Teil 3: Der Nachmittag

Eins

Lewin stolperte durch das Gartentor mit den quietschenden Scharnieren und flüchtete hinter die sicheren Mauern seines eigenen Hauses. Erst nachdem er die Haustür hinter sich geschlossen hatte, erlaubte er sich, einen Moment zu verschnaufen. Schwer atmend ließ er sich im Wohnzimmer auf einen Sessel sinken und schloss die Augen. Im Gegensatz zum Vormittag fühlte er sich gerade alles andere als frisch und ausgeruht. Dieses kleine Mädchen in der Menschenmenge schien ihm mit ihrem bohrenden Blick sämtlicher Kräfte beraubt zu haben und das, obwohl Lewin nicht einmal wusste, wer sie war. Es war die Art, wie sie ihn angesehen hatte. In ihren Augen hatte eine Frage gestanden. Eine Frage, deren Antwort sie immer näher gekommen war, je länger sie ihn angeblickt hatte. Was auch immer das für eine Frage war, Lewin war sich sicher, dass ihm die Antwort nicht gefallen würde.

Er stand auf und durchwühlte die Schubladen des Wohnzimmertisches. Als er das Päckchen Zigaretten endlich gefunden hatte, seufzte er laut auf, steckte sich eines der lungenschwärzenden Stäbchen in den Mund und zündete es an.

Die wohltuende Wirkung ließ nicht auf sich warten. Wieder einmal breitete sich der Nikotinschwamm in seinem Kopf aus und verschlang alle beunruhigenden Gedanken. Augenblicklich fühlte Lewin sich besser.

Rauchend ging er in die angrenzende Küche und bereitete sich ein reichlich belegtes Sandwich zu. In seinem Magen schien ein riesiges Loch zu klaffen, dessen Gier er nicht einmal mithilfe des Nikotins besänftigen konnte. Normalerweise nahm er tagsüber nicht viel Nahrung zu sich; die Hitze hinderte ihn daran.

Nachdem er das Sandwich auf der Arbeitsplatte sitzend verschlungen hatte, spürte er, wie seine Kräfte langsam zurückkehrten. Vermutlich waren die meisten der heutigen Ereignisse ohnehin auf die furchtbare Hitze zurückzuführen. Deshalb auch seine unangebrachten und unerklärlichen Gefühle gegenüber diesem kleinen Mädchen mit den grünen Augen. Die wütende Menge, die schlechte Luft, der Hunger, all das musste seinen Verstand zum Aussetzen gebracht haben. Die Kleine war wahrscheinlich nur da gewesen, um zu gucken, weshalb all diese Menschen sich so aufregten.

Lewin erinnerte sich an die Fotografie, die er in Galens Wohnung gefunden hatte. Rasch zog er das Bild aus der Hosentasche und betrachtete es eine Weile. Dann begab er sich erneut ins Wohnzimmer und begann in den Bücherregalen zu suchen. Irgendwo hier mussten die Fotoalben herumstehen und wenn dieses Foto bei Galen in der Wohnung gestanden hatte, dann musste es im entsprechenden Album fehlen.

Lewin erinnerte sich, dass seine Mutter das Bild in ein kleines blaues Buch geklebt hatte, dass er ihr vor vielen Jahren zum Geburtstag geschenkt hatte. Als er das Album gefunden hatte, blätterte er ungeduldig durch das knisternde Papier. Er untersuchte jede einzelne Seite, fand aber nicht den Hauch einer Spur von dem Foto. Das bedeutete nicht nur, dass es nicht da war, sondern auch, dass es keine Lücke auf den Seiten des Albums gab, in der das Foto hätte geklebt haben können. Lewin blätterte die Seiten ein weiteres Mal durch.

