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Qinqin hatte zu Hause angerufen und gesagt, er werde bei einem Schulfreund übernachten. Es kam nicht oft vor, daß Yu und Peiqin eine Nacht für sich hatten. Trotz seiner Unzufriedenheit über den Fortgang der Ermittlungen war Yu entschlossen, früh mit Peiqin ins Bett zu gehen.

Die Nacht war kalt. Sie saßen unter der Steppdecke, die Rücken gegen das mit Kopfkissen gepolsterte harte Rückteil des Bettes gelehnt. Es dauerte eine Weile, bis sich ihre Körper unter den baumwollgefütterten Decken ausreichend angewärmt hatten, um die Kälte im Raum erträglich zu machen. Seine Füße berührten die ihren; ihre Zehen waren weich, aber noch immer kalt. Er legte ihr den Arm um die Schulter.

Im sanften Dämmer glich sie noch immer jenem Mädchen, das damals in Yunnan die erste Nacht mit ihm auf dem kühlen, knarrenden Bambusbett verbracht hatte, beleuchtet bloß vom flackernden Licht einer Kerze. Nur daß inzwischen ein Fischschwanz kleiner Fältchen an ihren Augenwinkeln hing.

Doch Peiqin hatte an diesem Abend anderes im Sinn. Sie wollte ihm von Tod eines chinesischen Professors erzählen. Sie legte den Roman, versehen mit einem aus Bambus geschnitzten Schmetterling als Lesezeichen, auf die Steppdecke.

Yu las wenig. Er hatte mehrere Anläufe mit dem Traum der Roten Kammer, Peiqins Lieblingslektüre, unternommen, aber jedesmal nach drei bis vier Seiten wieder aufgegeben. Er konnte keine Verbindung herstellen zu jenen Figuren, die vor Hunderten von Jahren zusammen in einem großen Anwesen gelebt hatten. Der einzige Grund, warum er es überhaupt versucht hatte, war Peiqins Leidenschaft für diesen Roman. Was die Aufarbeitung der Kulturrevolution betraf, so hatte er lediglich ein paar Kurzgeschichten gelesen, die ihm allesamt unglaubwürdig vorgekommen waren. Wenn es in den frühen sechziger Jahren tatsächlich solche weitsichtigen Helden gegeben hätte, die den Vorsitzenden Mao in Frage gestellt oder ihm entgegengewirkt hätten, dann wäre es gar nicht erst zu dieser nationalen Katastrophe gekommen.

Nachdem er nun im Fall Yin ermittelte, schien ihm nichts anderes übrigzubleiben, als Tod eines chinesischen Professors von Anfang bis Ende zu lesen. Doch zum Glück hatte Peiqin diese Aufgabe übernommen. Sie hatte bereits ein wenig darüber erzählt und wollte ihm nun heute abend einen ausführlichen Bericht geben.

»Was ich dir erzähle«, begann sie und zog die Beine dicht an den Körper, »mag von meiner eigenen Sichtweise gefärbt sein. Ich werde mich dabei auf Yang konzentrieren, da du Yins Geschichte ja bereits kennst, und natürlich auf die Liebesbeziehung zwischen den beiden.«

»Fang an, wo du willst«, sagte Yu und nahm ihre Hand.

»Yang wurde als Sohn einer reichen Shanghaier Familie geboren. In den vierziger Jahren ging er zum Studium in die Vereinigten Staaten, dort promovierte er in Literaturgeschichte und veröffentlichte erste Gedichte auf englisch. 1949 ging er voll leidenschaftlicher Träume für ein neues China in seine Heimat zurück. Er unterrichtete an der Ostchinesischen Universität, übersetzte englische Romane und schrieb chinesische Gedichte, bis die Anti-Rechts-Bewegung Mitte der Fünfziger dem ein Ende setzte. Plötzlich wurde er als reaktionärer Rechtsabweichler eingestuft, und seine Verwandten und Freunde mieden ihn. Er schrieb keine Gedichte mehr, übersetzte aber weiterhin Bücher, die von der Regierung gebilligt wurden, wie etwa die Werke von Charles Dickens und Thackeray, über die Karl Marx sich positiv geäußert hatte, oder Romane von Mark Twain und Jack London, die gewisse antikapitalistische Tendenzen aufwiesen. Schließlich wurde er an die Abteilung für chinesische Literatur versetzt, um ihn an der Verbreitung dekadenten westlichen Gedankenguts‹ auf englisch zu hindern, denn die meisten Parteifunktionäre waren dieser Fremdsprache nicht mächtig.

