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Die gute Tat

 

Ingrid Hakkandottir spürte einen Schmerz in ihrer metallischen Handfläche. Sie lachte in sich hinein. Wie viele Jahre war es jetzt her, dass Mr Socrates ihr die echte Hand mit seinem Säbel abgehackt hatte? Fünfzehn Jahre? Sechzehn? Damals hieß er Alan Reeve und trug noch keinen dieser fantasievollen Decknamen.

Doch egal, wie viel Zeit vergangen war, der Geist ihrer alten Hand hatte noch immer Empfindungen: Kälte. Jucken. Schmerz. Und manchmal erahnte er sogar die Zukunft. Vor einigen Jahren in Ägypten hatte sie einen Schmerz gespürt und war aus ihrem Zelt getreten – nur Sekunden bevor es von einem Kanonengeschoss zerstört wurde. Dr. Hyde hatte darüber gelacht und erklärt, es widerspreche der Logik, diese beiden Ereignisse miteinander zu verknüpfen. Die Hand hatte schließlich auch schon viele Male ohne jeden Grund wehgetan. Trotzdem reagierte Miss Hakkandottir jetzt auf diesen Schmerz. Sie verließ ihre Kabine und ging hinauf aufs Deck. Am schwarzen Nachthimmel funkelten Sterne und der Vollmond verbreitete seinen hellen Schein. Es war weit nach Mitternacht. Sie hatten die Ictíneo vor über einer Stunde gesichtet und dann in den Tiefen aus den Augen verloren. Seitdem fuhr die Lindwurm im Kreis. In Beibooten saßen Gilde-Ingenieure und hielten nach einem Hinweis auf den Feind Ausschau.

Aber etwas stimmte nicht. Ingrid Hakkandottir blickte auf Hecuba, eine ihrer beiden Hündinnen, hinunter und flüsterte: »Such Griff. Wenn er irgendwo hier an Bord ist, dann finde ihn!« Grace, die andere Hündin, verharrte neben ihr. Sie war bereits zuvor auf die Suche geschickt worden und hatte keinen Erfolg gehabt. Vielleicht verfügte Hecuba über eine bessere Nase. Wo steckte der Junge bloß?

Von unten war ein Schrei zu hören. Miss Hakkandottir lehnte sich über die Reling, einer der Ingenieure an Bord eines Beiboots machte eine warnende Handbewegung. Einen Augenblick später heulte die Sirene auf. Soldaten sprangen aus ihren Kojen und rannten mit Gewehren über das Deck.

»Was ist da?«, brüllte sie. Der Ingenieur taumelte zurück und schrie etwas, aber seine Worte erreichten sie nicht. Die anderen Ingenieure kletterten bereits an Tauen zurück auf die Lindwurm.

Und da sah Hakkandottir das Licht – wie ein Komet kam es aus der Tiefe des Meeres auf sie zugeschossen. »Maschinen, volle Kraft voraus!«, schrie sie in Richtung Brücke, aber sie wusste, dass es zu spät war. Die Lindwurm wurde eine Sekunde lang aus dem Wasser gehoben, als ob eine riesenhafte Hand sie von unten gestoßen hätte. Miss Hakkandottir wurde in die Luft geschleudert und fiel dann zurück auf das Deck. Den Aufprall milderte sie mit ihrer Metallhand ab.

»Du Närrin«, zischte sie, »daran hast du im Traum nicht gedacht!« Sie hatte selbstgefällig darauf vertraut, dass das Kriegsschiff jedem Angriff von der Seite standhalten würde, aber sie hatte nicht damit gerechnet, dass die Feinde ihr eigenes Leben und ihr Unterseeboot riskieren würden, um die Lindwurm von unten zu attackieren.

Sie rannte auf die Brücke und stieß die Offiziere aus dem Weg. Aus allen Sprachrohren ertönten Signale und sie öffnete hastig eines der Ventile. »Hakkandottir hier. Machen Sie Meldung!«

»Der Maschinenraum ist geflutet, Admiralin. Wi-wir sind nicht in der Lage, den Raum abzuschotten.«

»Dann machen Sie den nächsten Abschnitt dicht. Sofort!«

»Aber der Schaden ist …« – der Mann atmete schwer und das platschende Geräusch von Wasser hallte durch das Rohr – »… gewaltig. Ich fürchte, das Wasser … Wir…«

Sie hörte nur noch ein Gurgeln. »Ich muss wissen, wie viele Räume geflutet sind!«, brüllte sie die Offiziere auf der Brücke an.

Keiner antwortete. Die Sprachrohre verstummten. Sie deutete auf einen Leutnant. »Gehen Sie nach unten. Sofort! Und erstatten Sie mir Bericht!«

Er salutierte und rannte los. Eine weitere heftige Erschütterung erfasste das Schiff und eine Druckwelle sprengte sämtliche Ventile der Sprachrohre ab. Eine Explosion! War die Maschine in die Luft geflogen?

»Und lassen Sie sich besser etwas einfallen, wie wir das Schiff retten können!«, fuhr sie die übrigen Offiziere an.

»Zu Befehl«, erwiderte Kommodore Truro.

