Zwei
Lewin starrte auf die verwitterte blaue Holztür. An vielen Stellen platzte die Farbe bereits ab, darunter schimmerte das morsche, faulende Holz hervor. Rost umschlang die alten Eisenbeschläge und von der geschmiedeten Klinke seilte sich eine kleine, schwarze Spinne in die Tiefe. Das Sonnenlicht brach sich an ihrem seidenen Faden und Lewin fragte sich, ob diese kleine Spinne ebenfalls unter der erbarmungslosen Hitze litt.
Mit einem knarrenden Geräusch öffnete sich die schwere Tür und Lewin blickte in die überrascht aufblitzenden Augen des schönen Aaron. Nur einen Sekundenbruchteil später verzog sich dessen hübscher Schmollmund zu einer abschätzigen Schnute und zwischen den dichten, elegant geschwungenen Augenbrauen bildete sich eine tiefe Furche. Plötzlich fühlte Lewin sich unbehaglich. Vielleicht war es doch keine gute Idee gewesen, hierher zu kommen.
„Was willst du hier?“ Aarons Stimme war tief, dunkel und bis zum Bersten mit Abneigung gefüllt.
„Ich hab ein Angebot für dich.“ Lewin wunderte sich, über seine eigene Stimme. Seitdem Aaron die Tür geöffnet und ihn mit seinem verachtenden Blick angesehen hatte, fühlte er sich unwohl, beinahe so, als fürchtete er sich vor dem Künstler. Er hätte also ein weinerliches Piepsen aus seinem Mund erwartet, aber als die Worte auf sein Ohr trafen, waren sie fest und bestimmt.
Im Blick des schönen Aarons regte sich nichts, aber er trat langsam einen Schritt beiseite und ließ ihn eintreten. Lewin folgte der Einladung und sah sich um. Er war noch nie in diesem Haus gewesen und was er sah, ließ ihn staunen.
Die gesamte untere Etage beinhaltete nur ein einziges Zimmer. Dieses war zwar nur spärlich eingerichtet, wirkte aber dennoch keineswegs karg oder leer. An einer Seite des Raumes waren helle Tücher vom Boden bis zur Decke gespannt. Davor befand sich ein kleiner hölzerner Schemel und, in einigem Abstand davor, eine Staffelei sowie mehrere verschiedene Farbbehälter und Pinsel. In der Ecke daneben lag eine Matratze mit zerwühltem Bettzeug darauf. Außerdem gab es ein altes zerschlissenes Sofa und massenweise Leinwände, die sich in allen Ecken stapelten, an den Wänden hingen oder an diese gelehnt waren. Hätte Lewin vorab die Wohnung eines Künstlers beschreiben sollen, wäre diese Beschreibung wahrscheinlich nahezu identisch mit der Wohnung des schönen Aarons gewesen.
„Also, was willst du?“ Der braungelockte junge Mann ging mit schwingenden Hüften zu dem alten Sofa und ließ sich langsam darauf gleiten.
Jede seiner Bewegungen wirkte anmutig und exquisit und ließ in Lewin neidvolle Bewunderung aufkommen. Selbst jetzt, wo er vollkommen gelangweilt und desinteressiert vor ihm auf dem Sofa saß, konnte Lewin sich des Gedankens nicht erwehren, dass alles um so vieles besser wäre, wenn der schöne Aaron sich nicht mit den falschen Leuten eingelassen hätte. Wenn er sich doch nur einen Moment lang Zeit genommen hätte, ihn kennenzulernen, anstatt den leeren Worten der Anderen zu glauben. Er hätte ihn mögen können, dessen war Lewin sich sicher.
Der schöne Aaron seufzte laut auf und räusperte sich anschließend. „Hör mal, ich weiß eigentlich gar nicht warum ich dich überhaupt reingelassen habe. Ich will mit dir nichts zu tun haben und was immer das für ein Angebot ist, dass du mir machen willst, interessiert mich eigentlich auch nicht. Ich würde dir also vorschlagen, du gehst wieder, damit ich möglichst schnell wieder vergessen kann, dass du jemals hier gewesen bist.“
In Aarons Stimme lag so viel Verachtung und Geringschätzung, dass es Lewin langsam die Kehle zuschnürte.
Er bekam ja nicht einmal eine Chance! Aber hatte er wirklich geglaubt, der schöne Aaron würde einen Blick in seine Welt werfen? Wie war er nur auf die Idee gekommen, dass der heutige Tag anders verlaufen würde, als jeder andere Tag zuvor. Aaron wollte genau so wenig auf ihn hören, wie alle anderen. Was hatte er sich nur dabei gedacht, hierher zu kommen?
