24
Eine durchsichtige Geschichte
Griff konnte ein Kichern nicht unterdrücken. Die monströse Missgeburt vor ihm sah mit ihrem offen stehenden Mund wie eine Marionette aus. Ihre schiefen Augen waren weit aufgerissen vor Angst. Angst vor mir! Vor mir! Griff hatte noch nie jemand so Hässlichen gesehen. Im Vergleich dazu waren die Schimpansen, an denen Dr. Hyde seine Experimente durchgeführt hatte, schön. Das Aussehen dieses Agenten verursachte Griff Übelkeit.
»Ach, Verzeihung, ich habe mich gar nicht richtig vorgestellt«, meldete sich Griff wieder zu Wort. »Wie dumm von mir! Es ist so lange her, dass ich mich mit jemandem unterhalten habe. Ich bin Griff, Unsichtbarer Mann der Erste. Kapiert? Ich bin der Erste! Und du und ich stehen als Agenten im Dienst desselben Landes.«
Er beobachtete, wie Modo sich hektisch in alle Richtungen umsah und den Raum absuchte. »Wo bist du? Bitte höre mit den Spielchen auf.«
Griff lachte kreischend auf. »Ach, mach kein Gesicht wie ein Bauerntölpel! Ich bin direkt vor dir. Hi-hii!«
So also verhielten sich primitive Geschöpfe in Gegenwart von wahrer Größe, stellte Griff fest. Der beschränkte Intellekt dieser niederen Kreatur kann nicht einmal ansatzweise meine Existenz begreifen. Ich muss ihm einen Beweis liefern. Griff zerrte ein Laken von der Pritsche und wickelte es sich um die Schultern und über seine drahtigen Muskeln, sodass seine Silhouette sichtbar wurde. Modo beobachtete das Geschehen fassungslos. Ah! Na also! Langsam fiel der Groschen, dachte Griff.
»Das ist unmöglich«, erklärte Modo.
»Nichts ist unmöglich, es gibt nur Abstufungen des Grades der Wahrscheinlichkeit. Das hat mich der geniale Doktor gelehrt.«
»Doktor?«
»Ja, der für die Allianz arbeitet.«
»Die Allianz?« Modo machte jetzt einen völlig verwirrten Eindruck.
Griff lächelte. Unsichtbare Lippen bewegten sich vor unsichtbaren Zähnen. Sollte das wirklich so simpel sein? »Für die Ewige Allianz, Modo. Deine Dienstherren. Unsere Dienstherren. Ich bin auf deiner Seite.« Griff hatte mitbekommen, wie Octavia diesen Namen erwähnte, als er in ihrem New Yorker Hotelzimmer in einer Ecke gekauert war.
Modo lehnte sich an die Kommode. »Du bist ein Agent der Allianz?«
»Du bist ja ein ganz waches Kerlchen, was? Ja, das stimmt: Ich bin ihr erhabenstes Experiment. Wir beide haben einiges gemeinsam, nicht wahr? Ich vermute, du verfügst von Geburt an über deine spezielle Gabe, von der ich mittlerweile ein genaues Bild bekommen habe. Sie haben dich an irgendeinem geheimen Ort ausgebildet, oder? Mr Socrates hat dich an der Kandare.«
»Du kennst Mr Socrates? Hat – hat er dich aufgezogen?«
»Nein. Nein. Ich kenne ihn vom Hörensagen. Ich hatte noch nicht das Vergnügen, den alten Knaben persönlich zu treffen.«
Modo holte tief Luft. Und noch einmal.
Gut, gut, dachte Griff, du beruhigst dich wieder.
Modo legte die Hände vor sein Gesicht, um den Unterkiefer zu verbergen.
»Bist du besorgt wegen deines Aussehens? Ich habe Schlimmeres gesehen«, log Griff.
