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In dunklen Tiefen
Sobald alle an Bord waren, verriegelte Modo die Luke der Ictíneo mit dem Drehgriff.
»Schnell!«, befahl die Kapitänin. »Cerdà, bringen Sie Modo in den Ausguck – er wird uns lotsen.« Sie klopfte Modo auf die Schulter. »Sie halten Ausschau nach Hindernissen. Über ein Sprachrohr können Sie mit der Brücke kommunizieren.«
»Und ich?«, fragte Colette.
»Sie haben sich bei der Bedienung der Ballasttanks gut geschlagen – Sie sind jetzt offiziell eine Kontrolloffizierin.«
Cerdà brachte Modo zum Bug der Ictíneo. »Normalerweise befindet sich der Ausguck doch an der höchsten Stelle des Schiffes, oder?«, fragte Modo.
»Richtig. Aber auf unserem Unterseeschiff befindet er sich im Bug. Doch er erfüllt denselben Zweck wie auf jedem anderen Schiff: Man hat von dort freie Sicht nach oben, unten und nach beiden Seiten. Sie werden in der Lage sein, sehr viel mehr zu erkennen, als die Kapitänin mit ihrem Periskop.«
Cerdà öffnete die verriegelbare Tür und ließ Modo in den engen, kleinen Ausguckraum eintreten. Ringsherum befanden sich große Bullaugen, sodass Modo sich wie im Auge eines Insekts fühlte. Ein Scheinwerfer draußen am Bug strahlte die unter Wasser liegende Wand der künstlichen Bucht an. Vor den Bullaugen war ein Sitz mit mehreren Gurten aufgehängt. Er sah aus wie das Werk einer schlauen Spinne.
»Nehmen Sie Platz!«, bat Cerdà. Modo setzte sich und Cerdà begann, ihn anzuschnallen. »Die Gurte sorgen dafür, dass Sie nicht umhergeschleudert werden, wenn wir unseren Feind rammen.«
Modo verursachte das Gefühl, festgeschnallt zu sein, Unbehagen.
»Von hier aus haben Sie einen hervorragenden Ausblick nach draußen. Sollten Sie ein Hindernis ausmachen, öffnen Sie mit diesem Kippschalter das Absperrventil und informieren uns durch das Sprachrohr.«
Das Sprachrohr war zur Linken Modos aufgehängt und endete in einem glockenförmigen Mundstück. »Verstanden.«
»Es ist wichtig, dass Sie am Ende des Gesprächs das Ventil wieder schließen, insbesondere, wenn wir im Begriff sind ein Schiff zu rammen.«
»Und warum?«
»Falls diese Kammer geflutet wird, soll durch die Rohrleitung kein Wasser in die übrigen Bereiche der Ictíneo vordringen.«
»Oh ja, das ist einleuchtend.« Modo bemühte sich, so beherrscht wie möglich zu antworten, aber er hatte seine Stimme nicht im Griff.
»Machen Sie sich keine Sorgen, mein Freund«, beruhigte ihn Cerdà. »Das ist ein robustes Schiff. Und vergessen Sie nicht: Sie sind die Augen der Ictíneo.« Er ging zur Tür. Während er sie hinter sich zuzog, sagte er: »Es tut mir leid, aber diese Tür muss geschlossen sein. Sie sind sehr mutig.«
»Danke«, erwiderte Modo, doch da war die Tür schon ins Schloss gefallen.
Modo hatte sich keine Gedanken darüber gemacht, wie die Sichtfenster die Kollision mit der Lindwurm überstehen würden. Und welchen Schaden würde wohl dieser explodierende Morgenstern anrichten?
