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Die Ermittlungen im Fall Yin Lige waren erfolgreich abgeschlossen, davon hatte sich Chen persönlich überzeugt, und die Übersetzung der Projektentwurfs für die New World war abgegeben. Doch das Telefon in seinem Apartment begann abermals in aller Frühe zu klingeln wie ein falsch gestellter Wecker. Es war Gu.

Während Chen ihm lauschte, fiel ihm eine Gedichtzeile ein: Was kommen muß, wird kommen.

Diese Zeile stand auf einem traditionellen chinesischen Rollbild mit einer weißen Wildgans, die eine orangerote Sonne auf ihren Schwingen trug; eine hervorragende Tuschemalerei, die er vor Jahren zusammen mit einer Freundin in Peking betrachtet hatte. Sie hing in ihrem Zimmer in Muxudi.

Diese Zeile kam ihm oft in den Sinn. An diesem Morgen aufgrund der Anfrage wegen eines mehrstöckigen Parkhauses, genauer wegen eines entsprechenden Grundstücks, auf dem das Parkhaus in unmittelbarer Nähe der New World errichtet werden sollte. Gu hatte eine Reihe guter Gründe für den Antrag, den er an die Stadtregierung gerichtet hatte und von dem er Chen nun berichtete.

»Die New World wird viele Besucher haben, und sie kommen nicht nur in Taxis, sondern auch im eigenen Wagen. Für die meisten unserer Kunden wird das eigene Auto bald eine Selbstverständlichkeit sein. Die Mittelschicht ist nicht länger am Einkaufsbummel auf der Nanjing Lu interessiert. Und warum nicht? Weil es dort keine Stellplätze oder Parkhäuser gibt. Zumindest ist das einer der Hauptgründe. GM hat bereits einen mehrjährigen Vertrag mit der Shanghaier Stadtregierung über ein gigantisches Automobil-Joint-venture unterschrieben. Bald wird man in Shanghai nicht nur die Autos von Volkswagen antreffen, sondern genauso viele Buicks wie in New York. Die New World wird ein Meilenstein für dieses und das kommende Jahrhundert sein. Wir müssen das in unseren Planungen berücksichtigen, andernfalls wird das ganze Viertel im Verkehr ersticken.«

»Das mag wohl sein«, erwiderte Chen.

»Dieses Anliegen betrifft das gesamte Stadtbild, vor allem aus Sicht der Verkehrsbehörde. Ich halte es für unabdingbar, daß hier präventive Maßnahmen ergriffen werden.« Und dann fügte Gu noch hinzu: »Wenn ich mich recht entsinne, waren Sie einmal Direktor dieser Behörde.«

»Nur vorübergehend. Ich habe kurzzeitig den Direktor vertreten.«

»Ach, und wie hieß noch gleich Ihre Sekretärin? Meiling oder so ähnlich. Die ist ja ganz vernarrt in Sie. ›Dieser Tempel ist zu klein für einen Gott wie Oberinspektor Chen‹, hat sie zu mir gesagt, als Sie sie damals mit in den Dynasty Club brachten. In der Verkehrsbehörde hört man auf Ihr Wort.«

Gu wollte also, daß er sein Anliegen bei der Städtischen Verkehrsbehörde unterstützte, folgerte Chen.

»Auf Meiling dürfen Sie nicht hören, Herr Gu«, antwortete er. »Warum haben Sie denn die Parkplatzfrage nicht in Ihrer früheren Eingabe bei der Stadtregierung angesprochen?«

»Ach wissen Sie, bei einem so großen Projekt, kann man ein solches Detail leicht übersehen.«

Aber Gu hatte diese Notwendigkeit keineswegs übersehen, dessen war Chen sich sicher. Gu mußte seine frühere Beschäftigung bei der Verkehrsbehörde im Auge gehabt haben, als er ihm das hochdotierte Übersetzungsprojekt anbot und ihm Weiße Wolke als kleine Sekretärin schickte. Und dann waren da noch die Klimaanlage, die nun neben seinem Bücherregal hing, der Heißwasserboiler, die Geschenke auf dem Nachttisch seiner Mutter im Krankenhaus und natürlich Baos Adresse.

Man bekam eben nichts geschenkt. Er hätte es wissen müssen.

