Prolog

 

Der gelbe Junge

 

Der Junge war nicht immer gelb gewesen. Früher einmal hatte er eine schneeweiße Haut besessen und Krawatten und elegante Schuhe statt Lumpen getragen. Aber das war, bevor er auf diese Insel gebracht wurde, um dem alten Doktor bei seiner Arbeit zu helfen; bevor er die salzigen Pillen, die Elixiere und löffelweise Tinkturen einnehmen und die grässlichen Injektionen erdulden musste. Erst als er bereits ein Jahr – sein elftes Lebensjahr – im Dienst des Doktors stand, begriff der Junge, dass an ihm ein langfristiges Experiment durchgeführt wurde.

Der Junge träumte häufig davon, dass seine Mutter und sein Vater an Bord eines Dampfschiffes auftauchen würden, um ihn aus seiner grausamen Lage zu befreien. Mum würde mit ihrem Gesang die schrecklichen Hunde einlullen, bis sich ihre mechanischen Kiefer allmählich mit einem Klirren schlössen. Vater würde in die Höhle hinaufklettern, den bösen Doktor über die Klippen werfen, den Jungen auf das Dampfschiff tragen und dann weit, weit weg mit ihm fahren.

Der Junge wusste, dass das ein Traum bleiben würde, da seine Eltern bei eben jenem Schiffbruch ihr Leben gelassen hatten, in dessen Folge er in diesem Teil der Erde gelandet war. Der Junge hatte überlebt, weil er klein genug war, um auf ein Stück des zersplitterten Masts zu klettern. Seine Eltern hatten ihn so weit wie möglich vor sich her geschoben, bis die Kräfte sie verließen. Mums letzte Worte lauteten: »Ich liebe dich, Schatz«, und die seines Vaters: »Das Schicksal bestimmt dir eine große Zukunft, Griff, mein Sohn«. Dann winkten ihm beide zum Abschied zu und er wurde allein von den Wellen davongetragen.

Als »große« Zukunft hielt das Schicksal für den Jungen bereit, auf einer einsamen Insel zu stranden und dort sechs Monate lang zu überleben, indem er sich von Beeren und anderen Früchten ernährte und mit sich selbst sprach. Er magerte ab und zitterte in den kalten Nächten. Als seine Kleidung zu Lumpen zerfiel, trug er Schilf und Blätter. Und schließlich gar nichts mehr. Zumindest tagsüber war es warm.

Eines Tages dann tauchten die Jagdhunde auf und verfolgten ihn quer über die Insel. Ihre Kiefer schnappten wie Bügelfallen nach ihm. Die Schädel der Hunde bestanden aus Metall und ihre Augen glitzerten teuflisch. Kein Bellen, nicht einmal ein Knurren entschlüpfte ihnen. Mit der Geschwindigkeit von Panthern und der Kraft von Bullen brachen sie durch das Gestrüpp und blieben dem Jungen dicht auf den Fersen, bis sie ihn schließlich auf einer Felsenklippe in die Enge trieben. Kurz darauf trafen Soldaten in grauen Uniformen ein, die ebenso schweigsam waren. Einer packte Griff an den Haaren und zerrte ihn auf ein Dampfschiff. Sie brachten ihn auf eine größere Insel und warfen ihn Doktor Cornelius Hyde vor die Füße. »Sie haben nach einem Diener verlangt«, sagte einer der Soldaten, »hier liefern wir Ihnen einen.«

Von da an war das Dienen die Aufgabe des Jungen. Hyde richtete selten das Wort an Griff, außer um ihn aufzufordern, irgendwelche Pulver oder Skalpelle aus den Regalen zu holen oder Kisten mit Arzneimitteln vom Hafen in die Höhle zu schleppen. Griff machte sich anhand dessen, was er dem Gefasel und den zahlreichen Wutausbrüchen des Doktors entnahm, ein ungefähres Bild von dem Mann. Hydes Sprache verwies auf die englische Oberschicht. Er erklärte, »die Schurken der Gesellschaft für Wissenschaft« hätten ihn verraten. Außerdem hatte Griff festgestellt, dass der Doktor Hunde mochte.

Die Höhle war keine angenehme Arbeitsstätte. In Käfigen saßen zitternde Schimpansen. Hundewelpen jaulten in Kisten. In der Luft lag der Gestank von Tierexkrementen. Griff gewöhnte sich mit der Zeit an den Geruch und daran, auf den Strohballen neben den Käfigen zu schlafen. Langsam verblassten die Erinnerungen an seine Kindheit in Liverpool, als er noch mit den Eltern in einem kleinen Haus mit Blick auf die Bucht lebte.

Trotz der Schinderei fand er an vielen Dingen Gefallen. Nach allem, was er wusste, gehörte die Insel einem Mann, der Gildemeister genannt wurde und sehr reich sein musste, weil er Kanonen sowie Dampfschiffe besaß und seine eigene kleine Armee unterhielt. Die Soldaten errichteten gerade ein gewaltiges Gebäude am äußersten Ende der Insel.

Am meisten mochte Griff das Luftschiff, das alle paar Wochen die Insel ansteuerte und die rothaarige Frau mit der Metallhand herbrachte. Sie war schmal, sehr schön und bewegte sich mit der Geschmeidigkeit eines Tiers. Sie war eine Frau mit Macht. Das erkannte er an ihrem Auftreten und an der Art und Weise, wie die Soldaten salutierten. Sie sprach mit einem merkwürdigen Akzent und ihre Stimme gebot Aufmerksamkeit, doch manchmal wurde ihr Tonfall so weich wie der seiner Mum. Griff pflückte für die Frau bei jedem ihrer Besuche Blumen.

»Du wirst zum bedeutendsten Mann aller Zeiten heranwachsen«, hatte sie ihm während ihres letzten Aufenthalts gesagt. »Der gute Doktor Hyde wird dafür sorgen.«

»Ja, das stimmt«, hatte Doktor Hyde bekräftigt. Er gab sich immer freundlicher, wenn die Frau in der Nähe war. »Du wirst als erster Mensch die Erfahrung einer neuen Beschaffenheit, einer neuen Gestalt machen. Und jetzt schluck dieses süße Bonbon.«

Griff gehorchte. Die Pille schmeckte säuerlich und brannte in seinem Magen wie heiße Kohlen. Aber er ließ sich nichts anmerken. Er wollte der Frau unbedingt zeigen, wie stark er war.

Sie legte ihm sanft ihre menschliche Hand auf die Schulter. »Eines Tages wirst du so viel mehr sein, als du heute bist. Du musst lernen. Du musst die Anordnungen des Doktors befolgen und immer deine Medizin nehmen, lieber kleiner Griff.«

»Das werde ich«, flüsterte er. »Für Sie tue ich das.«

An jenem Nachmittag beobachtete er die rothaarige Frau, wie sie mit großen Schritten zum Hafen hinunterging. Er kehrte erst in die Höhle zurück, als ihr Luftschiff am Horizont verschwunden war, obwohl der Doktor wegen seines Zuspätkommens ärgerlich sein würde. Griff schluchzte, denn er wusste, dass Wochen vergehen würden, bis er die rothaarige Frau wiedersähe.

Die Medizin brannte ihm noch die ganze Nacht im Magen. Als er am nächsten Morgen erwachte, stellte er fest, dass seine ganze Haut sich gelb verfärbt hatte.

Er blickte auf seine gelben Hände. Stupste mit dem Finger auf seinem gelben Bauch herum. »Was ist meine große Zukunft?«, fragte er ins Kopfkissen. »Was bloß?«

Sieben Jahre sollten vergehen, bis die Antwort sich offenbarte.