»Äh, alles klar«, murmelte er in das Sprachrohr. Dann öffnete er das Ventil ein zweites Mal: »Modo hier. Im Ausguck ist alles klar.«
»Danke, Navigator.« Die Stimme der Kapitänin kam aus einem anderen Rohr, das über ihm baumelte. »Bitte informieren Sie mich nur im Falle eines Hindernisses. Ich kenne dieses Areal sehr gut.«
Sie verließen die Bucht und schossen über das Plateau dahin. Modo hielt die Augen weit geöffnet. Doch egal, wie angestrengt er nach oben starrte, er konnte nirgends den Rumpf der Lindwurm ausmachen.
»Sollten wir die Außenlampen nicht abschalten?«, fragte er.
»Nein, wir wollen, dass sie uns folgen«, sagte Monturiol. »Wir müssten bald das Ende des Plateaus erreichen, Modo. Bitte geben Sie mir Bescheid, sobald wir die Kante passiert haben.«
Modo beobachtete, wie unter ihnen der Boden in eine Meeresschlucht von unvorstellbarer Tiefe abfiel. »Das Plateau liegt hinter uns.«
»Sie überblicken jetzt das Tal von Clavé.« Ihre Stimme klang sehr ruhig.
Modo warf einen Blick nach oben und erahnte einen dunklen Schatten. Er war sich unsicher, ob ihm seine Augen nur einen Streich spielten. »Ich glaube, die Lindwurm ist über uns, fünfundvierzig Grad steuerbord.«
»Gute Augen!«
Die Kapitänin musste die Ausrichtung der Lampen verstellt haben, denn jetzt strahlten sie direkt den Rumpf des anderen Schiffes an. Und das setzte sich in Bewegung.
»Sie folgen uns!«, rief Modo.
»Danke, Modo«, sagte Monturiol. Sie hatte anscheinend das Sprachrohr auf der Brücke offen gelassen, denn er hörte ihre Befehle an Colette. »Füllen Sie den vorderen Ballasttank auf zwanzig Prozent. Wir setzen zum Tiefergehen an.«
Der Bug der Ictíneo senkte sich und deutete jetzt in Richtung Grund. Die Schiffsschraube trieb sie vorwärts, während die Ballasttanks sich mit Wasser füllten. Im Schein der Wasserstofflampen war der Rammsporn zu sehen. Bei den roten Verkrustungen auf seiner Oberfläche handelte es sich bestimmt nur um Rankenfüßer, aber sie sahen aus wie Blut. Und Icarias Morgenstern wirkte wie eine Faust, die den Sporn umklammerte.
Modo schaute angestrengt weiter in die Ferne. Kein Felsen, kein sandiger Boden war unter ihnen zu erahnen. Gelegentlich sah er Fische mit großen, hervorstehenden Augen und flachen Körpern, als hätte der Wasserdruck sie geformt, ansonsten herrschte ringsherum nichts als weite, leere Dunkelheit. Er warf einen Blick auf den Druckmesser. Er zeigte achtundzwanzig Atmosphären an. Modo berechnete, dass sie sich somit nahezu dreihundert Yards unter der Wasseroberfläche befanden. Er konnte das nicht exakt in Meter umrechnen, vermutete aber, dass es ungefähr dieselbe Zahl war. Was hatte die Kapitänin gesagt? Für welche Tiefe war das Schiff ausgelegt – tausend Meter? Das war die Zerstörungstiefe. Sie beruhte aber sicher auch nur auf theoretischen Berechnungen. Er musterte prüfend die Bullaugen. Wie weit konnten sie noch in die Tiefe vorstoßen, bevor das Glas riss?
Monturiol und Cerdà hatten das Schiff mit großem Sachverstand konstruiert, beruhigte er sich selbst. Und wahrscheinlich waren sie damit schon sehr viel tiefer getaucht.
Je weiter die Ictíneo in die Dunkelheit vordrang, desto stärker wirkte der Druck auf sie. Das Schiff begann zu ächzen, als wollte es seine Besatzung vor der Gefahr warnen.
»Wir sind ungefähr dreihundert Meter tief«, sagte Modo in das Sprachrohr.