Nachdem er den Projektentwurf übersetzt hatte, hielt Chen diese Bitte in gewisser Weise für berechtigt. Die Visionen der New World hatten ihn nicht unbeeindruckt gelassen, und das nicht nur, weil er so großzügig für seine Übersetzungsarbeit bezahlt worden war. Er war wirklich überzeugt, daß das Projekt das kulturelle Leben der Stadt bereichern würde. Für eine sich rasch entwickelnde Stadt wie Shanghai war die Erhaltung des kulturellen Erbes von höchster Bedeutung, selbst wenn es bei der New World lediglich um vordergründigen Retro-look ging.

Für ein so groß angelegtes Projekt war ein mehrstöckiges Parkhaus zweifellos nötig. Es wäre fatal für die Huaihai Lu und die angrenzenden Wohngebiete, wenn die Autos der New-World-Kunden dort alles zuparkten. Die Verkehrsbehörde täte gut daran, der Stadtregierung entsprechende Vorschläge zu unterbreiten.

Falls man Gu dieses Grundstück im Herzen der Stadt zum Zweck kultureller Erhaltung überlassen würde, dann würde er eine Menge Geld sparen, womöglich sogar Subventionen erhalten. Geschäftsleute mußten ihre Pläne bei der Stadtregierung einreichen, und die Behörden veranschlagten den Grundstückspreis gemäß der ausgewiesenen Nutzung. Für ein hochkommerzielles Unternehmen wie die New World, würde Gu eine große Summe hinlegen müssen. Aber wie er Chen bereits anvertraut hatte, lautete seine Eingabe auf ein Projekt im Sinne kultureller Erhaltung. Hätte er in diesem Zusammenhang ein mehrstöckiges Parkhaus erwähnt, wäre das höchst suspekt gewesen. Aber als Nachtrag, versehen mit einer Empfehlung der Verkehrsbehörde, könnte es genehmigt werden. Was Gu für die Übersetzung ausgegeben hatte, war ein winziger Bruchteil dessen, was er einzusparen hoffte, eine Feder, die man von einer Pekingente rupft.

Aus Sicht der Verkehrsbehörde bedeutete Gus Anfrage allerdings einen Verlust an Einnahmen. Ein großes modernes Parkhaus ließ zwar viele Fahrzeuge von den Straßen verschwinden, würde aber gleichzeitig so manchen Streifenpolizisten arbeitslos machen und zu geringeren Bußgeldeinnahmen führen. Es war ihm klar, daß es nicht einfach werden würde, Gus Bitte zu erfüllen, und Gu wußte das ebenfalls.

»Vielleicht wäre es möglich, ein gutes Wort für die New World einzulegen«, sagte Gu geschmeidig.

Chen konnte sich immer darauf hinausreden, daß er einen geeigneten Augenblick abpassen mußte, aber er würde diese Ausrede vermutlich nicht einsetzen. Letzten Endes war er verpflichtet, Gu bei seinem Parkhausanliegen zu helfen. »Ich werde ein paar Anrufe machen«, erwiderte er unbestimmt und beendete das Gespräch. »Ich rufe Sie dann zurück.«

Chen beschloß, erst einmal ins Krankenhaus zu gehen und dort die Rechnung zu bezahlen. Seine Mutter würde am Abend entlassen werden. Sie hatte sich schon Sorgen wegen der Kosten gemacht. Natürlich hatte er ihr nicht gesagt, wie hoch die Summe war; sein Übersetzungshonorar würde dafür auf jeden Fall ausreichen. Auch das trug zu seiner Selbstrechtfertigung bei, sinnierte er, während er sich zur Zahlstelle des Hospitals aufmachte. In Zeiten der Marktwirtschaft machten auch Krankenhäuser keine Ausnahme, warum sollte er eine machen, wo er das Geld doch durch rechtschaffene Arbeit erworben hatte.

Zu seiner Überraschung erfuhr er, daß die Fabrik seiner Mutter die Krankenhausrechnung bereits beglichen hatte. »Ist bereits erledigt, Genosse Oberinspektor Chen«, sagte die Buchhalterin mit breitem Grinsen.

