Zehn

Das Gewicht der stickigen Wärme auf Lewins Schultern wurde von Minute zu Minute weniger. Mit Einsetzen der Dämmerung verzog sich nicht nur die Schwüle aus der Luft, sondern begann auch die Stadt Weiß zu neuem Leben zu erwachen. Bewegten sich die ersten Menschen bereits am Nachmittag aus den Häusern, verließ nun auch der letzte von ihnen seine kühlen Mauern und machte sich auf den Weg an die Arbeit, zum Supermarkt oder in die Kneipe. Die Interessen waren vielseitig, aber banal.

Lewin stapfte durch die kühler werdende Luft und hielt den Blick auf den Boden gerichtet. Er achtete nicht mehr darauf, ob er anderen Leuten begegnete oder nicht. Es gab keinen Grund mehr, sich zu verstecken. Niemand von ihnen konnte ihm mehr etwas anhaben, ihn beschimpfen oder beleidigen. Er musste sich auch nicht vor einer Krankheit verstecken, die es in Wirklichkeit gar nicht gab. Nichts mehr würde in sein Innerstes dringen können, denn dort war kein Platz mehr. An die Stelle der Leere, die er dort immer verspürt hatte, war etwas anderes getreten. Etwas Dunkles, aber dennoch Vertrautes. Etwas Warmes, das ihm ein gutes Gefühl gab. Nein, er musste sich jetzt nichts mehr gefallen lassen.

Lewin ließ seinen Blick über die umliegenden Häuser gleiten und fragte sich, ob er all das hier vermissen würde. Diese Umgebung, das Leben in dieser Stadt, die Menschen. Er wusste, dass er hier nicht würde bleiben können. Seine Zeit in Weiß war vorüber. Das spürte er, obwohl er nicht genau wusste, was dieses Gefühl zu bedeuten hatte.

Lewin schreckte aus seinen Gedanken hoch, als er ein verzweifeltes Gewinsel hörte. Er blieb stehen und sah sich um. Er erwartete eine weitere Katze, die sich im Todeskampf über den Boden rollte, konnte aber nichts erkennen. Die Quelle des Geräuschs war nicht ausfindig zu machen, schien aber hinter einem der Häuser zu seiner rechten zu liegen. Lewin überlegte einen Augenblick. Er hatte keine Angst. Wovor sollte jemand mit seinen Kräften sich auch schon fürchten. Es war etwas anderes, das ihn zurückhielt. Etwas Subtileres. Argwohn. Diese Stadt war nicht gut zu Lewin gewesen und nun hatte er die Möglichkeit sich an ihr zu rächen. Wer sagte ihm denn, dass dieses Schluchzen nicht vielleicht eine Falle war? Aber war eine Stadt zu so etwas überhaupt fähig?

Als das Schluchzen nicht aufhörte, sondern im Gegenteil noch stärker und herzzerreißender wurde, gab Lewin sich einen Ruck und ging langsam auf das Geräusch zu. Er glaubte zwar nicht daran, aber vielleicht gab es ja doch noch jemanden, der es wert war, dass ihm geholfen wurde. Je näher Lewin den umliegenden Häusern kam, desto genauer konnte er das Geräusch lokalisieren. Tatsächlich schien es, als würde es hinter einem kleinen, gelben Haus hervorkommen. Es überraschte Lewin kaum, dass gerade dieses Haus das schäbigste in der gesamten näheren Umgebung war.

Er trat zwischen zwei riesigen Hecken hindurch und in einen ungepflegten Garten hinein. Überall lagen Flaschen, Müll, Spielsachen und andere Dinge herum, die keineswegs in einen Garten gehörten. Lewin entdeckte einen alten Fernseher, besudelte Wäsche, einen kaputten Wasserball und verwesende Nahrungsmittel. Angewidert verzog er das Gesicht, setzte seinen Weg aber tapfer fort. Das Weinen wurde lauter und Lewin war sich jetzt ganz sicher, dass dort hinter dem Haus ein kleines Kind sitzen musste, das sich beim Spielen in diesem riesigen Abfalleimer verletzt hatte. Vermutlich waren Vater und Mutter nicht zuhause oder lagen betrunken vor dem Fernseher und kümmerten sich nicht um die Belange des Kleinen. Es war Lewin egal, ob er das Recht hatte, diesen Garten zu betreten. Irgendjemand musste hier schließlich helfen.

Als er sich den Weg durch das Sperrgut gekämpft und langsam die Häuserecke erreicht hatte, hinter der sich das weinende Kind befinden musste, änderte sich die Qualität des Weinens plötzlich. Immer wieder mischte sich nun Kichern zwischen das Schluchzen und Lewin blieb verwundert stehen. Vielleicht war das Ganze ja doch eine Falle. Ein hinterhältiger Versuch ihn allein zu erwischen, um ihn aufzuhalten. Wahrscheinlich lauerten Simon und die Anderen hinter dem Haus, verstellten ihre Stimmen und lachten sich halb tot, weil niemand in der gesamten Stadt außer ihm so dämlich war, auf einen derart bescheuerten Trick hereinzufallen. Dieses fremde Weinen ging ihn doch nichts an! Was hatte er in dieser verdammten Müllkippe überhaupt zu suchen?

