20

Hauptwachtmeister Yu konnte nicht viel tun. Parteisekretär Li hatte zwar einer Verlängerung der Ermittlungen zugestimmt, jedoch zugleich betont, der Fall müsse unbedingt bald abgeschlossen werden.

Wie fragwürdig sein Geständnis auch immer sein mochte, Wan war aus freien Stücken an die Behörde herangetreten. Man konnte nicht ausschließen, daß Wan den Mord aus einem spontanen Impuls heraus tatsächlich begangen hatte. Verlängerung hin oder her, Yu blieben nur einige wenige Tage und er bezweifelte, ob diese zusätzliche Frist ihn weiterbringen würde. Wenn nicht bald etwas geschah, würde der Fall abgeschlossen, und Wan als Mörder angeklagt werden.

Yu wußte nicht, was er als nächstes tun sollte.

Mit Peiqin diskutierte er die neueste Entwicklung beim Frühstück, das diesmal wesentlich schlichter ausfiel: in Wasser aufgewärmte Reisreste dazu fermentierter Tofu und ein Tausendjähriges Ei. Peiqin teilte seine Enttäuschung; nach so vielen Stunden des Lesens und Forschens schienen nun all ihre Bemühungen umsonst gewesen zu sein.

»Glaubt man dem Sprichwort, dann werden bahnbrechende Entdeckungen oft ohne Vorsatz gemacht«, sagte sie und zerteilte das zarte Ei, das in Sojasoße eingelegt war. »Aber man braucht dazu auch Zeit und eine glückliche Hand.«

»Wie bei der Polizeiarbeit«, sagte er. »Ein Fall kann sich über Wochen oder Monate hinziehen, aber er ist nicht dann abgeschlossen, wenn ein Parteibonze es so will.«

»Gibt es denn irgend etwas Neues?«

»Na ja, Lei hat mich zu einem Gratis-Mittagessen eingeladen. Er bestand darauf. Im Gegensatz zu Oberinspektor Chen ist es für mich etwas Neues, zur Abwechslung auch mal von einem Geschäftsmann eingeladen zu werden.« Dann fügte er hinzu: »Yin hat sich mit den meisten Nachbarn nicht vertragen, aber einigen von ihnen hat sie geholfen.«

»Menschen zu beurteilen ist immer schwierig. Vielleicht hat sie so sehr in der Vergangenheit gelebt – zusammen mit Yang –, daß sie auf ihre Umgebung nicht eingehen konnte«, sinnierte Peiqin. »Oder sie konnte sich nicht aus dem Schatten der Kulturrevolution lösen.«

»Was für ein Schicksal! Ich habe ja auch ein paar Seiten von ihrem Roman gelesen. Sie schreibt, ihr Leben begann erst, als sie Yang in der Kaderschule traf. Aber wie lange waren sie wirklich zusammen, als Liebespaar, meine ich? Das kann nicht länger als ein Jahr gewesen sein. Und jetzt ist sie womöglich wegen ihm gestorben.«

»Immerhin ist sie durch ihn zu Ruhm und Geld gekommen«, sagte Peiqin. »Und natürlich zu dem Buch.«

Vielleicht sollte diese Bemerkung ihn trösten, aber er sah nicht, wie. »Du solltest nicht so hart mit ihr sein«, erwiderte er. »Schließlich war es ihr Buch, der Erlös daraus stand ihr zu.«

»Ich habe ja gar nichts gegen sie. Aber Tatsache ist doch, daß sich der Roman nur wegen ihm so gut verkauft hat«, hielt sie ihm entgegen. »Und was ist mit der Gedichtsammlung, die sie herausgegeben hat?«

»Mit Lyrik ist kein Geld zu verdienen, sagt Oberinspektor Chen immer.«

»Aber Yangs Anthologie ist vergriffen, und die Auflage war bestimmt nicht klein; viele Leute lesen Gedichte. Auch ich habe ein Exemplar gekauft.«

Später, im Büro des Nachbarschaftskomitees, erwähnte Yu Peiqins Bemerkung bei einem Telefongespräch mit Oberinspektor Chen.