Bei Ausbruch der Kulturrevolution wurde Yang über Nacht zur Zielscheibe revolutionärer Massenkritik. Man zwang ihn zur Selbstdenunziation. Seine Studienjahre in den Staaten wurden als Spionagetraining hingestellt, und seine Übersetzungen englischer und amerikanischer Literatur galten als Angriff auf die proletarische Massenkultur des sozialistischen China. Anfang der siebziger Jahre, als im Zuge der permanenten Revolution immer und überall neue Klassenfeinde ausgemacht wurden, klassifizierte man ihn als ›toten Tiger‹; die revolutionären Massen hatten ihren Spaß daran verloren, ihn öffentlich zu demütigen und zu schlagen. Zusammen mit anderen sogenannten bürgerlichen Intellektuellen wurde er aufs Land in eine Kaderschule geschickt. Dort traf er Yin.

Beide waren sie Kaderstudenten, unterschieden sich jedoch in ihrem politischen Status. Yang, als Rechtsabweichler mit fragwürdiger Vergangenheit, stand ganz unten in der Hierarchie. Yin hatte sich als Rotgardistin während der Großen Revolution lediglich ›kleinere Vergehen‹ zuschulden kommen lassen und wurde zur Gruppenleiterin ernannt. Sie überwachte eine Gruppe von Mitstudenten, zu der auch Yang gehörte.

Zu jener Zeit glaubten selbst einige der Kaderstudenten noch immer alles, was der Große Vorsitzende sagte. Ein bekannter Dichter schrieb begeistert über die Heilung seiner chronischen Schlaflosigkeit durch körperliche Arbeit auf den Feldern, nachdem er Maos Aufruf zur Umerziehung gefolgt war. Andere jedoch machten sich keine Illusionen mehr über die jeweils ›neuesten und höchsten Direktiven‹, die in endlosen Parteidokumenten verbreitet wurden. Nach einem harten Arbeitstag konnten nur die wenigsten noch einen klaren Gedanken fassen. Theoretisch war es den Kaderstudenten nach erfolgreicher Umerziehung durch körperliche Arbeit und politisches Studium möglich, einen ›Abschluß‹ zu erwerben und eine neue Arbeit zugewiesen zu bekommen. Doch nach ein paar Jahren wurde ihnen klar, daß man sie vergessen hatte. Der Weg zurück in die Städte schien verwehrt, auch wenn sie nicht länger im Zentrum der Revolution standen.

Auch Yin machte sich ihre Gedanken. Sie war sich nicht mehr so sicher, ob sie während der Kulturrevolution richtig gehandelt hatte, und fühlte sich von Mao ausgenutzt. Sie mußte sich eingestehen, daß ihre Zukunftsaussichten als ehemalige Rotgardistin eher düster waren. Falls sie je an ihre Universität würde zurückkehren können, dann bestimmt nicht als politische Instrukteurin. Sie war nicht länger in der Position, anderen politische Lektionen erteilen zu können.

Dann fiel ihr Augenmerk auf Yang. Er arbeitete als Küchenhilfe, eine vergleichsweise leichte Arbeit; er sammelte Feuerholz, bereitete Reis und Gemüse zu und machte den Abwasch. Ein ansässiger Bauer war als Koch angestellt. Zwischen den Mahlzeiten blieb Yang Zeit, in der Küche englische Bücher zu lesen und sogar ein wenig zu schreiben.