In Lewins Eingeweiden kribbelte es. Ein merkwürdiges Taubheitsgefühl erfasste seinen Kopf und lähmte seine Gedanken. Es war ähnlich wie im Zimmer des Alten und Lewin spürte, wie etwas in ihm ganz allmählich immer drängender wurde. Wut kochte in seinem Bauch. Wut auf die abschätzigen Bemerkungen, den verächtlichen Tonfall und das Desinteresse an seiner Person. Wut angesichts der unschuldigen Mädchen, die es sich mit Sicherheit eines nach dem anderen auf der schmutzigen Matratze in der Ecke bequem machen mussten und Wut auf die grenzenlose Leichtigkeit, mit der der schöne Aaron durchs Leben gehen durfte. Was hatte er sich nur dabei gedacht?
Lewins Haut brannte. Er spürte, wie sein Gesicht rot anlief und der Schweiß ihm auf der Stirn perlte. Ihm war heiß und kalt zugleich. Seinen ganzen Körper erfasste eine elektrisierende Gänsehaut und er wurde so empfindlich, dass die Luft auf seiner Haut schmerzte. Der Druck in seinem Innern wurde immer stärker und er wusste nicht, wie lange er sich noch unter Kontrolle haben konnte und wollte. Was war hier nur los?
Der schöne Aaron richtete sich nun langsam auf. Lewins merkwürdiges Gebaren war ihm nicht verborgen geblieben.
„Junge, ich hab echt keine Ahnung, auf was für einem Trip du bist, aber ich will jetzt, dass du hier verschwindest! Ganz offensichtlich hast du noch größere Probleme als ich gedacht habe und ich will, verfluchte Scheiße, nichts davon hier in meinem Haus haben, also würdest du dich jetzt bitte endlich VERPISSEN!?“ Beim letzten Wort hatte er sich vom Sofa erhoben und in seiner ganzen Schönheit entfaltet. Die Furche zwischen seinen Augenbrauen war noch tiefer geworden und verlieh seinem Antlitz eine Art gefährlicher Anmut. Seine Lippen bebten und mit ihnen schien auch sein lockiges Haar in Bewegung zu geraten. Der schöne Aaron stemmte die Hände in die Hüften und war dabei so verdammt unwiderstehlich, dass es Lewin das Herz zerriss. In diesem Augenblick brach es aus ihm heraus.
Lewin konnte die Wut nicht länger kontrollieren. Er schrie und brüllte und konnte dabei seine eigenen Worte nicht verstehen. Seine Stimme schmerzte ihm in den Ohren und seine Kehle brannte von der Intensität seines Geschreis. Er geriet in einen wahren Rausch, taumelte und brüllte dabei ununterbrochen, als wäre er vom Teufel besessen. Sein ganzer Körper glühte. Am liebsten hätte er sich die Haut mit den bloßen Fingern vom Fleisch gerissen, nur um ein wenig Abkühlung zu verspüren. In seinen Eingeweiden brannte ein vernichtendes Feuer, das sich langsam durch ihn hindurchfraß und dabei eine Spur aus Asche und Tod hinterließ.
Erst nach einer gefühlten Ewigkeit ließ das Brennen in ihm dann plötzlich nach und Lewin erlangte die Kontrolle über seinen Körper zurück. Er stolperte ein paar Schritte nach vorn und stützte sich auf einen alten, mit verschiedenen Farben beschmierten Holztisch. Schwindel überkam ihn. Lewin schluckte und kämpfte gegen die nebligen Schleier, die um ihn tanzten. Und dann war er plötzlich ganz klar.
Seine Haut fühlte sich an seinem Körper wieder gut an. Das Jucken und Brennen hatte aufgehört. Trotz des Höllenfeuers, das noch vor wenigen Augenblicken in seinen Gedärmen zu lodern schien, fühlte er sich ausgesprochen wach und frisch, auf eine angenehme Weise ausgeruht und beinahe euphorisch.
Was war nur mit ihm los? Wie konnte es geschehen, dass er so dermaßen die Kontrolle über sich selbst verlor? Lewin kannte ein derartiges Verhalten nicht von sich. Er hatte zwar schon öfter unter Panikattacken gelitten, aber das hier war anders; intensiver, drängender und vor allen Dingen unangenehmer. Es kam ihm mehr wie eine Art Krankheit vor, denn wie eine psychische Störung. Lewin stockte der Atem.
Die Katze!
Die Katze, die er heute Vormittag am Straßenrand gesehen hatte. Konnte es vielleicht sein, dass er sich dort doch angesteckt hatte? Er schlug sich mit der Faust an die Stirn. Wenn dem so war, musste er einen Arzt aufsuchen und sich untersuchen lassen. Er wusste nicht, womit die Katze infiziert gewesen war. Bei genauerer Betrachtung kam ihm der Gedanke an Tollwut auch plötzlich ganz abwegig vor. Bei Tollwut bildete sich zwar Schaum vor dem Mund, aber soweit er wusste, lief dieser nicht aus den Augen des Betroffenen.
Lewin hob den Kopf und richtete seinen Blick auf den schönen Aaron. Der saß zusammengesunken auf dem Sofa, die Schultern nach vorn gerollt und das Kinn auf die Brust gelegt, sodass Lewin sein Gesicht nicht erkennen konnte.