»Genosse Zhou Dexing, der Fabrikdirektor, möchte, daß Sie ihn unter dieser Nummer zurückrufen.«

Chen wählte die Nummer von einem öffentlichen Fernsprecher in der Lobby des Krankenhauses. Am anderen Ende ertönte die vertraute sonore Stimme des Genossen Zhou Dexing: »Unsere Fabrik steckt derzeit in einer Krise, Genosse Oberinspektor Chen. Unsere Volkswirtschaft ist im Übergang begriffen, und als Staatsbetrieb haben wir eine Schwierigkeit nach der anderen zu meistern. Aber für eine altgediente Arbeiterin wie Ihre Mutter übernehmen wir selbstverständlich die Behandlungskosten. Sie hat ihr ganzes Leben lang mit großem Einsatz für die Fabrik gearbeitet. Wir wissen, was für eine gute Genossin sie ist.«

»Haben Sie vielen Dank, Genosse Zhou.«

Was für ein guter Genosse ihr Sohn ist. Jemand muß ihm einen Hinweis gegeben haben, dachte Chen. Doch wo immer seine Motive lagen, was Genosse Zhou getan und gesagt hatte, war politisch korrekt und hätte einem Leitartikel in der Volkszeitung gut angestanden.

»Und was die Zukunft anbelangt, so hoffen wir auch weiterhin auf die Unterstützung ihrer Mutter und natürlich auf die Ihre, Oberinspektor Chen. Wir haben schon so viel von der bedeutsamen Arbeit gehört, die Sie für unsere Stadt leisten.«

Diese politischen Sonntagsreden waren natürlich nur Staffage. Aber Chen beunruhigten sie nicht. Es gibt Dinge, die ein Mann tun kann, und Dinge, die ein Mann nicht tun kann. Dieser konfuzianische Spruch konnte auch bedeuten, daß man seine Entscheidungen in Übereinstimmung mit den eigenen Prinzipien treffen mußte, ganz gleich, was von einem erwartet wurde.

Eine neue Art von sozialem Netz, Spinnweben gleich, schien sich entwickelt zu haben und die Menschen eng miteinander zu verknüpfen, je nachdem, welche Interessensfäden sie verfolgten. Ob es ihm nun gefiel oder nicht, auch Oberinspektor Chen war in ein solches Beziehungsnetz eingebunden.

»Sie schmeicheln mir, Genosse Zhou«, entgegnete Chen. »Wir alle arbeiten für ein sozialistisches China. Und natürlich hilft man einander.«

Das entsprach nicht dem konfuzianischen Gesellschaftsideal und nicht jenem, das sein Vater, ein Neokonfuzianer der vorigen Generation, sich erträumt hatte. Andererseits, so raisonnierte Chen, war es dem Konfuzianismus aber auch nicht gänzlich fremd. Yiqi, die persönliche Verpflichtung, die aus einer Situation erwuchs, war ein konfuzianisches Prinzip, das ebenfalls die moralische Bindung betonte. Allerdings schien eine solche Verpflichtung inzwischen vor allem hinsichtlich der eigenen Interessen jedes einzelnen zu bestehen.

Chen rief sich zur Ordnung, er hatte jetzt keine Zeit für solche philosophischen Betrachtungen.

Er betrat das Zimmer seiner Mutter. Sie schlief noch. Obwohl die Testergebnisse seine schlimmste Befürchtung nicht bestätigt hatten, war sie in den vergangenen Jahren sichtbar schwächer geworden. Er setzte sich an ihr Bett. Seit er die Übersetzung angenommen hatte und der Mord an Yin Lige parallel dazu seine Aufmerksamkeit beansprucht hatte, war dies der erste Tag, an dem er sich Zeit für sie nehmen konnte, ohne über den Fall oder eine passende Formulierung nachgrübeln zu müssen. Sie bewegte sich im Schlaf, wachte aber nicht auf. Ihm war das nur recht. War sie erst einmal wach, würde sie das Gespräch unweigerlich zu der einen Frage lenken: Willst du nicht jetzt, wo du es zu etwas gebracht hast im Leben, endlich auch mal eine Familie gründen?

In der traditionellen chinesischen Kultur standen sowohl gesellschaftliche Anerkennung als auch Familie ganz oben auf der Prioritätenliste eines Mannes, doch für seine Mutter war letzteres sehr viel dringlicher. Was immer er an Karriere und Parteistatus vorweisen konnte, hinsichtlich seines Privatlebens war er für sie ein unbeschriebenes Blatt.

Wieder dachte er an die Gedichtzeile auf dem Rollbild mit der Wildgans, nun allerdings in einem anderen Zusammenhang: Was kommen muß, wird kommen. Vielleicht war die Zeit einfach noch nicht reif dafür.

Er begann, für seine Mutter einen Apfel zu schälen, so wie es Weiße Wolke zu Hause für ihn getan hatte. Anschließend legte er die Apfelschnitze in einem Plastikbeutel auf den Nachttisch. Dann warf er einen Blick in die Schublade. Eigentlich konnte er ihre Sachen schon mal zusammenpacken. Womöglich würde er wegmüssen, bevor sie erwachte.