Eigentlich wurde den Kaderstudenten keine andere Lektüre zugestanden als die Werke des Vorsitzenden Mao oder politische Verlautbarungen. Doch im Jahr zuvor war etwas Außergewöhnliches vorgefallen: Mao hatte zwei neue Gedichte in der Volkszeitung veröffentlicht, und diese mußten ins Englische übersetzt werden. Ein Mitarbeiter des offiziell dem Parteikomitee in Peking unterstehenden Übersetzungsbüros hatte sich an Yang erinnert und bei ihm wegen einiger Vokabeln nachgefragt. Es gab nämlich eine besonders heikle Stelle, die da lautete: ›Furzt nicht. Genau so hatte Mao es geschrieben, doch die offiziellen Übersetzer irritierte die Vulgarität dieses Ausdrucks. Yang gelang es nachzuweisen, daß auch Shakespeare diesen Ausdruck benutzt hatte, und das beruhigte die offiziellen Stellen. Daraufhin gestattete die Schulleitung Yang, englische Bücher zu lesen, falls weitere politisch bedeutsame Anfragen aus Peking kämen.

Plötzlich wurde Yang krank. Infolge der schlechten Ernährung und der harten Arbeit, ganz zu schweigen vom Druck der jahrelangen Verfolgung, hatte eine Erkältung sich zur akuten Lungenentzündung entwickelt.

Die meisten in der Gruppe waren alt und gebrechlich. Ihre Spezialgebiete waren Physik oder Philosophie, aber sie waren kaum in der Lage, für sich selbst zu sorgen. Es gab kein Krankenhaus in der Gegend, nur eine Klinikstation, die mit einer Barfußärztin besetzt war. Ihr Klassenstatus war der einer Vollerwerbsbäuerin, und sie arbeitete, noch immer barfuß, in den Reisfeldern. Natürlich hatte sie keine medizinische Ausbildung an bürgerlichen Universitäten genossen. Daher widmete sich Gruppenleiterin Yin der Pflege des Kranken. Sie übernahm seine Arbeit in der Küche und bereitete extra Mahlzeiten für ihn zu. Sie beschaffte sogar Antibiotika aus Peking. Nachdem sich sein Zustand langsam besserte, half sie ihm auch weiterhin auf jede erdenkliche Weise und nutzte dazu den wenigen Einfluß, den sie in der Kaderschule besaß.

In der Zwischenzeit hatte sie begonnen, selbst Englisch zu lernen, und fragte ihn immer wieder um Rat. Seit Präsident Nixon die Volksrepublik besucht hatte, strahlte einer der offiziellen Radiosender einen Englischkurs aus. Es galt nicht länger als politisch unkorrekt, wenn man Englisch lernte. Dennoch war es für eine Kaderstudentin eher ungewöhnlich, denn deren oberstes Ziel sollte ja die Gehirnwäsche sein.

Schon bald kursierten in der Kaderschule Gerüchte über die beiden. Sie besuchte ihn immer häufiger, was seinen Mitbewohnern allmählich lästig wurde. Der gemeinsame Schlafraum war winzig und mit drei Stockbetten vollgestellt. Wenn sie kam, um sich mit Yang zu unterhalten, fühlten sich die anderen fünf genötigt, den Raum zu verlassen und draußen in der Kälte herumzulaufen. Es dauerte nicht lange, bis die Leute merkten, daß die sogenannten Englischstunden nur ein Vorwand waren. Die beiden redeten über weitaus mehr als nur Grammatikprobleme. Es entging der Aufmerksamkeit der anderen nicht, daß sich ihre Hände unter dem Tisch trafen, während sie sich gemeinsam über ein englisches Buch beugten.

Anfangs dachte sie vielleicht, daß es eines Tages nützlich sein würde, Englisch zu können, nachdem es sogar jemandem wie Yang weitergeholfen hatte. Doch bei ihren Gesprächen mit ihm entdeckte sie bald noch eine weitere Dimension.

