Vier
Lewin richtete sich langsam auf und klopfte sich die Hosenbeine ab. Sein Blick glitt erneut über den Fußboden. Zu seinem Erstaunen entdeckte er nun tatsächlich ein schwaches Funkeln, das unter einem der Regale aufblitzte. Schnell bückte er sich, griff nach der Münze und ließ sie noch in derselben Bewegung wieder in seiner Hosentasche verschwinden.
Ein merkwürdiges Gefühl der Erleichterung machte sich in ihm breit. Offenbar war sein Gehirn durch Kneifs Schläge und das Rennen in der Hitze tatsächlich ein wenig lädiert, wenn er sich so sehr über etwas Kleingeld freute.
Als er sich erneut aufrichtete, spürte Lewin, wie sich ein leichter Schwindel in seinem Körper ausbreitete. Er legte die Hand an die Stirn und wartete darauf, dass sich die nebligen Schwaden wieder verzogen, als sich ihm plötzlich eine kühle Hand auf die Schulter legte.
Lewins Lippen entfuhr ein trockener Aufschrei. Er riss seinen Oberkörper zur Seite, stolperte, ruderte mit den Armen durch die Luft und landete anschließend unsanft auf dem Hintern.
Sofort begann sich die Welt um ihn herum wieder zu drehen. Er stöhnte. Seine Augen starrten angestrengt in die Dunkelheit, konnten aber nicht das Geringste entdecken. Stattdessen hörte er ein leises Kichern.
Augenblicklich raste ein erschreckender Gedanke durch seinen Kopf. Anscheinend hatten die Anderen sein Versteck entdeckt und ihm hier aufgelauert. Und vermutlich würde er in den nächsten Sekunden die Prügel seines Lebens beziehen.
Lewin versuchte, sich auf den unausweichlichen Schlag vorzubereiten. Er drückte seinen Kopf tief zwischen die Schultern, zog die Knie an den Bauch und hielt die Hände notdürftig über den Kopf.
Eine Sekunde später stockte Lewin der Atem.
Er hatte sich auf eine Explosion in seinen Eingeweiden eingestellt, hatte den Schmerz beinahe schon fühlen können, aber er war nicht darauf eingestellt gewesen, plötzlich zu erblinden.
Wer auch immer sich dort vor ihm in der Finsternis versteckte, zauberte plötzlich eine Sonne aus dem Nichts hervor, deren grellweißes Licht sich ohne Umschweife direkt in Lewins Netzhäute brannte. Unwillkürlich musste er an die dünnen Plastikverpackungen von Zigarettenschachteln denken. Wie sie sich über der Flamme eines Feuerzeugs erst langsam, dann immer schneller zusammenrollten und dabei einen beißend scharfen Geruch erzeugten.
Nach dem Abklingen des ersten Schocks, merkte Lewin, dass er nicht blind war. Seine Augen reagierten durch die andauernde Dunkelheit nur extrem empfindlich. Schützend hob er seinen rechten Arm vors Gesicht und drehte den Kopf so, dass er nicht mehr direkt in die Taschenlampe seines Gegenübers starrte.
Sein Blick glitt über den Boden in die Richtung, aus der das Licht kam. Er sah ein paar zerschlissene Turnschuhe, die ihm seltsam bekannt vorkamen. Außerdem glaubte er eine ausgewaschene Jeans zu erkennen. Alles oberhalb der Jeans blieb seinem Blick verborgen, da der weiße Lichtkegel noch immer direkt auf ihn gerichtet war.
Lewin hörte jetzt wieder das Kichern, in das sich immer wieder ein leichtes Glucksen mischte. Die Geräusche erinnerten ihn an ein kleines Mädchen.
Er entspannte sich. Vor ihm konnten unmöglich Kneif, Simon oder einer der Anderen stehen. Auch der Rollaschek konnte es nicht sein. Der Rollaschek kicherte nicht. Der Rollaschek lachte ja nicht einmal. Außerdem hätte dieser ihm längst auf die Beine geholfen und würde ihm nicht mit einer Taschenlampe die Tränen in die Augen treiben.
„Na, du lieferst ja echt eine gnadenlos gute Show!“
War er sich bis eben noch nicht ganz sicher gewesen, so hatte Lewin nun die Gewissheit, dass vor ihm jemand stand, den er unmöglich kennen konnte.
Die Stimme war zwar rau, aber trotzdem eindeutig weiblich. Lewin hörte einen leichten Akzent, den er jedoch nicht einordnen konnte. Er hätte ebenso gut slawisch wie auch arabisch sein können.