»Die Situation hat sich grundlegend geändert«, erklärte Chen. »Vor einigen Jahren noch hätte ein Verleger lediglich eine einmalige Summe von etwa fünfzehn Yuan für tausend Schriftzeichen oder zehn Gedichtzeilen bezahlt. Sie hätte also nicht viel dabei verdient.«

»So in etwa habe ich mir das vorgestellt.«

»Wenn sie aber einen Vertrag mit verkaufsabhängigem Honorar abgeschlossen hat, dann könnte es anders für sie aussehen. Haben Sie mit dem Verleger darüber gesprochen?«

»Nein, warum?«

»Na ja, der müßte Ihnen sagen können, wieviel genau sie bekommen hat«, sagte Chen nachdenklich. »Ich weiß nicht. Vielleicht sollten Sie noch einmal dort anrufen.«

Eine größere Geldsumme konnte immer ein Mordmotiv sein, aber Yu hatte den Eindruck, daß Chen als passionierter Autor und Peiqin als passionierte Leserin die literarischen Aspekte des Falls übertrieben wichtig nahmen. Dennoch wählte er die Nummer von Wei, dem Lektor, der Tod eines chinesischen Professors beim Shanghaier Literaturverlag betreut hatte.

»Schon wieder wegen Yin?« Wei schien nicht gerade erfreut.

»Tut mir leid, daß wir Ihnen noch ein paar weitere Fragen stellen müssen«, sagte Yu.

Er konnte Weis Unmut ja verstehen. Durch Tod eines chinesischen Professors hatte er sich in Schwierigkeiten gebracht. Wenn etwas politisch Unkorrektes veröffentlicht wurde, wurde dafür nicht nur der Autor zur Rechenschaft gezogen, sondern auch der Lektor. War ein Autor sehr bekannt, so kam dieser manchmal mit einer Verwarnung davon, und es war der Lektor, der statt dessen den »schwarzen Kessel« schultern mußte. Wei war dafür kritisiert worden, daß er die politischen Folgen einer Publikation von Tod eines chinesischen Professors nicht vorausgesehen hatte.

»Ich habe Ihnen bereits alles erzählt, was ich über Yin weiß, Genosse Hauptwachtmeister Yu. Eine Unruhestifterin, selbst noch nach ihrem Tod.«

»Das letzte Mal haben wir uns über Yins Roman Tod eines chinesischen Professors unterhalten. Aber auch Yang hat in ihrem Haus ein Buch veröffentlicht, eine Gedichtsammlung.«

»Stimmt, aber für Lyrik bin ich nicht zuständig. Da müssen Sie sich an meinen Kollegen Jia Zijian wenden. Die Anthologie ist einige Zeit vor dem Roman erschienen.«

»Hat Jia mit Ihnen über dieses Buch gesprochen?«

»Wir haben es nicht weiter diskutiert. Ein Gedichtband erreicht nicht allzu viele Leser und bringt entsprechend wenig Geld. Yin war an diesem Buch natürlich auch beteiligt. Sie war wirklich eine harte Nuß, wollte keinen Tropfen Dünger ins Beet eines anderen fallen lassen.«

»Kann ich mit Jia sprechen?«

»Er ist heute morgen nicht im Verlag. Am besten Sie rufen am Nachmittag noch einmal an.«

Hier kam er nicht weiter. Auch Wei war überzeugt, daß man mit einer Gedichtsammlung nicht viel verdienen konnte. Doch nach Beendigung des Gesprächs mit Wei verfolgte ihn das Gefühl, irgend etwas übersehen zu haben.

Alter Liang war an diesem Vormittag nicht im Büro erschienen. Vielleicht drückte er damit seinen stillschweigenden Protest aus. Für ihn war der Fall mit Wans Geständnis gelöst, und weitere Ermittlungen empfand er als Kritik an seinem Urteilsvermögen.

Weil ihn das Gespräch mit Wei noch immer beschäftigte, rief Yu Peiqin an.

»Das war nur eine Vermutung von Wei«, sagte Peiqin, die nicht zugestehen wollte, daß das Honorar minimal war. »Du mußt auf jeden Fall mit dem Lyrik-Lektor sprechen.«

»Ich verstehe nicht, warum Wei einer Toten gegenüber so unwirsch reagiert«, sagte er.

»Ich auch nicht. Wieso sollte er ihr böse sein?« Dann fügte sie noch hinzu: »Das Sprichwort mit dem Dünger, wen kann er da gemeint haben?«

»Jemanden, der selbst die Gedichte herausgeben wollte?«

»Aber da konnte ihr niemand Konkurrenz machen, schließlich war sie im Besitz der meisten Originalmanuskripte.«

Das Sprichwort, das Wei zitiert hatte, bezeichnete in der Regel eine gierige Person oder jemanden, der bei Geschäftsverhandlungen besonders fordernd auftrat. »Ich ruf dich später wieder an.« Diesmal beendete Yu das Gespräch ziemlich abrupt. Er legte den Hörer nur kurz auf die Gabel und wählte dann sofort die Nummer des Lektors.