»Wie lange verfolgst du mich schon?«
»Seit New York. Ich war häufig in der Bibliothek, weil ich den Auftrag hatte, Colette Brunet und diesen mysteriösen grand Fisch zu finden. Ich bin euch auf die Hugo gefolgt, habe hier und da etwas zu essen stibitzt. Als das Schiff gerammt wurde, stand ich direkt neben dir und bin vor dir über Bord gestürzt. Fast wäre ich im Meer erfroren. Und als du die Luke zur Ictíneo aufgerissen hast, bin ich gemeinsam mit dir hineingeklettert.«
»Du meinst vor mir. Und du hast mir auf den Kopf geschlagen!«
»Was soll ich sagen?« Griff hob die Arme, sodass das Laken sich nach oben bewegte. »Ich entschuldige mich für den Schlag. Aber du hast einen harten Schädel und ich war verzweifelt. Es war keine Zeit, zu erklären, wer oder was ich bin. Ich habe mich in die Bibliothek verkrochen, um wieder zu Kräften zu kommen, und habe mich seitdem gut versteckt. Das Essen hier ist grauenhaft. Ich hasse Fisch. Na, immerhin ist es auf dem Schiff warm.« Er hustete. Ach, seine Lunge und den verhassten Husten würde er nie loswerden. Das war der Fluch seines unsichtbaren Daseins. Manchmal verdammte er die vielen Stunden im Eisraum, die ihn abhärten sollten, um Temperaturen um den Gefrierpunkt auszuhalten. Und manchmal verdammte er Dr. Hyde, der ihm all die Jahre diese Tinkturen zu trinken gegeben hatte. Eines Tages würde er vielleicht dem Doktor etwas von seinem eigenen Trank einflößen.
Modo starrte mit zusammengekniffenen Augen auf die Stelle über dem Laken.
»Du suchst wohl nach meinen Augen«, sagte Griff.
»Warum hast du dich nicht früher zu erkennen gegeben?«, fragte Modo.
»Ich hatte Anweisung, allein zu handeln. Lässt Mr Socrates etwa die anderen Mitglieder der Allianz wissen, dass ein Ungeheuer mit Verwandlungsfähigkeiten für ihn arbeitet?«
»Ich bin kein Ungeheuer!«, brüllte Modo und mit einem Satz sprang er durch den Raum und packte Griff an der Kehle. »In wessen Diensten stehst du? Sag es mir! Lüg mich nicht an!«
»Mo-Modo.« Griff würgte das Wort hervor. Der Bucklige hatte viel Kraft in den Fingern. »W-wir sind Partner. Und … und du weißt, dass ich dir den Namen nicht sagen darf. Wir dürfen die Namen der anderen Mitglieder der Allianz nicht kennen.«
»Das stimmt.«
»Also würde dir ihr Name nicht viel sagen, oder?«
»Ha!« Modo ließ Griff los. »Es ist Lady Artemis Burton!«
Griff sog mehrmals gierig Luft ein und strich sich dabei über die Kehle. Dafür, dass du mich angerührt hast, zieh ich dir bei lebendigem Leib die Haut ab, schwor er sich. »Ich dachte, du kennst die Namen der anderen Mitglieder nicht.«
»Ich habe geblufft. Ich bin ihr und einigen anderen der Allianz vor ein paar Monaten begegnet. Ich glaube, Lady Burton ist die einzige Frau in der Organisation.«
»Ja, und glaube mir, das macht sie immer wieder zornig.«
Griff massierte immer noch seinen Hals. »Ständig beklagt sie sich über diese ignoranten Besserwisser! Sie war diejenige, die die großartige Idee hatte, mich zu dem Doktor zu schicken. Um mich zu verwandeln.«
»Zu welchem Doktor?«