Lewins Haut begann zu kribbeln und er spürte, wie die Wut in ihm zu kochen begann. Diese verdammten Hundesöhne! Es wurde Zeit, sich intensiver mit ihnen auseinanderzusetzen und vielleicht war dieser stinkende Garten genau der richtige Ort dafür. Er holte ein paar Mal tief Luft, spannte seinen gesamten Körper an und trat dann entschlossen mit drei großen Schritten um die Häuserecke herum. Was er sah, ließ ihn überrascht und erleichtert zugleich ausatmen.

Zwischen Müll und Unrat stand auf einer von Unkraut überwucherten Terrasse ein alter, schmutziger Kinderwagen. Das ausgeblichene Rosa des Stoffbezugs war hier und da mit Grünspan überzogen, sämtliche metallenen Teile des Gestänges waren verrostet. Neben dem Kinderwagen saß ein Kind auf dem Boden, mit dem Rücken zu Lewin. Die Schultern des Kindes, es war nicht zu erkennen, ob es ein Mädchen oder ein Junge war, bebten und die kleinen feinen Haare wehten in der leichten Brise des herannahenden Abends.

„Hey du! Ist alles in Ordnung?“, fragte Lewin.

Er konnte keine Reaktion feststellen. Die kleinen Schultern bebten noch immer, der Knirps stieß weiterhin kichernde und schluchzende Geräusche zugleich aus und Lewin beschlich das ungute Gefühl, dass hier etwas ganz und gar nicht in Ordnung war. Er hatte keine Ahnung, was hier los war, aber aus der Wärme in seinem Innern wurde langsam wieder ein unangenehmer Druck in der Magengegend.

Langsam und vorsichtig näherte Lewin sich dem weinenden Kind. Je näher er kam, desto auffälliger wurde der erbärmliche Zustand der kleinen Gestalt. Die Kleidung war schmutzig und abgetragen. Das dünne Kopfhaar war fettig und an den schmutzigen Füßen trug das Kind keine Schuhe. Als er das Kleine erreicht hatte, legte Lewin ihm vorsichtig eine Hand auf die winzige Schulter. Erschrocken drehte das Kind sich um und starrte ihn aus zusammengekniffenen Augen giftig an. Lewin konnte keine Tränen im Gesicht des Kindes sehen, die schmutzigen Wangen waren trocken und leuchteten gesund. Die hellrosa Lippen des Kindes verzogen sich zu einem hinterhältigen Grinsen und entblößten dabei eine Reihe dunkelbrauner Zähne sowie mehrere Zahnlücken.

„Was willst du?“, zischte das Kind und Lewin zog erschrocken die Hand zurück. „Wir spielen hier, lass uns gefälligst in Ruhe!“

Lewin sah sich um, konnte aber kein anderes Kind entdecken. Er wollte gerade eine entsprechende Frage stellen, als ihm ein Gedanke durch den Kopf schoss. Er beugte den Oberkörper nach vorn und warf einen Blick in den schmutzigen Kinderwagen. Als er entdeckte, was sich in diesem befand, lief ihm ein kalter Schauer über den Rücken.

Im Kinderwagen lagen drei tote Katzen. Eine kleine weiße Plastiktüte, die mit Blättern gefüllt war, diente als Decke für die toten Tiere und um den Kopf der mittleren Katze war eine kleine, schmutzige Haube gebunden. Alle drei Tiere hatten erschreckend weit aufgerissene Augen und Spuren einer weißen Flüssigkeit im Gesicht, die unter Mund, Nase und Augen in eingetrockneten Resten klebte.

Lewin trat erschrocken einen Schritt zurück. Entsetzt sah er das Kind an, auf dessen Gesicht sich jetzt ein empörter Ausdruck breit machte.

„Das sind meine Freunde! Ich hab sie selbst gesammelt, du darfst sie mir nicht wegnehmen! Verschwinde hier, die gehören mir und sie müssen jetzt schlafen!“, schrie es.

Lewin sah sich um. Erst jetzt fiel ihm auf, dass neben dem Jungen zwei große Plastiktüten standen, aus denen die Gliedmaßen weiterer Katzen hervorragten. Schlagartig schoss ihm saure Luft in die Kehle. Er warf einen entsetzten Blick auf die böse funkelnden Augen des Kindes und trat dann hastig die Flucht an.

Als er bereits um die Häuserecke war und sich einen Weg durch das Sperrgut zurück auf die Straße bahnte, hörte er, wie das Kind hinter ihm wieder zu schluchzen und kichern begann. Wenn es noch einen Zweifel in ihm gegeben hatte, ob diese Stadt es verdient hatte zu existieren, so war dieser spätestens jetzt endgültig beseitigt.