Plötzlich neigte sich das Schiff und ein metallisches Ächzen war zu hören. Miss Hakkandottir wusste, was das Geräusch bedeutete. Sie waren im Innersten getroffen worden. Sie schnappte sich den Piloten des Ballons. »Bereiten Sie die Ätna vor. Und sollte irgendein Unbefugter versuchen, an Bord zu gehen, erschießen Sie ihn.« Sie stieß den Piloten zur Tür hinaus und deutete dann auf den Kommodore und den Wundarzt. »Sie beide begleiten ihn.« Die Männer eilten dem Piloten nach. »Der Rest sorgt dafür, die Lindwurm so lange wie möglich flott zu halten.«

Sie stieß die Tür mit dem Fuß auf, sodass eines der Scharniere absprang, und marschierte mit großen Schritten über das Deck. Das Schiff war zu einer rasch sinkenden Festung geworden. In alle Richtungen hasteten Gilde-Soldaten durch die Dunkelheit. Es gab nur wenige Rettungsboote, das wusste Hakkandottir. Ein Kriegsschiff wie dieses, bis ins kleinste Detail vom Gildemeister durchdacht, würde nie ein Rettungsboot benötigen. Wer hätte es schon für möglich gehalten, dass etwas seinen Rumpf so tief durchstoßen und es zum Sinken bringen könnte?

Miss Hakkandottir eilte auf den Ballon zu. Der Gildemeister würde unzufrieden sein, vielleicht mörderisch unzufrieden. Grace trabte dicht hinter ihr her, aber Hecuba war noch nicht zurückgekehrt. Als sie mittschiffs angelangt war und einen Geschützturm umrundet hatte, blieb sie wie angewurzelt stehen. Sie packte die Hündin am Halsband.

Vor ihr standen dicht gedrängt und mit weit aufgerissenen Augen die Icarier. Einige trugen Metallstangen und andere behelfsmäßige Waffen. Sie hatten sich befreit!

»Das ist die Kapitänin!«, rief eine breitschultrige Frau und hob ein schartiges Stück Metall. »Wo ist Monturiol?«

Grace zerrte am Halsband und wollte angreifen, aber Miss Hakkandottir lockerte ihren Griff nicht. »Ihr seid ein sehr hartnäckiger Haufen.«

»Wo ist sie?«, polterte ein Icarier. »Lassen Sie sie frei!«

»Eure Kapitänin ist schon vor mehreren Stunden entkommen. Sie hat die Lindwurm mit eurem Unterseeschiff in den Kiel gerammt. Ihr erkennt doch sicher, dass das ihr Werk ist.«

»Das ist nicht wahr!«, schrie die Frau. »Das ist eine Lüge!«

»Eure Kapitänin hat euch im Stich gelassen«, sagte Hakkandottir.

Mehrere Icarier blickten sich ängstlich um und Hakkandottir erkannte, dass sie keine wirklichen Soldaten waren. Ohne Monturiol fehlte der Gruppe jegliche Kommandostruktur.

»Unsere Kapitänin hat entschieden, was das Beste für Icaria ist«, sagte die breitschultrige Frau. »Wir haben einen Eid geschworen.«

»Das mag schon sein. Aber jetzt steht ihr vor einer Entscheidung. Ein paar von euch überleben vielleicht, wenn ihr von diesem Schiff runterkommt. Hinter mir befinden sich Rettungsboote.« Es waren vierundzwanzig Gefangene und es gab bei Weitem nicht genug Boote. »Wenn ihr weiter Zeit damit verliert, euch mit mir anzulegen, gelingt euch das nie. Meine Hündin Grace wird euch die Kehlen zerfetzen.«

Die Icarier schwiegen.

»Also«, fuhr Hakkandottir fort, »ihr lasst mich jetzt durch und dann lauft ihr zu den Rettungsbooten. Das ist meine gute Tat für heute. Ihr könnt darum kämpfen, wer von euch überlebt.«

Sie machte einen Schritt vorwärts und die breitschultrige Frau wich ein Stück zurück. Grace fletschte die Zähne und schnappte um sich. Einige weitere Icarier traten beiseite. Hakkandottir ging zwischen ihnen hindurch und warf nicht einmal mehr einen Blick zurück.

Die Ätna wartete am Bug des Schiffes. Der Korb zerrte ungeduldig an den Leinen, mit denen er an der Lindwurm vertäut war. Der Pilot trug jetzt eine Schutzbrille und befeuerte den dampfbetriebenen Motor mit mehr Kohle. Der Kommodore und der Wundarzt zogen den Korb an den Leinen näher heran.

Griff war nicht aufgetaucht und Hecuba nicht zurückgekehrt. Der Junge würde sterben – eine vergeudete Investition. Und sie würde ihn vermissen: Im Laufe der Jahre war er ihr ans Herz gewachsen.

»Hopp, Grace«, befahl Miss Hakkandottir und der Hund sprang in den Korb. Mit seinen vielen metallischen Körperteilen war er so schwer, dass der Korb ein Stückchen in Richtung Deck sackte. Anschließend kletterte Hakkandottir hinein. Sie gab den beiden anderen Männern ein Zeichen, aber der Pilot sagte: »Es ist nur noch Platz für einen Mann, Admiralin, sofern wir den Hund mitnehmen. Ansonsten sind wir zu schwer.«

Sie nickte und deutete auf den Wundarzt. Ein Kommodore war einfach zu ersetzen.

»Zu Befehl, ich verstehe«, sagte Kommodore Truro, während der Arzt in den Korb stieg.

»Der Gildemeister dankt Ihnen für Ihre Dienste«, verkündete Hakkandottir. Dann wurden die Sandsäcke abgeworfen und die Ätna erhob sich in die Lüfte.

Hakkandottir blickte auf die beleuchtete Lindwurm hinunter, beobachtete, wie das Heck des Schiffes langsam sank. Dann hörte sie das Ächzen von Metall und Laute aufkommender Panik.

Es war so ein schönes Schiff gewesen.

Sie würden ein neues bauen. Und eines Tages würde sie das Empire direkt ins Herz treffen.

Die Maschine der Ätna lief mit voller Kraft, die Propeller rotierten und ein kräftiger Wind trug sie in Richtung Süden.