Er war sich sicher, dass seine Mutter das Bild hier eingeklebt hatte, aber es fand sich auch beim zweiten Hinsehen kein Anzeichen dafür, dass jemand ein Foto entwendet hatte. Lewin starrte auf das Bücherregal. Er hatte keine Zeit, jedes dieser dämlichen Alben durchzublättern und das wäre ohnehin sinnlos gewesen. In jedem dieser Bücher hätte eine Lücke sein können, aber diese musste nicht unbedingt zu dem Bild aus Galens Wohnung passen. Wie zum Teufel war der Arzt an das Foto gekommen?

Einen Augenblick lang dachte Lewin darüber nach, noch einmal zu der Praxis zu gehen und Galen zur Rede zu stellen. Aber dieses Vorhaben war genauso wenig vielversprechend, wie das Durchblättern sämtlicher Fotoalben in diesem Haus. Er hatte keine Garantie dafür, dass Galen mittlerweile wieder zu Hause war und außerdem hätte er ihm zusätzlich erklären müssen, dass er heute Mittag in seine Wohnung eingebrochen war, was der Arzt wohl nicht sehr schätzen würde.

Diese Gedanken brachten Lewin zurück zu der mysteriösen Krankheit, wegen der er Galen eigentlich hatte sprechen wollen. Er versuchte sich zu erinnern, ob ihm auf dem Weg hierher weitere tote Katzen aufgefallen waren, aber er war so schnell gerannt, dass er kaum etwas von seiner Umgebung wahrgenommen hatte. Vielleicht waren diese Aggressionen der wütenden Meute vorhin ebenfalls ein Symptom der Krankheit.

Lewin erinnerte sich an einen Film, in dem die Menschen, ohne ersichtlichen Grund, aufeinander losgegangen waren. Vielleicht passierte das auch hier, nur dass der Auslöser in diesem Fall eine Infektion war. Vollkommen abwegig schien dieser Gedanke nicht zu sein, denn immerhin hatte ihn selbst heute ebenfalls bereits mehrfach eine vollkommen unkontrollierbare Wut überrollt.

Lewins Kopf schmerzte. Je länger er über all dies nachdachte, desto mehr fragte er sich, weshalb um alles in der Welt er immer noch so ruhig war. Normalerweise hätte er angesichts der Ereignisse des heutigen Tages schon längst ausrasten müssen. Stattdessen saß er hier rum, stopfte Essen in sich rein und rauchte. Er fühlte sich nicht schlecht und auch nicht krank. Er war lediglich ein wenig beunruhigt, aber im Großen und Ganzen blieb er immer noch ruhig und einigermaßen entspannt.

Er saß nun mit ausgestreckten Beinen auf dem Wohnzimmerboden und überlegte, was er unternehmen könnte, um Licht in das Dunkel zu bringen - als ihm der alte Mann im ersten Stock einfiel.

Der Greis saß schon seit dem Vormittag dort oben in seinem Zimmer und kochte mittlerweile wahrscheinlich in seinem eigenen Sud. Nach seinem schnellen Abgang hatte Lewin keinen weiteren Gedanken daran verschwendet, dass der Alte aller Voraussicht nach riesigen Hunger haben musste. Und auch wenn er ihn verabscheute, wollte er dennoch nicht daran schuld sein, wenn er bei dieser Hitze einen Zusammenbruch erlitt, nur weil er ihn nicht ausreichend mit Nahrung versorgt hatte. Lewin war sich nicht sicher, aber er vermutete, dass man in diesem Falle von fahrlässiger Tötung oder etwas Ähnlichem sprechen konnte. Zwar würde sich in Weiß niemand um den Alten scheren, aber das Risiko wollte er trotzdem nicht eingehen.

Ächzend erhob sich Lewin vom Fußboden und marschierte langsam in Richtung Treppe. Als er einen Blick aus dem Fenster warf, registrierte er eine Gestalt, die vor dem Gartentürchen auf der Straße stand und mit unbeweglichem Gesicht zu ihm herüberstarrte. Lewins Hand klammerte sich am Treppengeländer fest und er spürte, wie sein Atem immer schneller und flacher wurde.