Zu seiner Überraschung fand er in einem Buch mit buddhistischen Schriften, das seine Mutter mit ins Krankenhaus gebracht hatte, ein Photo von Weißer Wolke. In ihrer Schuluniform unter dem eindrucksvollen Portal der Fudan-Universität stehend, wirkte sie jung und unternehmungslustig. Er konnte verstehen, warum seine Mutter das Bild aufbewahrte. Überseechinese Lu hatte es einmal treffend mit einer Redewendung formuliert: »Deine Mutter betrachtet alles, was in ihren Korb kommt, als Gemüse.«

Weiße Wolke war zweifellos ein nettes Mädchen. Und sie hatte ihm viel geholfen: bei der Übersetzung, mit dem Krankenhausaufenthalt seiner Mutter und bei den Ermittlungen. Für das alles konnte er ihr nicht dankbar genug sein. Und es sollte nicht gegen sie sprechen, daß er sie zunächst als K-Mädel kennengelernt, daß er, seine Hand auf ihrem nackten Rücken, mit ihr getanzt hatte und daß sie schließlich, mit allen möglichen Implikationen dieses Begriffs, seine kleine Sekretärin geworden war. Über diese Art von Snobismus glaubte Chen sich erhaben.

Das, was seine Mutter sich ganz offensichtlich über sie beide dachte, war ihm nie in den Sinn gekommen. Und das lag nicht nur am Altersunterschied, an ihrem unterschiedlichen Hintergrund und an der Tatsache, daß sie ganz offenkundig in unterschiedlichen Welten lebten. Hätte das New-World-Projekt sie nicht zusammengeführt, dann hätten ihre Wege sich nicht gekreuzt. Die Übersetzung war jetzt abgeschlossen, und er war froh, daß sie zu ihrem normalen Leben zurückkehren konnte, wie immer das aussah. Er hatte keinen Grund, sentimental zu werden. Sie war für ihre Arbeit als kleine Sekretärin bezahlt worden, und »nicht schlecht bezahlt«, wie sie selbst ihm versichert hatte; und dasselbe galt für ihn, wenn auch auf anderem Niveau und aus anderen Gründen.

Doch war er mit sich selbst wirklich im reinen?

War der ehrerbietige Sohn, der am Krankenbett seiner Mutter saß, derselbe wie dieser Herr Großkotz, der seine kleine Sekretärin ins Golden Times Rolling Backward ausführte?

»Sind Sie Oberinspektor Chen?« Eine junge Schwester streckte den Kopf zur Tür herein. »Unten wartet jemand auf Sie.«

Chen ging mit großen Schritten die Treppe hinunter. Zu seiner Überraschung fand er Parteisekretär Li in der Eingangshalle. Er hatte einen großen Blumenstrauß in der Hand, ein völlig ungewohnter Anblick bei dem sonst so steifen, hochrangigen Parteikader mit seiner bis obenhin zugeknöpften Mao-Jacke. In der Auffahrt parkte der Mercedes des Präsidiums.

»Man hat mir gesagt, daß Ihre Mutter noch schläft«, sagte Li, »deshalb dachte ich, wir unterhalten uns besser hier unten. Ich habe heute vormittag einen Termin bei der Stadtregierung.«

»Vielen Dank fürs Kommen, Parteisekretär Li. Sie hätten sich wirklich nicht bemühen müssen, wo Sie doch so beschäftigt sind.«

»Ganz im Gegenteil, ich hätte schon viel früher kommen sollen. Sie ist eine so reizende alte Dame. Ich hatte ja schon ein paarmal das Vergnügen, mich mit ihr zu unterhalten«, sagte Li. »Und Ihnen wollte ich im Namen des Shanghaier Polizeipräsidiums meinen Dank für Ihre hervorragende Arbeit aussprechen.«

»Es war Hauptwachtmeister Yus Arbeit. Ich habe nur ein wenig mitgeholfen.«

»Keine falsche Bescheidenheit, Oberinspektor Chen. Sie haben diesen Fall bestens gelöst. Keinerlei politische Implikationen. Eine optimale Lösung. Und so werden wir es auch bei der Pressekonferenz darstellen. Das Motiv für den Mord waren Geldstreitigkeiten zwischen Yin und einem Verwandten. Das hatte nichts mit Politik zu tun.«

»Nein, es hatte nichts mit Politik zu tun«, wiederholte Chen mechanisch.

