei weitere Hausbewohner das Gebäude durch die Hintertür. Der eine war Herr Ren, der für sein zeitiges Frühstück ein Restaurant aufsuchte, der andere Wan, der am Bund Tai-Chi übte. Beide waren sich sicher, daß sie zwischen drei Viertel sechs und sechs das Haus verlassen hatten.
Um Viertel nach sechs sah Xiong, eine Milchverkäuferin, die ihre Flaschen in Sichtweite des Vordereingangs verkaufte, Yin zurückkommen. Die Milchfrau hatte extra noch auf ihre Armbanduhr geschaut, weil Yin für gewöhnlich erst später zurückkehrte.
Lanlan kam mit ihren Einkäufen gegen halb sieben zurück. Diesmal ließ sie die Hintertür unverschlossen und plauderte noch ein paar Minuten mit der Krabbenfrau an der Ecke.
Dann überquerte sie den Hof und entriegelte den Vordereingang, wie es ihre Gewohnheit war. Um diese Zeit standen auch die anderen Bewohner des shikumen-Hauses auf. Einige von ihnen wuschen sich am Gemeinschaftswaschbecken im Hof. Lanlan erinnerte sich, an jenem Morgen drei oder vier ihrer Nachbarn gesehen zu haben.
Die Zeiten paßten. Laut Doktor Xia war Yin zwischen Viertel nach sechs und halb sieben mit einem weichen Gegenstand erstickt worden. Sie war also noch nicht lange tot gewesen, als Lanlan die Leiche entdeckt hatte.
Yu versuchte, seine Gedanken mit Hilfe seines Notizbuchs zu ordnen. Scheinbar gab es zwei Möglichkeiten. Im ersten Szenario, das auf Zhongs Außenseitertheorie fußte, war der Verbrecher Yin in ihr Zimmer gefolgt und hatte dort den Mord begangen. Dies ließ jedoch mehrere Punkte unberücksichtigt: Die Milchfrau hatte Yin allein ins Gebäude zurückkehren sehen. Natürlich konnte der Verbrecher sich ihr im Schatten der Gasse unbemerkt genähert haben. Doch anschließend hätte er das Haus ja auch wieder verlassen müssen. Ein Fremder, der durch die Vordertür hinausging, wäre den Anwohnern im Hof aufgefallen. Auch wenn er durch die Hintertür verschwunden wäre, hätten die Leute im Hof ihn bemerkt, oder die Krabbenfrau, die unmittelbar davor in der Gasse saß, hätte ihn sehen müssen. Doch niemand hatte zu Protokoll gegeben, daß er während der fraglichen Zeit einen Fremden gesehen hatte.
Eine andere Möglichkeit war, daß Yin von einem Bewohner des shikumen ermordet worden war. In diesem Fall stellten die Gassentore und Hauseingänge kein Problem dar. Nach der Tat mußte der Täter lediglich in sein eigenes Zimmer zurückschleichen. Solange ihn keiner in Yins Zimmer gehen oder dort herauskommen sah, würde niemand ihn verdächtigen. Und natürlich schränkte das die Gruppe potentieller Täter deutlich ein. Yu meinte daher, sich vor allem auf die Bewohner des Gebäudes konzentrieren zu müssen.
»Ich habe Ihnen eine Liste verdächtiger Hausbewohner zusammengestellt«, flüsterte Alter Liang ihm ins Ohr. »Und ich habe bereits begonnen, ihre Fingerabdrücke zu nehmen.«
»Ich werde mir die Liste ansehen«, sagte Yu und warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Damit schien die Sitzung beendet. »Vielen Dank, Alter Liang. Morgen werden wir mit den Vernehmungen beginnen.«
Wenn der Übeltäter im shikumen wohnte, mußte Yu dessen Tatmotiv herausfinden. Alter Liang hatte ihn auf das schlechte Verhältnis hingewiesen, das Yin zu ihren Nachbarn gehabt hatte, doch das rechtfertigte noch lange keinen Mord. Aus welchem Grund ermordete jemand seine unmittelbare Nachbarin?
Nachdem das Nachbarschaftskomitee sich verabschiedet hatte, beschloß Hauptwachtmeister Yu, zu Fuß ins Präsidium zurückzukehren. Es war ein langer Weg, der ihn leicht eine dreiviertel Stunde kosten würde, doch er mußte in Ruhe nachdenken. Er wollte sich zu diesem Zeitpunkt noch nicht auf eine Vorgehensweise festlegen, sondern zunächst alle anderen Möglichkeiten ausschließen, bevor er sich auf die Bewohner des Gebäudes konzentrierte.
Als er in der Nähe der Fremdsprachenbuchhandlung eine Telefonzelle entdeckte, ging er hinein und rief den Shanghaier Literaturverlag an. Er wollte herausfinden, wieviel Yin mit der Veröffentlichung ihres Romans verdient hatte. Es brauchte zehn Minuten und eine Menge Kleingeld, bis er Wei, den verantwortlichen Lektor von Tod eines chinesischen Professors, am Apparat hatte.
»Ich bin ein großes Risiko eingegangen, als ich das Manuskript angenommen habe«, sagte Wei. »Es hätte ein Verlustgeschäft werden können. Damals hat niemand vermutet, daß das Buch ins Kreuzfeuer geraten würde. Yin hat etwa dreitausend Yuan damit verdient.«
Das war, selbst für damalige Verhältnisse, eine eher bescheidene Summe. Heutzutage konnte das ein Händler mit seinem Imbißstand leicht in ein paar Monaten verdienen.
Wei erinnerte sich nicht mehr genau, was ihr die englische Übersetzung eingebracht hatte, aber nach allem, was er wußte, war auch das kein großes Geschäft gewesen. Der Roman hatte zwar einige Sinologen interessiert, aber nicht das breite Lesepublikum angesprochen.
»Außerdem«, so fügte Wei hinzu, »hatte China Anfang der achtziger Jahre noch nicht das Internationale Copyright-Abkommen unterschrieben. Der amerikanische Verlag hat ihr also bloß ein kleines, einmaliges Honorar bezahlt.«
Doch Yu erinnerte sich an die Umschläge mit den englischen Absendern, deren Poststempel aus jüngster Zeit stammten.
Anschließend wählte er die Nummer von Oberinspektor Chen.