Als das Kichern erneut einsetzte, unterbrach Lewin seine Überlegungen. Ihm wurde bewusst, was für ein lächerliches Bild er gerade abgeben musste. Noch immer hockte er auf seinem Hintern und hielt die Hände schützend über dem Kopf verschränkt. Rasch bemühte er sich um eine entspannte Haltung, was ihm allerdings nicht halb so gut gelang wie er es gern gewollt hätte.
„Wer bist du?“ fragte er und stellte zu seinem Entsetzen fest, dass seine Stimme wie die eines Dreijährigen klang.
Lewin räusperte sich. Die Unbekannte kicherte noch einen Moment und entschloss sich dann endlich dazu, die Taschenlampe aus Lewins Gesicht zu nehmen. Stattdessen richtete sie den Lichtstrahl nun auf ihr eigenes Gesicht. Dabei hielt sie die Lampe so, dass das Licht von unten auf sie fiel und es kaum möglich war, tatsächlich etwas zu erkennen. Flackernde Schatten tanzten über ihr Gesicht und Lewin fühlte sich seltsam unbehaglich.
„Ich bin Lydia“, sagte die Unbekannte und hickste. Dann brach sie erneut in Gelächter aus und schüttelte ihr langes Haar. Im zuckenden Licht der Taschenlampe wirkte sie wie eine geisteskranke Medusa.
Lewin schluckte und warf einen Blick durch den Laden. Offenbar waren er und die Unbekannte allein. Wo war nur der Rollaschek?
Das Gekicher vor ihm hörte schlagartig auf und die Fremde schien sich zu beruhigen. „Sorry, falls ich jetzt ein bisschen hysterisch gewirkt habe. Aber du hast echt zu lustig ausgesehen. Mein Onkel hat mir ja schon viel von dir erzählt, aber mit so einem Auftritt hatte ich nicht gerechnet.“
Sie kicherte erneut, schien es dieses Mal jedoch zurückhalten zu wollen, was Lewin nur recht war.
Plötzlich ging ihm auf, dass sie ihn bereits die ganze Zeit beobachtet haben musste, wie er auf allen Vieren den Boden abgesucht hatte und dabei immer wieder kurz davor gewesen war, das Bewusstsein zu verlieren. Bei dem Gedanken daran konnte auch er sich ein Lächeln nicht länger verkneifen. Gleichzeitig fühlte er, wie sich die Schamesröte langsam, aber dafür umso heißer, in seinem Gesicht ausbreitete.
Vorsichtig und mit wackeligen Knien richtete Lewin sich auf. Es wurde Zeit sich zu fangen. Er hatte sich vor dem fremden Mädchen genug blamiert und wollte nicht riskieren, dass sie ihn vollends als Lachnummer abstempelte. Irgendetwas an ihr machte ihn neugierig. Der Rollaschek hatte nie erwähnt, dass er Verwandte hatte. Natürlich nicht.
Bei genauem Nachdenken fiel es Lewin auch schwer sich vorzustellen, dass der Rollaschek wahrhaftig einen Bruder oder eine Schwester hatte. Geschweige denn eine Nichte. Vor seinem geistigen Auge entstand das Bild des fleischigen Rollascheks, der in seinen grobschlächtigen Händen ein kleines Kind wiegte. Diese Vorstellung brachte Lewin erneut zum Schmunzeln. Gedankenverloren ging er dazu über, seine Hose abzuklopfen.
„Ehrlich gesagt, kann ich mir nicht vorstellen, dass das noch irgendwas bringt!“
Lewin schaute fragend in Lydias Richtung, die daraufhin das Licht der Taschenlampe auf seine Hose richtete. Lewins Blick folgte dem Strahl. Und als er den Zustand seiner Hose erblickte, zogen sich seine Augenbrauen überrascht nach oben.
Seine Hose war nicht nur unglaublich schmutzig, sondern wies auch einen gewaltigen Riss am linken Oberschenkel auf. Um diesen Riss hatte sich eine dunkle Kruste gebildet, die im flackernden Licht der Lampe leicht glitzerte.
Seine Hose war an dieser Stelle feucht. Er blutete.
Lewin spürte, wie ihn die Übelkeit überrollte. Der Anblick frischen Blutes war ihm schon immer zuwider gewesen. Bereits als Kind hatte er sich häufig übergeben müssen, wenn er sich im Garten beim Spielen die Knie aufgeschlagen hatte. Manchmal hatte er sogar das Bewusstsein verloren.