»Wir haben bereits positive Reaktionen auf den Ausgang des Falls. Ein Reporter von der Wenhui schrieb, Yin hätte Yangs Großneffen nicht so schlecht behandeln dürfen. Und ein Journalist von der Befreiung bezeichnete sie als gerissen und hinterhältig …«

»Aber Sie haben die Pressekonferenz doch noch gar nicht abgehalten, oder?«

»Nun ja, einige Reporter müssen irgendwie Wind von unseren Ergebnissen bekommen haben. Solche Artikel werden Yins posthumes Image zwar nicht gerade heben, aber das braucht uns ja nicht zu kümmern.«

»Wer kann Geschichten beeinflussen, Geschichten, die nach unserem Tod erzählt werden? / Das ganze Dorf stürzt sich auf die romantische Kunde von General Cai… nur mit dem Unterschied, daß diese Geschichte gar nicht romantisch ist.«

»Schon wieder Ihre poetische Ader, Oberinspektor Chen«, sagte Li. »Übrigens werden wir Yangs Romanmanuskript besser nicht erwähnen. Die Staatssicherheit besteht darauf. Es liegt im Interesse der Partei, das nicht publik zu machen.«

Das also war der wahre Grund für Parteisekretär Lis Besuch, dachte sich Chen. Li würde die Pressekonferenz leiten und mußte vorab klären, was die zuständigen Beamten sagen sollten, und vor allem, was sie nicht sagen sollten.

Nachdem Li gegangen war, bemerkte Chen vom Blumenstrauß abgefallene Blütenblätter am Boden. Wie über Weiße Wolke, so wollte er auch über Yin kein Urteil fällen. Entgegen Baos Aussage, die er zu seiner eigenen Rechtfertigung gemacht hatte, und entgegen den Pressekommentaren wollte er Yin als jemanden sehen, der viel hatte durchmachen müssen.

Zweifellos hatte Yin mit der Veröffentlichung von Yangs Gedichtsammlung finanzielle Interessen verfolgt. Doch fairerweise mußte man ihr zugestehen, daß sie sich als Herausgeberin viel Arbeit gemacht hatte; ein Liebesdienst, den sie im Gedenken an Yang übernommen hatte. Wie so viele Englischlehrer in den neunziger Jahren hätte sie durch Privatstunden wesentlich mehr verdienen können. Und schließlich mußte auch sie sehen, wie sie sich in einer zunehmend materialistischen Welt über Wasser hielt.

Andererseits hatte sie Bao, der eigentlich der rechtmäßige Erbe war, Yangs Romanmanuskript vorenthalten.

Aber was genau war in diesem Fall rechtmäßig?

Ein Papier mit der Bezeichnung Ehevertrag war den Liebenden in den Jahren der Kulturrevolution vorenthalten worden.

Was wäre aus dem Manuskript geworden, wenn sie es Bao überlassen hätte? Er hatte keinerlei Verständnis für dessen Inhalt oder literarischen Wert und hätte versucht, es zu Geld zu machen, indem er es irgendeinem interessierten Verleger anbot. Aber vermutlich wäre ihm das gar nicht gelungen, denn vorher hätte es die Staatssicherheit beschlagnahmt. Yin hatte also recht daran getan, die E-xistenz des Manuskripts vor Bao und jedem anderen geheimzuhalten. Sie hatte eine günstige Gelegenheit abwarten wollen, vermutete Chen. Bei ihrem Besuch in Hongkong hatte sie erste Kontakte mit einer Agentur aufgenommen, war handelseinig geworden und wollte das Manuskript mit in die Vereinigten Staaten nehmen, wenn sie dort ihr Semester als Gastdozentin antrat.

Das erklärte auch, warum sie gerade zu jener Zeit das Fach im Banksafe gemietet hatte. Sie hatte sich das wohl als eine Art Ablenkungsmanöver überlegt, denn sie mußte vorsichtig sein. Die Staatssicherheit konnte von ihren Verhandlungen in Hongkong erfahren haben.

Und auch daran, daß sie den Vorschuß des amerikanischen Verlags für Yangs Roman zur finanziellen Absicherung ihres Auslandsaufenthalts benutzte, konnte Chen nichts Unredliches finden. Falls der Roman in den Staaten herausgekommen wäre, hätte sie hier mit massiven politischen Schwierigkeiten rechnen müssen. Also blieb ihr gar nichts anderes übrig, als ihren verlängerten Aufenthalt in den Staaten zu planen.