»Doktor …«, Griff überlegte kurz, »Kilvore. Seine Lordschaft ist ein brillanter Chemiker. Ich bin – ich bin ein Waisenjunge aus Liverpool.« Griff wusste, dass es das Beste war, sich so eng wie möglich an die Wahrheit anzulehnen. »Meine Eltern sind bei einem Schiffsunglück ertrunken und Lady Artemis hatte Mitleid mit mir. Sie brachte mich zu Kilvore. Das ist vielleicht ein schrulliges altes Knochengerüst! Aber ich habe viel gelernt! Und als ich älter wurde, mischten sie jeden Tag eine Tinktur unter mein Essen. Ja, und so begann die sagenhafte Erschaffung des unsichtbaren Mannes. Meine Erschaffung! Na ja, zuerst wurde ich gelb, dann von Jahr zu Jahr blasser. ›Du wirst ein Gott werden‹, hat Kilvore zu mir gesagt. ›Das ist deine großartige Bestimmung.‹«
»Aber wie ist das möglich?«
»Wie sollte ein kleines Rädchen, wie ich es bin, die genialen Pläne des Doktors erklären können? Er hat alle Farbe aus mir herausgezogen. Erst war ich rosa, dann gelb, dann weiß. Aus allen meinen Organen, allen meinen Zellen. Mein Haar wächst nicht mehr. Nicht einmal ein Backenbart. Verstehst du, wie Augen funktionieren? Worauf die Seefähigkeit beruht?«
»I-ich denke schon. Sie absorbieren Licht.«
»Ja! Genau! Das Licht, das von Gegenständen reflektiert wird und uns Farbe verleiht. Farbe reflektiert Licht. Siehst du, es ist so simpel. Ich bin farblos. Ich reflektiere kein Licht, deshalb bin ich unsichtbar. Knochen. Fleisch. Blut, Nägel, Nerven. Alles ist unsichtbar wie Wasserstoff. Natürlich kann ich mich nicht wie Luft bewegen.« Erneut entfuhr ihm ein schrilles Kichern. Ach, das ist ein großer Spaß, dachte Griff. Ich hätte mich schon viel früher zu erkennen geben sollen.
»Das ergibt einen gewissen Sinn«, erwiderte Modo.
»Natürlich tut es das, alter Junge. Der Witz ist – ich bin nackt. Das ist der Preis, den ich für die Unsichtbarkeit zu zahlen habe.«
»Nackt?«
»Kleidung würde man sehen. Ich sage dir, auf diesem Schiff, der Hugo, war es bitterkalt. Aber der alte Knochenbrecher hat mich abgehärtet. Er hat mich immer wieder in einen Eisraum gestellt, bis mein Blut langsamer floss und ich unempfindlich gegen Kälte wurde. Nun ja, so gut wie unempfindlich. Ich benötige nach wie vor etwas Wärme.« Griff strich sich mit der Hand über das Gesicht. »Ich habe mich seit fünf Jahren nicht mehr gesehen. Ich vergesse, wie ich aussehe. Ist das nicht lustig? Oh …« Er schwieg einen Augenblick. »Ich nehme an, du würdest dein Aussehen ganz gern vergessen.«
Griff genoss es, Wut und Scham in Modos Gesicht aufblitzen zu sehen. »Das könnte mir nie passieren.«
»Wer könnte so eine Visage auch vergessen. Ach, sei nicht beleidigt, Modo. Vielleicht sehe ich eines Tages so grauenhaft aus wie du. Wer weiß?«
Es klopfte an der Tür. »Mr Warkin.« Das war Colette. »Ich bringe Ihnen etwas zu essen. Wie fühlen Sie sich?«
»Sch-schon viel besser.«
»Ich habe Sie sprechen gehört.«
»Ich habe Gedichte rezitiert. Das tue ich immer, wenn ich krank bin. Meine Gouvernante hat mich das gelehrt.«
»Hi-hii, nicht schlecht!«, flüsterte Griff.
»Was war das?«, wollte Colette wissen.
»Ach, ich habe nur ein Kratzen im Hals«, erwiderte Modo und räusperte sich zur Bekräftigung.
»Würden Sie bitte die Tür öffnen?«
»Ich kann nicht. Bitte stellen Sie das Essen draußen auf dem Boden ab.«
»Die schlitzt dir die Kehle auf, wenn du schläfst«, zischte Griff.