»Genosse Wei, entschuldigen Sie, daß ich noch einmal störe«, begann er. »Bei unserem vorigen Gespräch haben Sie ein Sprichwort erwähnt. Sie sprachen davon, daß Yin keinen Tropfen Dünger ins Beet eines anderen fallen lassen wollte. Was genau meinten Sie damit?«

»Das war der Ausdruck, den Jia benutzte, in Zusammenhang mit einem Verwandten Yangs, soweit ich mich erinnere.« Wei machte sich keine Mühe, die Ungeduld in seiner Stimme zu verbergen. »Was ist damit?«

»Haben Sie vielen Dank, Genosse Wei. Das könnte sehr wichtig für die Ermittlungen sein. Ich weiß Ihre Kooperation zu schätzen.«

»Ich kann Ihnen dazu nichts weiter sagen. Am besten sie reden mit Jia. Er wird bald wieder im Haus sein.« Und dann sagte Wei: »Ach, da ist noch etwas. Vor etwa einem Jahr rief jemand an und erkundigte sich nach dem Erscheinungstermin der zweiten Auflage der Gedichtanthologie. Der Anruf wurde zu mir durchgestellt, aber ich konnte keine Auskunft geben. Vielleicht war es ein interessierter Lyrikleser, aber irgendwie hatte ich das Gefühl, daß etwas anderes dahintersteckte.«

Yu beschloß, persönlich im Verlag vorbeizuschauen.

Der Shanghaier Literaturverlag lag in der Shaoxing Lu. In den dreißiger Jahren war das Gebäude eine große Privatresidenz gewesen. Jetzt gab es im Parterre ein modernes Literaturcafe. Hauptwachtmeister Yu ließ Jia anrufen und wartete dort auf ihn.

Jia war ein Mann in den Vierzigern, der mit ausgreifenden Schritten das Cafe betrat. Als Yu ihm sagte, worum es sich handelte, sah Jia ihn überrascht an.

»Von einer zweite Auflage weiß ich nichts.«

»Wie meinen Sie das?« fragte Yu im Hinblick auf das Gespräch mit Wei.

»Warum fragen Sie danach, Genosse Hauptwachtmeister Yu?«

Yus Verwunderung spiegelte sich im Gesicht seines Gegenübers. Offenbar hatte Jia noch nicht von den Ermittlungen erfahren.

»Egal ob erste oder zweite Auflage. Am besten Sie erzählen mir alles, was Sie darüber wissen, Genosse Jia.«

»Da müssen wir einige Jahre zurückgehen«, begann Jia zögerlich. »Yin bat mich um eine Besprechung hier im Verlag. Ich sollte Yangs Großneffen die Bedingungen ihres Vertrags bezüglich der Gedichtsammlung erläutern.«

»Yangs Großneffe?«

»Ja, ein Junge namens Bao, aus der Provinz Jiangxi.«

»Moment mal, ein Junge aus Jiangxi?« unterbrach ihn Yu. Das paßte zu der Beschreibung, die er von der Krabbenfrau erhalten hatte. Auch die Zeit stimmte. In Anbetracht des Altersunterschieds schien es nur logisch, daß Yin ihn als ihren Neffen und nicht als Großneffen vorgestellt hatte. »Bitte fahren Sie fort, Genosse Jia.«

»Seine Mutter ist eine ehemalige gebildete Jugendliche, die einen ansässigen Bauern heiratete und sich in Jiangxi niederließ. Bao war offenbar hergekommen, um seine Ansprüche als legitimer Erbe Yangs geltend zu machen. Schließlich war Yin nicht mit Yang verheiratet gewesen.«

»Das ist wahr. Und wie verlief das Gespräch?«

»Nicht sehr erfreulich. Er wollte nicht einsehen, warum sie einen so großen Anteil der Einkünfte bekam – in seinen Augen einen viel zu großen Anteil.«

»Ich verstehe nicht ganz. Können Sie mir das genauer erklären?«

»Wenn wir das Werk eines verstorbenen Autors herausbringen, dann engagieren wir gelegentlich einen externen Herausgeber. Ein solcher Herausgeber sammelt die Publikationen des Autors, gleicht Textvarianten ab, macht gegebenenfalls Anmerkungen zum Text und schreibt ein Vor-oder Nachwort. Als Herausgeberin von Yangs Gedichten hat sich Yin eine Menge Arbeit gemacht. Sie hat seine Gedichte in alten Zeitschriften ausgegraben und hat zusätzlich noch Texte in seinen Notizbüchern oder auf Zetteln entdeckt. Es ist keine Übertreibung, wenn man sagt, daß die Publikation ohne ihren unermüdlichen Einsatz nicht zustande gekommen wäre. Für eine solche Arbeit bezahlen wir in der Regel die Hälfte des gängigen Honorars.«