Außerdem war Chen geneigt, über den Vorwurf des Plagiats hinwegzusehen. Wenn sie Yangs Buch ohnehin nicht hatte publizieren können, hatte sie auf diese Weise Yangs Texte dem Publikum immerhin teilweise zugänglich gemacht. Sie schien sich so weit mit ihm eins gefühlt zu haben, wie es in dem bekannten Gedicht »Du und ich« in Tod eines chinesischen Professors beschrieben wurde. Es schien sinnlos, zwischen den beiden unterscheiden zu wollen, wo sie bereits so eng miteinander verschmolzen waren.

Natürlich konnten noch viel mehr Faktoren eine Rolle gespielt haben, Faktoren, die Chen nie kennen würde und auch nicht kennen wollte. Die von ihm gewählte Sicht war nur eine Version der Geschichte, gesehen aus seiner Perspektive. Vermutlich traf auch hier das Sprichwort zu, daß in allzu klarem Wasser keine Fische leben. Solange die Fluten nicht zu schlammig waren, war es nicht seine Aufgabe, darin herumzustochern.

Er wollte lieber an eine tragische Liebesgeschichte glauben, die die dunkelsten Momente im Leben von Yin und Yang wenigstens ein bißchen aufgehellt hatte. Nach Yangs Tod hatte Yin krampfhaft versucht, im Schutz der Fiktion weiterzuleben, und ihr Schreiben sowie Yangs Texte hatten ihr dabei geholfen. Am Ende war ihr das allerdings nicht mehr geglückt.

Chen zog eine Photokopie aus der Tasche. Es war ein Gedicht, das, aus welchen Gründen auch immer, nicht in Yangs Anthologie aufgenommen worden war. Es trug den Titel »Hamlet in China«:

Das Rauschen der Synapsen treibt mich auf die Bühne, vor das Meer der Gesichter, die im Dunkel ertrinken, ich taste mich schrittweise ins Rampenlicht, taste nach Sinn wie nach einem Strohhalm. Eine Rolle wie alle anderen, die mit (Gleich)gültigkeit zu spielen ist, verrückt oder nicht verrückt. Ein Kamel, ein Wiesel und ein Wal, zu konstruieren und zu dekonstruieren, mit der Wirklichkeit als ständig sich wandelndem Bedeutungsgeber. Was ist Bedeutung?

Ein Lexikoneintrag, der mich durchs Schwert definiert und ein rattenhaftes Rascheln oder eine Ratte tötet.

Oh Vater, was immer es ist, sag es mir.

In seinem Roman hatte Yang versucht, gemäß Pasternaks Erzählstruktur zwölf Gedichte einzufügen, die er an den Schluß setzen wollte; eine Folge von Texten, die dem Protagonisten zugeschrieben wurden und in denen dieser über sein Leben in den Jahren der sozialistischen Revolution unter Mao reflektierte. Chen fragte sich, wann Yang »Hamlet in China« wohl geschrieben hatte. Die Stellung des Gedichts in der Sequenz ließ vermuten, daß es während der Kulturrevolution entstanden war. Wenn dem so war, konnte mit der dort erwähnten Bühne die »Bühne der sozialistischen Massenkritik« gemeint sein, auf die man Yang als Schwarzen gezerrt und ihm eine Tafel mit seinen »Verbrechen« um den Hals gehängt hatte. Yangs Darstellung war jedoch so allgemein gehalten, daß ein Leser, der mit dessen persönlichen Erfahrungen nicht vertraut war, zu einer völlig anderen Interpretation gelangen konnte. Es bedurfte einer so unpersönlichen Distanz, um Hamlet, in Anlehnung an einen anderen großen Dichter, im wüsten Land darzustellen.

Chen spürte eine starke Affinität zu diesem Gedicht. Schließlich mußte man seine Rolle spielen, egal welche Bedeutungen oder Interpretationen ihr zugeschrieben wurden; so auch die Rolle eines Oberinspektor Chen.