»In Ordnung, Mr Warkin, aber …« Flüsternd fuhr sie fort: »Ich wünschte, du würdest mir erklären, was das für ein Leiden ist, Modo.«
»Das werde ich. Jetzt muss ich mich ausruhen, Colette. Danke, dass du gekommen bist.«
Griff hörte, wie sich die Schritte entfernten. Er öffnete die Tür – der Gang war leer. »Sie ist wirklich weg, diese heimtückische Katze.« Griff hob den Teller hoch, wohl wissend, dass es auf Modo den Eindruck machen musste, als würde der Teller schweben. Er biss herzhaft von dem Brot ab und lachte über Modos fassungslose Miene, als das Brot hinter den unsichtbaren Lippen verschwand. Griff genoss es, dieses Kunststück vorzuführen!
Er hielt Modo den Teller hin. »Hier, du kannst die Algen haben. Die schmecken schlimmer als Fisch!«
Modo nahm den Teller und setzte sich auf die Kommode. »Wie hast du das gemeint – deine Bemerkung über Colette?«
»Ach, dass du ihr nicht vertrauen sollst. Die geht geschickt mit dem Messer um. Ich habe mich in New York an ihre Fersen geheftet und sie auf frischer Tat ertappt, als sie einem unserer Agenten, einem Mann namens Matthew Wyle, ein Messer in den Rücken gerammt hat. Sie hat zugesehen, wie er gestorben ist. Glaub mir, die ist eiskalt.«
»Das hast du gesehen?«
»Mit eigenen Augen.« Er ist die Marionette und ich ziehe die Fäden, dachte Griff.
»D-das glaube ich nicht.«
»Sie ist sehr gut ausgebildet. Glaubst du etwa, ihr ist es mit Nettigkeit gelungen, zur französischen Spitzenagentin aufzusteigen? Du bist ein liebeskranker Ochse!«
»Bin ich nicht! Warum hast du sie nicht daran gehindert?«
»Es ging zu schnell. Sie hat ihm das Stilett zwischen die Rippen gerammt, direkt ins Herz. Ein perfekter Stich. Ich habe es aus einiger Entfernung gesehen und versucht, Wyle zu retten, aber ich trug ja keine Kleidung, mit der ich die Blutung hätte stillen können. Er ist in meinen Armen gestorben, ohne überhaupt zu wissen, wer ihn da hielt. Ich glaube nicht, dass das ihr erster Mord war.«
»Aber das ist ja schrecklich!«
»Das gehört nun mal zu unserem Metier, was, Modo? Die Frau ist einsame Klasse, keine Frage. Aber da ich unsichtbar bin, kann ich sehen, was in den Köpfen der anderen vor sich geht.« Griff ließ das erst einmal sacken. Würde der Dummkopf ihm das tatsächlich abkaufen? »Wie dem auch sei, Modo, unsere Auftraggeber müssen von dem Unterseeschiff erfahren. Was hast du auf deinem kleinen Ausflug erlebt?«
»Ich habe …« Modo unterbrach sich.
Griff rieb sich die Hände. Das war der eigentliche Test. Würde Modo ihm Geheimnisse preisgeben?
»Raus damit! Was hast du gesehen, das für Mr Socrates von Bedeutung wäre?«
»Die Anfänge einer Unterwasserstadt. Sie nennen sie Neu-Barcelona. Es war … es war einfach atemberaubend.«
»Eine Stadt. Dann ist die griesgrämige Kapitänin also nicht verrückt. So, so, schön. Unsere Dienstherren müssen davon erfahren.« Griff nahm die beiden Teile des Telegrafen. »Du reparierst das wieder. Es tut mir leid. Ich war wütend. Ich werde zornig, wenn die Dinge nicht so laufen, wie ich es mir vorstelle.«
»Und was tun wir, wenn die Nachricht nicht durchgeht?«
»Das liegt doch auf der Hand, Modo. Wir töten Kapitänin Monturiol und übernehmen die Kontrolle über das Schiff.«