Er spürte, wie ihm erneut die Röte ins Gesicht stieg, nur dass es dieses Mal wieder die Scham war, die ihn überkam. Wenn Aaron den Anderen von diesem Ausraster erzählte, würde er, im Gegensatz zu ihnen, in Zukunft vermutlich noch weniger zu lachen haben.
„Hör mal Aaron, ich weiß nicht, was gerade mit mir los ist. Ich glaube ich habe mich irgendwo angesteckt. Hab' Fieber oder irgendwas in der Art. Vielleicht könntest du die ganze Geschichte ja für dich behalten. Ich will dich nicht um einen Gefallen bitten, aber vielleicht kannst du ja …“, Lewin hielt mitten im Satz inne. Entgegen seiner Erwartung hatte sein Gegenüber sich noch immer nicht geregt. Der schöne Aaron war nicht aufgesprungen, hatte seine Fäuste geschüttelt und ihm zornig seine wohlklingende Stimme entgegengeschleudert. Stattdessen saß er noch immer zusammengesunken auf dem Sofa und rührte sich nicht.
„Aaron … ?!“
Lewin trat einen Schritt auf ihn zu und blieb dann wieder stehen. Was war hier los? Hatte der schöne Aaron sich über seinen Anfall so dermaßen erschrocken, dass er in Ohnmacht gefallen war oder versuchte er ihn hier gerade gehörig zu verarschen?
„Aaron, die Scheiße ist echt nicht lustig!“
Mit zwei schnellen Schritten trat Lewin an den unbeweglichen Körper heran und legte seine Hand energisch auf dessen Schulter. Augenblicklich durchfuhr ihn ein glühend heißer Pfeil, der sich durch seine Finger bohrte, seinen Arm hinaufschoss und anschließend in seinem Kopf explodierte. Erschrocken zog er die Hand zurück und stöhnte. Aarons Körper war unerträglich heiß.
Lewin sah sich um. Wenige Schritte vom Sofa entfernt lag ein großer Malerpinsel mit einem dicken Holzgriff. Er hob ihn auf und kam dann zu Aaron zurück. An dem Pinsel klebten alte Farbreste, die sich glatt und kalt an Lewins Haut anfühlten. Der Schweiß lief ihm über das Gesicht. Ein Tropfen verirrte sich in sein Auge. Es brannte. Lewin wischte mit der Hand nach, aber seine Hände schwitzten ebenfalls und das Brennen wurde noch stärker. Er spürte heiße Tränen in seinen Augen und blinzelte. Dann wischte er sich die Hände an der Hose ab und trat noch einen Schritt näher auf Aaron zu. Er konnte es nicht länger hinauszögern. Wieso, verdammt, bewegte der Mistkerl sich nicht?
Lewin hob den Pinsel und drückte ihn gegen Aarons Schulter. Langsam glitt der Oberkörper des jungen Malers zurück, bis er in die Lehne des Sofas fiel. Der braungelockte Kopf ruhte noch immer auf der Brust, sodass Lewin Aarons Gesicht nicht erkennen konnte. Mit gekräuselten Lippen setzte er den Pinsel an der Stirn des Künstlers an und schob ihm so den Kopf in den Nacken. Als er das Gesicht des schönen Aarons sah, konnte Lewin einen Schrei nicht unterdrücken.
Die Augen des jungen Mannes waren blutig und rot, offenbar waren ihm dort gleich mehrere Adern geplatzt. Das ganze Gesicht war seltsam verzerrt. Die Lippen waren aufgesprungen und Blut schimmerte auf ihnen. Auf Aarons Stirn prangte eine gewaltige Ader, die vorher nicht zu sehen gewesen war und auch an seinem Hals konnte Lewin mehrere dieser geschwollenen Blutkanäle entdecken. Ihre dunkle Farbe stach deutlich unter der weißen Haut hervor. Das Schrecklichste an Aarons Anblick aber war die weiße Flüssigkeit, die ihm aus sämtlichen Gesichtsöffnungen lief!
Aus den inneren Augenwinkeln bahnten sich zwei glitzernde weiße Tränen ihren Weg nach unten, aus seiner Nase blutete es weiß und in seinen Mundwinkeln bildete sich ein heller Schaum, der sich langsam mit dem Blut auf seinen Lippen zu einem zarten Rosa vermischte.
Lewin schrie erneut auf und trat entsetzt zwei Schritte zurück. Er fasste sich mit den Händen an den Kopf und versuchte die dunklen Wolken zu bekämpfen, die ihn in einem heftigen Sturm zu überrollen drohten. Der Raum begann sich vor seinen Augen zu drehen und in seinem Kopf wanderte ein überdimensionaler Presslufthammer auf und ab. Lewin stöhnte, kämpfte noch einen Augenblick und ergab sich dann doch der barmherzigen Dunkelheit, die alles um ihn herum auf einen Schlag ausblendete.