Sie redeten nicht nur über Sprache, sondern auch über Literatur. Da es in den Kaderschulen keine Lehrbücher gab, benutzte Yang Gedichte und Romane als Übungstexte. Yin, die ihre Studienjahre mit politischen Aktivitäten verbracht hatte, wußte wenig über Literatur. Von ihm lernte sie, was sie seinerzeit versäumt hatte. Während der Lektüre des englischen Romans Random Harvest suchte sie sich den Satz heraus: ›Mein Leben begann mit dir, und du bist meine Zukunft – etwas anderes gibt es nicht.‹ Sie zitierte ihn Yang mit Tränen in den Augen.

Als Motto zu Hemingways Wem die Stunde schlägt, das Yang ins Chinesische übersetzt hatte, las sie: ›Kein Mensch ist eine Insel, ganz sich selbst gehörig: jeder Mensch ist ein Stück des Kontinents, ein Teil des Ganzen … der Tod jedes Menschen vermindert mich, weil ich mit der Menschheit verbunden bin. Deshalb erkunde nie, für wen die Stunde schlägt; sie schlägt für dich.‹

Yang erklärte ihr, daß dies ein Zitat von John Donne sei, der in einem seiner berühmten Liebesgedichte zwei getrennte Liebende mit den beiden Spitzen einer Kompaßnadel verglichen hatte. Nachdem sie Ezra Pounds Übersetzung von ›Frau eines Flußfischers‹ gelesen hatte, ging ihr erstmals die Bedeutung von Li Bais Originaltext auf. In einer Kurzgeschichte von O. Henry fand sie den Sinn des Lebens in einem einzelnen an die Wand gemalten Blatt eingefangen, und als Yang sich mit diesem Blatt verglich, hielt sie ihm erschrocken den Mund zu.

Für sie war es ein Wendepunkt. Durch ihn erhielten die Dinge ungeahnte Bedeutung – ja, er selbst war diese Bedeutung. In ihr erwachte eine Leidenschaft, die sie nie zuvor empfunden hatte und die ihrem Leben neuen Sinn gab.

Und für ihn bedeutete diese Beziehung einen Sieg des Menschlichen nach all den politischen Katastrophen, die über ihn hereingebrochen waren. In seiner Bücherwelt kämpfte er für die Liebe als eines jener Ideale, die er so viele Jahre hochgehalten hatte. Es hatte Momente in seinem Leben gegeben, in denen er desillusioniert gewesen war, doch jetzt war er von neuem Optimismus durchdrungen.

Die Liebe war erst spät zu ihm gekommen, aber sie hatte alles verändert.

Die Kaderschule lag in einem Sumpfgebiet im Kreis Qingpu. Weit und breit gab es weder eine Bibliothek noch ein Kino. Statt sich in dem beengten Zimmer aufzuhalten, unternahmen sie Arm in Arm weite Spaziergänge. Denn Liebende existieren einzig im Zusammensein.

Yang war damals Mitte Fünfzig. Sah man von seiner gesprungenen Brille ab, hätte man ihn für einen Bauern halten können. Er war wettergegerbt, weißhaarig wie eine Eule und ging leicht gebeugt. Yin dagegen war gerade Anfang Dreißig. Sie war zwar keine Schönheit, aber die Leidenschaft stand ihr gut zu Gesicht, an seiner Seite blühte sie auf. Zur Verwunderung aller war sie es, die immer wieder seine Nähe suchte.

Sein weißes Haar leuchtete an ihren rosigen Wangen, wie es in dem bekannten Sprichwort heißt. Doch dort war es negativ gemeint und sollte das Unschickliche einer solchen Beziehung hervorheben. Was die beiden Liebenden aneinander fanden, war natürlich ihre Sache. Beide waren alleinstehend, und juristisch sprach nichts gegen eine solche Verbindung, zumal der Vorsitzende Mao schon zu Beginn der Revolution die Zerschlagung des bürgerlichen Rechtssystems gefordert hatte.

Niemanden hätte daran Anstoß nehmen müssen, aber es kam anders.