»Also die Hälfte dessen, was sie dem Autor bezahlen würden?«

»Ja. Natürlich nur, wenn der Autor nicht mehr lebt und kein anderer Anspruch auf seine Honorare hat. Zur damaligen Zeit zahlten wir, wenn ich mich recht erinnere, fünfzehn Yuan pro zehn Zeilen, unabhängig von der Auflage. Das einzig Ungewöhnliche an dem Vertrag mit Yin waren die zwanzig Prozent, die sie zusätzlich für die Redaktion verlangte. Wir haben dem zugestimmt, weil es immer noch weniger war, als wir Yang hätten bezahlen müssen. Allerdings hat uns das plötzliche Auftauchen dieses Großneffen etwas ratlos gemacht. Es gibt bei uns keinen Präzedenzfall für derartige Forderungen eines Angehörigen, noch dazu so lange nach der Erstpublikation. Yin verteidigte ihren Anspruch als legitim, und in gewisser Weise hatte sie recht. Sie wies die Forderungen dieses Bao zurück.

Ich habe mich damals mit meinem Chef abgesprochen«, fuhr Jia fort. »Nicht daß es dabei um große Summen gegangen wäre, aber wir wollten einen Skandal vermeiden. Deshalb haben wir Bao eine Summe bezahlt, die den restlichen dreißig Prozent entsprach.«

»Sie waren also am Ende bei hundert Prozent, beim normalen Autorenhonorar?«

»So ist es.«

»Hat Bao das Angebot angenommen?«

»Ja, aber widerwillig.«

»Hat er protestiert?«

»Er hatte keine Ahnung vom Verlagsgeschäft, aber er mißtraute ihr. Er war nach wie vor überzeugt, daß es unfair war. Deshalb wollte er ja auch alles noch einmal von uns erklärt haben. Yin war tatsächlich mit allen Wassern gewaschen. Er hatte keine Chance gegen sie. Damals war es noch nicht üblich, daß die Leute wegen solcher Dinge vor Gericht gingen.«

»Hatten Sie den Eindruck, daß er sie haßte?«

»Dazu kann ich wenig sagen. Keiner der Beteiligten war besonders glücklich. Sie bat uns sogar, die Vereinbarung schriftlich zu machen und ihn unterschreiben zu lassen. Bevor er das Geld erhielt, mußte er versichern, von weiteren Forderungen an sie abzusehen.«

»Dann hat sie also keinen Yuan an ihn abgegeben?«

»Nicht einen.«

»Ist er jemals wieder an Sie herangetreten?«

»Nein. Er lebte auch gar nicht in Shanghai. Außerdem hatte er begriffen, daß erst wieder Geld zu holen ist, wenn die zweite Auflage erscheint. Falls das jemals der Fall sein wird.«

»Wird es denn der Fall sein?«

»Nun ja, die erste Auflage war ziemlich hoch, und sie ist ausverkauft. Wir dachten über eine zweite nach, doch dann erschien ihr Roman, und die Regierung hat ihren Namen auf die Liste für interne Kontrolle gesetzt. Das hat uns bewogen, erst einmal von einer zweiten Auflage abzusehen.«

»Jetzt bin ich ganz verwirrt, Genosse Jia. Der Lyrikband ist doch nicht ihr Buch.«

»Aber sie steht auf dem Umschlag, als Herausgeberin. Und selbst wenn wir ihren Namen nicht nennen, werden die Leute bei der Lektüre der Gedichte an den Roman denken. Mein Chef meint, das sei den Ärger nicht wert.«

»Wissen Sie noch mehr über ihn ich meine den jungen Bao?«

»Nein, überhaupt nichts«, sagte Jia und erhob sich. »Ich erinnere mich, daß er ein paar Tage bei ihr wohnte. Er hat keine Verwandten in der Stadt. Das hat sie mir erzählt. Doch nach unserer Unterredung ist er wohl unverzüglich nach Jiangxi zurückgefahren.«

»Aha. Haben Sie herzlichen Dank, Genosse Jia. Ihre Informationen sind sehr hilfreich für unsere Ermittlungen.«

Es war, als wäre das fehlende Teil eines Puzzles im letzten Moment doch noch aufgetaucht, dachte Hauptwachtmeister Yu, als er das Verlagshaus verließ.

Draußen war es sonnig und kalt. Ein spärlich bekleideter Schwachsinniger durchwühlte nicht weit von ihm eine Mülltonne und sang dabei einen Nonsens-Vers:

Wenn Schwarz auf Rot folgt und Vergangenheit kehrt wieder ein,

Oh, Oh, Oh, dann ziehst du dir am besten einen Big Mac rein.