»Ich kenne unsere exakte Tiefe, Modo«, erwiderte Kapitänin Monturiol. »Die Ictíneo wird dem Druck standhalten, wenn es das ist, weshalb Sie sich sorgen.«
Modo verschloss das Sprachrohr. »Genau das ist meine Sorge«, flüsterte er. Mit einem Taschentuch wischte er sich über die Augen. Gerade als er es in die Tasche zurücksteckte, tauchte eine dunkle, felsige Silhouette im mittleren Sichtfenster auf, die aus dem Meeresgrund herausragte.
»Hart rechts. Hart rechts!«, brüllte er, aber er hatte das Ventil des Sprachrohrs nicht geöffnet. Hastig legte er den Schalter um. »Hart rechts! Steuerbord! Hindernis direkt voraus!«
Sofort drehte die Ictíneo nach rechts. Cerdà hatte blitzschnell reagiert. Der Rammsporn verfehlte die Felsen nur um Zentimeter, aber der Kiel hatte weniger Glück. Die plötzliche Erschütterung schleuderte Modo gegen die Gurte. Die Ictíneo schrammte über die Spitze des Unterwasserberges und trudelte abwärts.
Modo starrte aus dem Hauptfenster. Der Lichtkegel der Außenlampe fegte hin und her, während man auf der Brücke versuchte, das Schiff wieder unter Kontrolle zu bringen. »Entwarnung! Alles klar!«, sagte er, um auch etwas beizutragen. Er warf erneut einen Blick auf die Druckanzeige: einundfünfzig Atmosphären. Sie mussten zwischen fünfhundertfünfzig und sechshundert Yards tief sein, berechnete er. Der Schiffskörper stöhnte, als wäre er ein lebendiges Wesen, als würde ein Riese ihn mit beiden Händen zusammendrücken.
Wo war der Meeresboden?, fragte er sich. Wo? Wie tief ging es noch hinunter? Er war darauf gefasst, ihn jeden Augenblick auf sich zurasen zu sehen. Die Ictíneo machte eine halbe Drehung im Uhrzeigersinn um die eigene Achse, dann rotierte sie in die entgegengesetzte Richtung zurück.
Das Glas würde als Erstes nachgeben, da war sich Modo sicher. Und was dann? Würde er es schaffen, rechtzeitig aus der Kabine zu fliehen? Oder würde ihn die Wucht der Wassermassen zerquetschen? Er blickte ratlos auf all die Gurte hinunter. Plötzlich schoss ein Bolzen, vielleicht weil er rostig oder lose war, durch den Raum und Wasser spritzte aus dem Loch.
Er dachte an Octavia, wünschte, er hätte nicht mit ihr über Shakespeare gestritten. Und dann: Ich hätte ihr mein Gesicht zeigen sollen!
»Die Ballasttanks sind leer.« Die Stimme von Colette schwebte über ihm durch den Raum.
»Ein Leck im Ausguck! Wasser dringt ein!«, rief Modo.
»Beruhigen Sie sich!«, befahl die Kapitänin. »Wie schlimm ist es?«
»Äh … ähm, ich würde sagen, einige Gallonen pro Minute.«
»Informieren Sie uns, falls es schlimmer wird.«
Unversehens zeichneten sich in der Dunkelheit vor ihm schemenhafte Umrisse ab. »Hindernis direkt voraus!«, brüllte Modo. »Das … Ich denke, das ist der Boden der Schlucht!«
»Dann wappnen Sie sich für den Aufprall. Ich verlagere den Schwerpunkt.«
Ein lauter, dumpfer Schlag war zu hören. Das Unterseeschiff pendelte in die Horizontale, als hätte sich sein gesamtes Gewicht ans Heck verlagert, dann schwenkte es weiter, sodass der Bug jetzt nach oben zeigte. Modo glaubte kurz an ein Wunder, bis er begriff, dass das Schiff nichtsdestotrotz mit unverminderter Geschwindigkeit in die Tiefe stürzte.
Eine Sekunde später erfolgte der Aufprall.