Yin war nicht beliebt in der Kaderschule. Einige ihrer Mitstudenten hatten unter ihr zu leiden gehabt, als sie noch Rotgardistin war. Und die Schulbehörde sah es natürlich auch nicht gern. Eine solche Beziehung konnte sich zum politischen Skandal auswachsen. Statt umerzogen zu werden, verliebten sich die Studenten ineinander. Das war politisch höchst unkorrekt, denn romantische Liebe galt in den frühen Siebzigern als politisch tabu. Sie lenkte auf dekadente Weise von der nötigen Hingebung an den Großen Vorsitzenden und die Partei ab. Die beiden versuchten nicht, ihre Beziehung zu verheimlichen, was beweist, wie naiv sie waren.«

Während Peiqin in dem Roman blätterte, sagte Yu: »Stimmt, in keiner der acht revolutionären Pekingopern kommt ein verheiratetes Paar vor – mit Ausnahme der Madam Aqin, deren Mann praktischerweise auf Geschäftsreise ist. Alle sind allein von politischer Leidenschaft beseelt; persönliche Gefühle gibt es in diesen Opern nicht.«

»Ah, da ist die Stelle«, sagte Peiqin und setzte sich bequemer hin. »Das hier wollte ich dir vorlesen:

Sie lebten in einer Welt, in der auf nichts Verlaß war. Es gab keine Sicherheit, keine Verläßlichkeit, keine Überzeugungen.

Es gab nur ihn in ihr und sie in ihm.‹«

Nach getaner Arbeit las er ihr manchmal Gedichte vor, zuerst auf chinesisch, dann auf englisch. Sie saßen hinter dem Schweinestall der Kaderschule oder auf einem Damm zwischen Reisfeldern, ihre Hände schmutzverkrustet. Über ihnen wiederholte ein Lautsprecher ewig dieselben Mao-Parolen, schwarze Krähen kreisten über den verlassenen Feldern.

Sie erkannten, daß die Kulturrevolution eine nationale Katastrophe darstellte, in der jegliche Individualität zerstört worden war; ›zu Asche verbrannt‹, wie es in einem revolutionären Slogan hieß. Doch für sie beide war es, als wären sie aus dieser Asche wiedergeboren.

»›Eine schreckliche Schönheit ist entstanden‹, sagte er. ›Es wird eine neue Zukunft geben für die Menschen und für das Land.‹

Sein Lieblingsgedicht stammte von der Dichterin Guan Dao-sheng aus dem 13. Jahrhundert und hieß ›Du und ich‹. Für ein klassisches chinesisches Gedicht war dort, wie er ihr versicherte, der Leidenschaft ungewöhnlich deutlich Ausdruck verliehen worden:

›Du und ich, sind ganz verrückt nacheinander, glühend wie ein Brennofen.

Aus demselben Stück Ton bist du geformt, wurde ich geformt. Schlag uns zusammen wieder in den Ton, misch uns mit Wasser und forme ein neues Du, ein neues Ich.

Dann trag auf ewig ich dich in mir und du mich in dir.‹«

Nachdem Peiqin diese lange Passage mit gefühlvoller Stimme gelesen hatte, sagte sie: »In der Kaderschule stieß solche Leidenschaft natürlich kaum auf Verständnis. Schlimmer noch, einer der Schulleiter sah darin eine dreiste Herausforderung der Parteiführung.

Eine Massenkritiksitzung wurde abgehalten. Yang wurde auf ein Podium geführt und als abschreckendes Beispiel für einen reaktionären Intellektuellen hingestellt, der sich der ideologischen Umerziehung entzog, indem er sich verliebte. Yin kam nicht viel besser weg: Sie erhielt eine Verwarnung durch die Partei und mußte barfuß neben Yang auf dem Podium stehen. Statt einer Tafel hängte man ihr ein Bündel ausgelatschter Schuhe um den Hals, das traditionelle Symbol für eine Frau, die nach dem Verkehr mit vielen Männern verbraucht ist wie ein schmutziger alter Schuh.