Aus dem Cafe hinter ihm schallte eine Zeile aus einer Revolutionsoper: »Steuermann Maos Lehren schmelzen das Eis inmitten des Winters.« Eine Kakophonie der Gegensätze.

Jetzt mußte Yu diesen Bao finden, der inzwischen ein junger Mann sein mußte. Von einem öffentlichen Fernsprecher in der Shaoxing Lu aus berichtete er Oberinspektor Chen von seinen neuen Erkenntnissen.

»Ich habe mich noch einmal mit dem zentralen Informationsbüro in Verbindung gesetzt«, sagte Chen. »Sie haben mir soeben ein paar Daten über Hong und ihren Sohn Bao gefaxt, dazu einige Photos. Ich faxe das an Sie durch; es könnte Ihnen weiterhelfen.«

Es würde nicht einfach werden, diese Personen in so kurzer Zeit ausfindig zu machen. Er begann mit Hongs früherer Schule. Nach Aussagen des Rektors hatte es im vergangenen Jahr ein Klassentreffen gegeben. Hong hatte nicht teilgenommen, aber eine ihrer früheren Klassenkameradinnen hatte ihre Adresse. Nachdem er sie kontaktiert und Hongs Anschrift erfahren hatte, rief er bei der Polizei in Jiangxi an.

Deren Informationen erreichten ihn am späten Nachmittag. Hong lebte noch immer in dem Dorf, in dem sie die letzten zwanzig Jahre als Frau eines armen unteren Mittelbauern verbracht hatte. Sie war inzwischen selbst zu einer Bäuerin geworden. Maos Theorie von der Umerziehung gebildeter Jugendlicher hatte sich in diesem Fall als wirksam erwiesen. Hong wollte nicht mehr nach Shanghai zurück; nicht etwa wegen ihres eisernen Glaubens an Mao, sondern wegen ihrer erfolgreichen Umerziehung. Ein armer unterer Mittelbauer machte sich im heutigen Shanghai nur lächerlich.

Bao wohnte nicht mehr dort. Er hatte das Dorf vor einem Jahr verlassen, um nach Shanghai zu gehen. In den Neunzigern hatten Millionen von Bauern nicht länger in ihren rückständigen Heimatorten bleiben wollen, nachdem das Fernsehen ihnen gezeigt hatte, wie die modische, konsumfreudige Mittelschicht in den großen Küstenstädten lebte. Trotz der staatlichen Bemühungen, die Entwicklung auf dem Land und in den Städten auszugleichen, tat sich eine erschreckende Kluft zwischen Reich und Arm, Stadt und Land, der Küste und den übrigen Landesteilen auf. Diesen Gegensatz hatte die Wirtschaftsreform unter Deng vor einem Jahrzehnt festgeschrieben und mittlerweile auch umgesetzt.

Wie so viele andere hatte Bao seine Heimat verlassen, um sein Glück zu machen. In den ersten Monaten hatte er gelegentlich noch nach Hause geschrieben und einmal seiner Mutter sogar fünfzig Yuan geschickt, doch dann wurden seine Briefe seltener und blieben schließlich ganz aus. Andere aus seinem Dorf wollten erfahren haben, daß es ihm in der Stadt nicht allzugut ergangen sei. Seine Mutter hatte zuletzt vor sechs Monaten von ihm gehört; damals teilte er sich ein Zimmer mit anderen Landsleuten aus Jiangxi, zog dann aber aus, ohne eine Adresse zu hinterlassen.

Nun stand Yu vor dem Problem, jemanden in einer Stadt zu finden, in die Millionen Menschen aus allen Provinzen drängten. Sie stellten eine mobile Einsatztruppe für die immer zahlreicher werdenden Baustellen. Und natürlich machte sich keiner von ihnen die Mühe, sich anzumelden; sie waren froh, irgendwo unterzukommen.

Yu versuchte es bei der Adresse, wo Bao bis vor einem halben Jahr gewohnt hatte. Nur einer seiner früheren Zimmergenossen war noch da, doch er wußte auch nicht, wo Bao sich derzeit aufhielt. Sie hatten keinen Kontakt mehr.

Eine Suchmeldung an alle Nachbarschaftskomitees wurde ausgegeben, besonders an jene Wohnviertel, in denen sich Zuzügler aus der Provinz bevorzugt niederließen.

Unter normalen Umständen kamen bei einer solchen Aktion die Rückmeldungen innerhalb von drei bis fünf Tagen, aber so lange konnte Yu nicht warten.