Er warf einen kurzen Blick auf Lydia, registrierte das spöttische Glitzern in ihren Augen und stürzte dann in die Dunkelheit. Lewin fühlte, wie sich der Speichel in seinem ohnehin viel zu trockenen Mund zusammenzog. Wenn er die Tür zum Hinterzimmer nicht innerhalb weniger Augenblicke fand, würde er es in das angrenzende Badezimmer nicht mehr schaffen und müsste sich zu allem Übel auch noch hier auf dem Gang übergeben. Als hätte er sich nicht schon genug blamiert.
Nach einem schier endlosen Sprint stießen seine vorgestreckten Hände endlich an den ersehnten Tresen. Mit drei großen Schritten sprang Lewin um ihn herum, riss die Tür zum Hinterzimmer auf und war nach drei weiteren Schritten im Badezimmer. Er schaffte es gerade noch, seinen Kopf über das Waschbecken zu halten, bevor er seinen Magen entleerte.
Sein Frühstück war an diesem Morgen reichlich karg ausgefallen, weshalb bereits wenige Sekunden später nur noch trockene Luft aus seinem Bauch durch die Kehle nach oben drang. Ein paar Augenblicke später war dann auch dieses Würgen vorbei. Dafür drohte sein Schädel nun zu zerbersten. Seine Nase hatte ebenfalls wieder zu bluten begonnen. Dicke, rote Tropfen verwandelten sich im Waschbecken in dünne Rinnsale, die immer schneller und heller wurden, bevor sie im Abfluss verschwanden.
Lewin blieb vornüber gebeugt stehen und ließ das Blut heraustropfen. Er hielt die Augen geschlossen, um ein neuerliches Würgen zu vermeiden und schöpfte sich immer wieder etwas von dem Wasser aus dem Hahn ins Gesicht. Nach einer Weile folgten keine roten Tropfen mehr nach. Provisorisch steckte er sich etwas Klopapier in beide Nasenlöcher und untersuchte dann seinen Oberschenkel. Im hellen Licht der Badezimmerlampe sah sein Bein nicht ganz so schlimm aus, wie im flackernden Licht der Taschenlampe zuvor. Im Grunde genommen handelte es sich nur um eine Schürfwunde. Er wusch sie zunächst mit Wasser aus und tupfte sie anschließend mit Klopapier trocken. Das Verbandszeug des Rollascheks befand sind nicht im Badezimmer. Außerdem wollte er sich vor der Unbekannten nicht die Blöße geben und sich für eine Verletzung, die kaum mehr als ein Kratzer war, einen Verband anlegen. Normalerweise hätte er das, aus Angst vor einer Infektion, sicherlich getan. Heute musste das Auswaschen ausreichen.
Lewin richtete sich auf und zog sein T-Shirt hoch. Entsetzt stellte er fest, dass sich in unmittelbarer Nähe zu seiner Niere ein riesiger, blauschwarzer Fleck gebildet hatte. In der Mitte dieses Flecks war ein ungefähr faustgroßes, hartes Ei zu fühlen. Lewin schauderte. Er hoffte inständig, dass es sich dabei nur um eine Prellung und nicht um eine innere Verletzung handelte.
Er ließ das Shirt sinken und zog aus seiner Hosentasche ein kleines Etui, in der sich eine Reihe Tabletten befand. Eine dieser Tabletten packte er aus, legte sie sich auf die Zunge und spülte sie mit einem großen Schluck Wasser hinunter. Erst dann wagte er es, einen Blick in den Spiegel zu werfen, der über dem Waschbecken hing.
Beim Anblick seines demolierten Gesichts stockte ihm kurz der Atem. Sein rechtes Auge war derart zugeschwollen, dass man seine Augenfarbe bestenfalls noch erraten konnte. Seine Nase war dick und wirkte schief, was in Lewin erneut den Verdacht aufkommen ließ, dass sie gebrochen sein könnte. Irgendwo hatte er mal gelesen, dass eine gebrochene Nase kaum zu spüren sei. Allerdings war er sich da nicht mehr ganz sicher. Für den Moment war er jedenfalls froh, dass seine Nase sich nicht so anfühlte wie sie aussah. Seine Unterlippe war aufgeplatzt und ebenfalls geschwollen. Das Wasser hatte das dunkle Blut nicht vollständig weggewaschen. Lewin schluckte. Dieses Mal würde es länger dauern, bis die Spuren, die Kneif auf seinem Gesicht hinterlassen hatte, wieder verschwunden waren. Mit einem Seufzen zog er das Klopapier aus der Nase und warf es in die Toilette. Dann spritzte er sich ein letztes Mal etwas von dem kalten Wasser ins Gesicht und verließ das Badezimmer.