Es gibt ein berühmtes Zitat des Vorsitzenden Mao: Auf dieser Welt existieren weder grundlose Liebe noch grundloser Haß. Demnach müsse es einen Grund geben, warum diese beiden schwarzen Elemente‹ einander in die Arme gefallen seien, sagten ihre revolutionären Kritiker. Und sie folgerten, gemeinsamer Haß auf die Kulturrevolution habe sie zusammengeführt.

Yin und Yang ließen sich nicht einschüchtern. Sie trafen sich auch weiterhin, wann immer es möglich war, und ignorierten die Warnungen der Schulleitung.

Man brachte Yang in einen ›Isolationsraum‹, und er durfte keinerlei Kontakt haben, vor allem nicht zu Yin. Er sollte den ganzen Tag schriftliche Geständnisse und Selbstkritiken schreiben, weigerte sich aber mit dem Argument, daß nichts Unrechtes daran sei, wenn zwei Menschen sich liebten. Eine Woche lang ging das so, dann wurde er tagsüber zu besonders langen Arbeitsschichten in die Reisfelder gebracht und abends zum Schreiben wieder in den Isolationsraum gesperrt.

Auch Yin hat schwer gelitten. Die eine Hälfte ihres Kopfes wurde kahl geschoren. Man nannte das die Yin-Yang-Frisur, ein Kennzeichen für Klassenfeinde – ein gemeines Wortspiel mit den Familiennamen der beiden. Doch sie schien fast stolz zu sein auf den Preis, den sie für ihre Liebe zu bezahlen hatte, und gab sich keine Mühe, diese Haartracht zu verhüllen.

Das schlimmste aber war, daß sie Yang nicht mehr treffen durfte. Nach der täglichen Arbeit strich sie allein um die Hütte herum, in der er festgehalten wurde, um wenigstens einen Blick auf seinen Schattenriß hinter dem Fenster zu erhaschen. Sie wiederholte sich die Zeilen, die er ihr beigebracht hatte: ›Welch sternenreiche Nacht, / längst dahin und vorbei. / Für wen, frag ich, stehe ich hier, / trotzend Wind und Frost / tief in der Nacht?‹

Bald darauf wurde Yang wieder krank. Da sich die Schulleitung nicht um ihn kümmerte, bekam er keine ordentliche medizinische Versorgung. Die Barfußärztin war überzeugt, daß eine silberne Akupunkturnadel alle Krankheiten heilen könne. Schließlich hatte der Vorsitzende Mao verkündet, daß die traditionelle chinesische Medizin Wunder wirke. Yin durfte ihn nicht besuchen, erst unmittelbar vor seinem Tod, als klar war, daß man ihm nicht mehr helfen konnte, ließ man sie zu ihm. Es war ein kalter Tag, und noch kälter waren seine Hände. Er konnte zwar nicht mehr sprechen, blieb aber, ihre Hand haltend, bis zum Ende bei Bewußtsein. Er starb in ihren Armen. Wie in dem Gedicht, das er einst übersetzt hatte: ›Wenn ich nur deinen Körper, kalt wie Eis, wie Schnee, / zurück ins Leben bringen könnte / durch die Wärme des meinen …‹

Zwei Jahre später war die Kulturrevolution offiziell zu Ende. Die Kaderschule wurde aufgelöst. Yin ging in ihre Universität zurück, und da sie bei ihm Englisch gelernt hatte, wurde sie für den Englischunterricht eingesetzt.

Yang, so die offizielle Verlautbarung, war eines natürlichen Todes gestorben und nicht wie andere Intellektuelle hingerichtet oder zu Tode geprügelt worden. Es gab also keinen Grund, die Umstände seiner letzten Tage genauer zu untersuchen. In dieser Zeit waren so viele gestorben. Niemand fragte nach. In den ersten Jahren nach der Kulturrevolution wurde nichts unternommen.