Erstaunlicherweise hatte das Romanmanuskript keinen Titel. Chen fand, es könnte »Doktor Schiwago in China« heißen. Er schwor sich, Wege zu finden, um dieses Manuskript irgendwann zu veröffentlichen. Er sah darin keinen Widerspruch zu seinen politischen Verpflichtungen als Parteikader. Wie Boris Pasternak hatte auch Yang sein Land leidenschaftlich geliebt. Der Roman war keine Kritik an China. Es war vielmehr der standhafte Versuch eines ehrlichen, patriotischen Intellektuellen, seine Ideale auch zu Zeiten aufrechtzuerhalten, in denen in seinem Land alles drunter und drüber ging. Es war ein mit großer Leidenschaft und in meisterhaftem Stil verfaßter Roman. China konnte stolz sein, daß ein solch exzellentes literarisches Werk in einem der düstersten Momente seiner Geschichte entstanden war. So zumindest sah es Chen.

Allerdings bestand kein Anlaß zu unüberlegter Hast oder unnötigen Risiken. Der Roman war vor Jahren abgeschlossen worden und hatte nichts an Überzeugungskraft eingebüßt. Erstklassige Literatur war keine verderbliche Ware; es wäre demnach kein Schaden, wenn das Manuskript noch einige Jahre unveröffentlicht bliebe.

Die Staatssicherheit war noch immer wachsam. Sie hatte sich eingehend erkundigt, wie der Oberinspektor und sein Partner das Manuskript aufgespürt hatten. Als Antwort hatte Chen schlicht auf Yus gründliche Arbeit bei der Suche nach Bao und bei dessen Vernehmung verwiesen. Er hatte betont, daß sie Bao und das Manuskript anschließend sofort dem Präsidium überstellt hätten. Da die Pressekonferenz für den nächsten Tag angesetzt war, konnten sie sich keine weiteren Verzögerungen mehr leisten.

Natürlich hatte er dabei nicht erwähnt, daß er das Manuskript für etwa zwei Stunden in Händen gehabt und diese genutzt hatte, um es Seite für Seite in einem nahe gelegenen Copy-Shop zu kopieren, bevor er es in Baos Zimmer zurückbrachte. Seine Geschichte klang plausibel, aber er war mit der Staatssicherheit nie auf gutem Fuß gestanden und mußte daher vorsichtig sein.

So wie China sich derzeit wandelte, war es durchaus denkbar, daß eine Publikation von Yangs Roman in fünf bis zehn Jahren nicht mehr unmöglich wäre …

»Oberinspektor Chen.« Wieder sprach ihn die junge Schwester an, diesmal unten in der Halle.

»Ach ja, wie geht es ihr?«

»Alles in Ordnung, sie schläft noch«, antwortete sie. »Aber wenn sie wieder zu Hause ist, müssen Sie mehr darauf achten, was sie ißt.«

»Das werde ich«, sagte er.

»Ihr Cholesterinspiegel ist nach wie vor zu hoch. Die teuren Delikatessen auf ihrem Nachttisch werden ihr nicht guttun.«

»Ich verstehe«, sagte er. »Einige meiner Freunde sind wirklich unverbesserlich.«

»Sie muß sehr stolz sein auf ihren erfolgreichen Sohn mit seinen vielen einflußreichen Freunden.«

»Nun, da fragen Sie sie am besten selbst.«

Auf dem Rückwegs ins Zimmer seiner Mutter sah er zu seiner Überraschung Weiße Wolke, die an einem der öffentlichen Fernsprecher telefonierte. Sie stand mit dem Rücken zu ihm und trug denselben weißen Wollpullover mit dem großen Kragen, den sie bei ihrem ersten Besuch in seiner Wohnung getragen hatte. Offenbar war sie gekommen, um seine Mutter noch einmal zu besuchen.

Er wußte, daß sie ein Mobiltelefon besaß, aber es war kaum verwunderlich, daß sie es wegen der zu Monatsende drohenden Telefonrechnung selten benutzte. Auch er hatte aus diesem Grund den öffentlichen Fernsprecher in der Halle gewählt.

Oder war es möglich, daß Gu ihr das Mobiltelefon nur während der Arbeit für ihn überlassen und nun wieder zurückverlangt hatte? Doch das ging ihn nichts an.

Sie schien in ein längeres Gespräch vertieft, und er wollte gerade weitergehen, als er sie seinen Titel erwähnen hörte. Sein Interesse war geweckt, und er trat ein paar Schritte beiseite, um sich hinter einer weißen Säule zu verbergen.

»Ach dieser Oberinspektor… so ein selbstgefälliger Typ … unmöglich … absolut von sich überzeugt.«

Für sein Lauschen gab es keine Rechtfertigung, und doch stand er wie angewurzelt hinter der Säule und versuchte sich selbst zu überzeugen, daß er auf diese Weise etwas über Gu herausfinden könne.

