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Eine wandelnde Wunde
Modo spuckte Salzwasser aus. Griff konnte er natürlich nicht sehen, aber ein anderer Anblick beunruhigte ihn. Durch die offene Tür sah er, dass Flammen an dem Mobiliar aus Holz züngelten und zwei Vorhänge brannten. Wie weit hatte sich das Feuer schon in Neu-Barcelona ausgebreitet? Und neben ihm lag Colette, ihr Körper reglos wie eine Puppe. Gerade als Modo nachsehen wollte, ob sie atmete, schlug sein Kopf auf dem Boden auf.
»Ihr habt Glück gehabt, dass ich das Licht eures Fahrzeugs gesehen und eure missliche Lage erkannt habe. Ja, ihr habt Glück gehabt«, kreischte Griff. Wieder knallte er Modos Kopf auf den Boden. »Wo ist die wahnsinnige Kapitänin?«
»Sie ist mit der Ictíneo untergegangen«, stöhnte Modo unter Schmerzen.
»Gut! Gut! Das ist gut!« Bei jedem Ausruf hämmerte Griff Modos Kopf fester auf den Boden.
»Sie hat die Lindwurm und die gesamte Besatzung mitgerissen.«
»Du lügst! Das Schiff ist unsinkbar!«
»Na ja, jetzt liegt es auf dem Meeresgrund.«
»Lügner!« Griff schmetterte seinen Kopf erneut nach unten.
Um Modo herum wurde es schwarz und mit jedem Schlag sprühten Funken vor seinen Augen. Aber er war zu erschöpft, um den Arm zur Abwehr zu heben. »Beide Schiffe sind untergegangen«, sagte er stöhnend. Das schien Griff für einige Sekunden mundtot zu machen. Modo nutzte den Augenblick, um Colette einen Blick zuzuwerfen. Sie hatte sich immer noch nicht gerührt.
»Ich will keine schlechten Nachrichten hören!«, zischte Griff. »Ich bin Unsichtbarer Mann der Erste!«
Modo spürte, wie er ein Stück über den Boden gezerrt und dann auf den Rücken geworfen wurde. Unsichtbare Hände packten ihn an der Gurgel.
»Nimm deine Lügen zurück!«
Modo hob eine Hand, doch Griff schlug sie weg und würgte ihn weiter.
»Dein Gesicht wird immer hässlicher, Modo. Hast du es dieser Colette gezeigt? Nein? Wie die wohl kreischen würde bei dem Anblick, hä? Aber keine Sorge, wenn ich mit dir fertig bin, schlitze ich ihr die Kehle auf. Sie wird dich nicht mehr sehen.«
Modo versuchte, etwas zu sagen, aber brachte nur ein Gurgeln hervor.
»Vielleicht habt ihr die Lindwurm versenkt, aber Miss Hakkandottir hat einen Ballon und sie wird mich holen«, verkündete Griff. »Ich bin Unsichtbarer Mann der Erste. Sie lässt mich nicht im Stich! Niemals!«
Er ohrfeigte Modo. »Ach, wenn du nur mein Gesicht sehen könntest, du hässliche Missgeburt. Hi-hiii! Ich lächle nämlich. Oh ja! Ich – Arrrg!«
Modos Sicht wurde ein wenig klarer. Griffs Hände hatten sich von seinem Hals gelöst.
»Du französische Hexe! Ahhg!«
Modo hob mühsam den Kopf. Colette war auf allen vieren und schwang in einer Hand ihr Stilett. Blut sprudelte aus dem Nichts auf den Boden. Eine Wunde bewegte sich durch den Raum, schoss hierhin und dorthin. Colette holte nochmals aus und stach erneut auf Griff ein.
»Aaahch!«, schrie Griff auf. Zwei rote Wunden machten einen Satz zurück. »Du kannst mich nicht sehen! Du kannst mich nicht verletzen!«
»Ich habe es gerade getan!«, fauchte Colette und hustete bei jedem Wort. »Und jetzt sehen wir dich.«
Modo kam auf die Beine. Sein Kopf hämmerte und er taumelte zur Seite. Er streckte die Arme aus und warf sich auf die Stelle, wo er das Blut spritzen sah. Seine Hände griffen ins Leere.