Erst Anfang der achtziger Jahre gab die Parteiführung ein Dokument mit dem Titel heraus: ›Korrektur hinsichtlich der Anti-Rechts-Bewegung in den Fünfzigern‹. Darin wurde es als Fehler bezeichnet, daß seinerzeit so viele Intellektuelle als Rechtsabweichler gebrandmarkt worden waren, wenngleich es damals zweifellos einige gegeben habe, die der Regierung übelwollten. Jedenfalls galten die Überlebenden nicht länger als Rechte, und sie zündeten Feuerwerkskörper, um dies zu feiern. Es gab sogar einen Film über einen solchen Rechtsabweichler, der das Glück hatte, in den Jahren der Kampagne seiner großen Liebe zu begegnen, und der wie durch ein Wunder überlebt hatte, natürlich nur, um später dem Aufbau des Sozialismus weitere persönliche Opfer zu bringen.

Nicht so Yang. In einer verspäteten Gedenkfeier wurde er postum von allen Vorwürfen freigesprochen und durfte wieder ›Genosse Yang‹ genannt werden. Einige seiner Kollegen wohnten der Feier bei, wobei manche von der Universitätsleitung zur Teilnahme genötigt worden waren, da man befürchtete, Yang könne bereits vergessen sein. Bei diesem Anlaß wurde sein Tod als ein tragischer und schwerer Verlust für die moderne chinesische Literatur‹ bezeichnet. Die Lokalzeitungen berichteten über die Trauerfeier.

Allerdings schrieben sie nichts von einem kleinen Zwischenfall, der sich dort ereignet hatte. Qiao Ming, einer der ehemaligen Leiter der Kaderschule, war ebenfalls anwesend. Yin spuckte ihm zornentbrannt ins Gesicht, worauf Umstehende die beiden rasch trennten. Vergangenes ist vergangen sagten die Leute zu ihr und zu Qiao.

Das Leben ging weiter. Yin blieb allein und edierte ein Manuskript mit Gedichten, das er hinterlassen hatte. Eine Sammlung seiner Gedichte erschien daraufhin beim Shanghaier Literaturverlag. Doch erst nach der Veröffentlichung von Tod eines chinesischen Professors kam Yang wieder ins öffentliche Bewußtsein oder besser gesagt die romantische Liebe zwischen Yin und Yang.

Das ist, kurz gefaßt, die Geschichte der beiden«, schloß Peiqin ihren Bericht. »Was ich dir erzählt habe, basiert auch auf dem Material, das ich in der Bibliothek gefunden habe, Besprechungen oder Erinnerungen Dritter.«

»Gibt es nicht noch mehr?«

»Na ja, das Buch hat heftige Reaktionen hervorgerufen.«

»Zum Beispiel?«

»Manche glauben, daß dies die wahre Geschichte ihrer Liebe ist. Es gibt sogar Leute, die Yin für seinen Tod verantwortlich machen. Wäre diese Affäre nicht gewesen, dann wäre Yang nicht mit der Führung in Konflikt geraten, und ihm wäre vieles erspart geblieben. Er könnte heute noch am Leben sein.« Peiqin setzte sich bequemer hin und kuschelte sich an Yus Schulter. »Andere haben grundsätzliche Zweifel an der Geschichte. Schließlich war eine Kaderschule nicht der Ort für eine romantische Liebe. In den Zimmern herrschte drangvolle Enge. Wo hätten sich die beiden treffen sollen, selbst wenn sie nach der Arbeit noch Zeit und Energie dazu gehabt hätten? Ganz zu schweigen von der politischen Atmosphäre. Die Beamten dort hatten ein wachsames Auge auf alles und jeden.«

»Und was hältst du von dem Buch?«

»Als ich es zum ersten Mal gelesen habe, war ich mir unsicher. Einige Passagen gefielen mir gut, andere weniger. Um ehrlich zu sein, habe ich Yangs Arbeiten immer bewundert, aber in diesem Fall war ich ziemlich enttäuscht.«

»Tatsächlich? Das hast du mir nie erzählt.«

»Ich habe Anfang der Siebziger fast alle seine Gedichte gelesen, aber damals hat man besser nicht über solche Texte gesprochen.«

»Trotzdem verstehe ich nicht, warum du diesmal enttäuscht warst. Schließlich ist es ihr Buch, nicht seines.«

»Du magst mich auslachen, aber ich fand, er hätte Besseres verdient. Vielleicht war meine erste Lektüre von meinem Vorurteil gegen sie bestimmt.«

»Du meinst, eine bessere Partnerin als die Frau, die auf dem Rückencover abgebildet ist eine verhärmte Frau mittleren Alters mit Brille?« fragte Yu.