»Immerhin weiß so ein Großkotz, wie man mit einer Frau umgeht… kein so verdammter Bücherwurm … ständig darauf bedacht, daß sein Hals nicht in eine Schlinge gerät. Er würde nie ein Risiko eingehen für etwas, das ihm wirklich wichtig ist.«

Von seinem Standort aus konnte er nicht jedes ihrer Worte verstehen. Er konnte sich einreden, daß sie über jemand anderen redete, aber er wußte, daß dem nicht so war.

»Er liebt bloß sich selbst…«

Was hatte sie so erzürnt? War es seine »politische Korrektheit« oder seine »konfuzianische Moral«?

Vielleicht war er zu sehr Bücherwurm, um das herauszufinden. Vielleicht war sie so modern oder postmodern, daß er in ihrer Gegenwart einfach hoffnungslos altmodisch war. Daher auch der unvermeidliche Konflikt. Vielleicht verstand er sie schlichtweg nicht.

In einer Zen-Geschichte, die er vor langer Zeit gelesen hatte, kam eine Einsicht immer in Form eines harten Schlags. Nur wenn man aus seinem normalen Selbst gestoßen wird, kann man die Dinge aus völlig neuer Perspektive sehen.

Vielleicht war es nur ums Geschäft gegangen, und im Geschäftlichen war zur Erreichung eines bestimmten Ziels alles erlaubt. Ihr war es um seine Zustimmung zu tun gewesen und letztlich natürlich um die Zustimmung von Gu. Schließlich würde sie nicht jeden Tag einen solchen Auftrag an Land ziehen. Jetzt, wo die Arbeit beendet war, konnte sie objektiv ihre Meinung sagen.

Aber diese Meinung tat weh.

Ich bin eine Wolke am Firmament, beschatte jäh dein Wogenherz – sei nicht bestürzt erst recht nicht entzückt – im Augenblick wird meine Spur vergangen sein.

Diese Zeilen stammten aus einem anderen Gedicht Xu Zhimos, und auch sie handelten vom zentralen Bild der Wolke. Diese Wolke war einfach nicht für ihn bestimmt. Dennoch wollte er ihr dankbar sein, egal ob ihre Beziehung rein geschäftlich gewesen war oder nicht. In diesen hektischen Tagen war sie ihm eine große Hilfe gewesen. Und jetzt, wo alles vorüber war, wünschte er ihr nur das Beste.

Er beschloß, nicht in das Zimmer seiner Mutter zurückzukehren. Weiße Wolke würde vermutlich auch dort auftauchen. Für ihn wurde es Zeit, wieder in den Büroalltag zurückzukehren, in dem er sich inzwischen eingerichtet hatte wie eine Schlange in ihrer Haut.

Keine kleine Sekretärin mehr, gar nichts. Er war wahrhaftig dieses unbeschriebene Blatt, an das er beim Krankenbesuch seiner Mutter gedacht hatte.

Auf dem Rückweg ins Präsidium ging er in ein Reisebüro und buchte für seine Mutter eine Tour mit einer Reisegruppe nach Suzhou und Hangzhou. Sie hatte seit Jahren keinen Urlaub gehabt – eigentlich seit Anfang der sechziger Jahre nicht mehr, als sie ihn auf einen Tagesausflug nach Suzhou mitgenommen hatte. Damals war er ein Junger Pionier, noch nicht einmal schulpflichtig, und seine Mutter hatte jung gewirkt, wie sie in einem qipao aus roter Seide neben ihm im Xuanmiao-Tempel stand. Ein solcher Tapetenwechsel würde ihre Genesung befördern, dachte er. Nur schade, daß er sie nicht begleiten konnte. Er konnte nicht schon wieder Urlaub nehmen, nicht nachdem er einen Anruf von der Zentralen Disziplinarbehörde der Partei erhalten hatte, daß er sich für größere Aufgaben bereithalten solle. Aber davon wollte er seiner Mutter noch nichts erzählen.

»Was für ein aufmerksamer Sohn«, sagte der Verkäufer im Reisebüro zu ihm.

Vielleicht war es ja doch nicht so schlecht, Oberinspektor Chen zu sein.

Er beschloß, nicht auf zukünftige Möglichkeiten zu hoffen, sondern sofort etwas für die Publikation des von Yang hinterlassenen Manuskripts zu unternehmen. Oberinspektor Chen war bereit, ein Risiko einzugehen für etwas, das ihm wirklich wichtig war.