»Ich werde euch beide töten!« Plötzlich war kein Blut mehr zu sehen. Modo hörte jemanden platschend mit schnellen Schritten davonrennen – und dann Griffs leiser werdende Stimme: »Wenn ihr schlaft, schlitze ich euch auf wie Fische!«
Modo half Colette, aufzustehen. Er war so glücklich, dass sie lebte. Am liebsten hätte er sie umarmt, doch stattdessen fragte er: »Woher hast du das Messer?«
»›Habe immer ein Messer bei dir.‹ Das hat mein Vater mir eingeschärft.«
»Griff wird versuchen, aus Neu-Barcelona zu entkommen«, sagte Modo. »Wo sind bloß all die Icarier? Ich fürchte, er …«
»Hoffen wir, dass sie irgendwie an die Wasseroberfläche gelangt sind«, sagte Colette. »Wir müssen zu dem unterirdischen Hafen. Die Filomena ist unsere einzige Chance, um von hier wegzukommen.«
Sie stolperten, so schnell sie konnten, durch den angrenzenden Raum. In der hinteren Ecke schlugen Flammen hoch, verschlangen Gemälde, Stühle und Tische. Die icarische Flagge war bereits zu Asche verbrannt. Irgendwo in der Ferne hörte Modo Griff herumbrüllen. Doch der Hall machte es schwierig, die genaue Richtung zu orten.
»Er ist übergeschnappt!«, sagte Modo. »Er brennt die Stadt nieder.«
Sie hasteten in die Hafenbucht und stellten erleichtert fest, dass die Filomena noch am Kai vertäut lag. Die Luke stand offen. Die Grotte wirkte ausgestorben.
»Keine Blutspur auf dem Boden«, bemerkte Colette.
Ein gedämpfter Schrei ließ Modo aufhorchen. Dann war ein leises Stimmengewirr nicht weit entfernt hinter einer Tür zu hören. Modo und Colette schlichen näher heran und klopften an die Metalltür. »Wer ist da?«
»Wer ist da draußen?«, fragte eine Stimme, die einem jungen Mann zu gehören schien.
»Colette Brunet«, erwiderte Colette. »Und Modo.«
»Ich bin Genosse Garay«, antwortete der junge Mann. »Lassen Sie uns raus! Ist die Kapitänin Monturiol bei Ihnen?«
Modo hob den Riegel an und die Tür öffnete sich. Genosse Garay blutete aus einer Schnittwunde über dem Auge und seinen rechten Arm trug er in einer Schlinge. Hinter ihm standen die Frauen, Kinder und alten Männer, die Modo bei ihren letzten Besuchen schon gesehen hatte.
»Dieses – dieses Ding hat uns hierher gejagt«, sagte Garay. »Wir konnten es nicht sehen, aber es hat mir den Arm gebrochen.«
»Fürs Erste sind Sie in Sicherheit«, erklärte Modo. »Kommen Sie raus! Kommen Sie!«
Modo teilte der Gruppe mit, dass Kapitänin Monturiol ihnen den Befehl gab, zu fliehen, und erklärte, so gut er konnte, was mit ihr und Cerdà geschehen war. Die Icarier ertrugen stoisch die Nachricht, dass ihre Kapitänin und Cerdà tot und viele ihrer Genossen mit der Lindwurm untergegangen waren.
»Wir haben jetzt keine Zeit für weitere Erklärungen«, sagte Colette eindringlich. Sie griff nach der Hand eines Kinds und führte die Gruppe zur Filomena. Modo hielt dabei Augen und Ohren offen nach einem verräterischen Hinweis auf Griff. Gemeinsam halfen sie den Frauen, den kleinen Kindern und älteren Leuten beim Einsteigen und ermahnten sie, sich so eng wie möglich an die Seitenwände zu stellen. Garay kletterte als Letzter durch die Luke und verzog das Gesicht, als er sich den Arm anstieß.
Nun blieb gerade noch Platz für eine weitere Person. »Du fährst«, sagte Modo zu Colette. »Ich bin zu groß. Mir wird schon etwas einfallen, um zu fliehen.«
»Damit du allein der Held von Icaria wirst? Kommt nicht infrage!«
Modo seufzte entnervt. »Fahren Sie!«, befahl er dem Genossen Garay. Er wollte keine Zeit damit verschwenden, sich mit Colette zu streiten. »Sie wissen, wie man das Schiff steuert. Fahren Sie, so schnell Sie können, zur isländischen Küste.«
»Wir haben Sympathisanten in Island«, sagte Garay. »Dort können wir Vorräte aufnehmen.«
»Dann verlieren Sie keine Zeit. Falls Sie auftauchen müssen, zögern Sie es so lange wie möglich hinaus. Je weiter sie von hier entfernt sind, desto besser. Unsere Feinde verfügen vielleicht noch über weitere Schiffe.«
»Danke«, erwiderte Garay. »Wir danken Ihnen beiden. Wir werden Sie nicht vergessen.«
»Lang lebe Icaria!«, rief Modo aus und spürte einen Kloß im Hals.
Genosse Garay salutierte und Modo schloss die Luke von außen. Langsam entfernte sich die Filomena vom Kai und tauchte ab.