»Nein, so meine ich es nicht. Aber das Buch hätte besser sein müssen«, erwiderte Peiqin. »Die detaillierte Einführung in die Organisation der Roten Garden fand ich ziemlich überflüssig. Und manchmal haben mich die Schilderungen ihrer Liebe genervt.«

»Was war denn verkehrt daran?«

»Manches berührt einen wirklich, aber anderes ist bloß melodramatisch. Wie verknallte Teenager. Es ist schwer zu glauben, daß ein Gelehrter seines Alters und seiner Bildung so naiv sein konnte.«

»In jenen Jahren haben sich die Menschen an alles geklammert«, sagte er. »Sie griffen nach jedem Strohhalm, bloß um sich ein bißchen Menschlichkeit zu bewahren. Das mag auch auf sie zugetroffen haben – und auf ihn.«

»Schon möglich«, stimmte sie zu. »Vielleicht bin ich zu sehr auf ihn und seine Arbeiten eingeschworen. Beim zweiten Lesen, nachdem ich all die Hintergrundinformationen hatte, habe ich noch einmal genauer hingesehen und kam zu dem Schluß, daß er ihr wirklich viel bedeutet haben muß. Ein so starkes Gefühl ist wohl keine gute Voraussetzung für das Schreiben. Sie war eine bedauernswerte Frau.«

»Das glaube ich auch«, sagte er und griff nach der Zigarettenschachtel auf dem Nachttisch.

»Bitte nicht«, sagte sie mit einem Blick auf den Wecker. »Wir haben lange genug über andere geredet.«

Unter der Bettdecke spürte er, wie ihre Zehen an seinem Schienbein entlangfuhren. Sofort fühlte er sich nach Yunnan zurückversetzt, an den Bach, der hinter ihrer Hütte vorbeifloß.

Er las die Botschaft in ihren Augen und klopfte die Kopfkissen zurecht. Es war eine jener seltenen Nächte ungestörter Zweisamkeit, wo sie nicht die Luft anhalten und jedes Geräusch vermeiden mußten, wenn sie sich in den Armen lagen.

Danach hielt er noch lange friedlich ihre Hand.

Zu seiner Überraschung begann Peiqin leise zu schnarchen, wenn auch nur gelegentlich, ein Zeichen, daß sie übermüdet war. Vermutlich war sie die letzten Nächte besonders lange aufgeblieben, um für ihn zu lesen.

Nach all den Jahren steckte Peiqin noch immer voller Überraschungen.

Manchmal fragte er sich, ob sie nicht ein anderes Leben hätte führen sollen. Hübsch und talentiert, wie sie war, wäre sie ihm sicher nie begegnet, wenn die Kulturrevolution sie nicht zusammengebracht hätte. Yu hatte also tatsächlich Gründe, dankbar zu sein. So viele Jahre nach dieser nationalen Katastrophe war sie noch immer an seiner Seite, und nun half sie ihm sogar bei seinen Ermittlungen.

Trotz aller Enttäuschungen hielt Yu sich für einen Glückspilz.

Doch plötzlich wurde ihm unbehaglich, und das hatte nicht unbedingt mit Yin und Yang zu tun. Das ungute Gefühl war vage und bedrohte ihn dennoch persönlich. Ihm wurde klar, daß niemand vorhersagen konnte, ob nicht noch einmal eine Kulturrevolution über China hereinbrechen würde.

Kurz vor dem Einschlafen schwirrten sonderbare Gedanken durch seinen Kopf: Zum Glück ist Peiqin keine Schriftstellerin, war einer der halbfertigen Sätze, die er dachte, bevor er endgültig einschlief.