14
Jean und Otto saßen in der Küche. Die Wohnungstür flog auf. Im Entree krachte etwas gegen die Wand. Leise summte Salas Stimme die Melodie des Horst-Wessel-Liedes. Vom Hof fiel die Nachmittagssonne durchs Fenster.
»Die Fahne hoch! Die Reihen fest geschlossen!
SA marschiert mit ruhig festem Schritt
Kam’raden, die Rotfront und Reaktion erschossen,
marschiern im Geist in unsern Reihen mit …«
Sala näherte sich durch den langen Korridor. Sie baute sich vor ihnen auf. Jean sah sie ruhig an.
»Was ist passiert?«
»Wieso? Das wird doch jetzt überall gesungen. Warum soll ich es denn nicht singen?«
»Sala.«
Jean ließ die Schultern hängen. Was sollte er sagen? Das ist abscheulich? Du gehörst nicht dazu? Die wollen dich nicht? Er gehörte ja selber nicht dazu. Sein Leben wurde täglich gefährlicher, aber er kannte es nicht anders, er hatte sich mit der Zeit daran gewöhnt. Ihm war nichts Besseres eingefallen, als seine Tochter von dieser Welt fernzuhalten, mit ihr ins Konzert zu gehen, ins Theater oder ins Museum. Immer hatte er gedacht, den Schmerz, den Verlust durch Schönheit heilen zu können, ihr die graue kleinbürgerliche Normalität und ihren Wettlauf in die Barbarei zu ersparen, indem er sie außerhalb dieser Realität aufwachsen ließ. Er sah in ihr trotziges Gesicht.
»Die Straße frei den braunen Bataillonen!
Die Straße frei dem Sturmabteilungsmann!«
»Hör auf, diesen Schwachsinn zu singen!« Otto sprang auf und fasste Sala an den Schultern. Sala stieß ihn von sich und sang mit leuchtenden Augen weiter.
»Es schaun aufs Hakenkreuz voll Hoffnung schon Millionen.
Der Tag für Freiheit und für Brot bricht an.«
Otto blickte Hilfe suchend zu Jean. Salas Stimme sprang triumphierend eine Oktave höher.
»Zum letzten Mal wird Sturmappell geblasen!
Zum Kampfe steh’n wir alle schon bereit.
Schon flattern Hitlerfahnen über allen Straßen,
Die Knechtschaft dauert nur mehr kurze Zeit!«
Keiner bewegte sich. Nur ihr ratloser Atem war zu hören. Langsam kroch ein Lächeln über Jeans Gesicht, dann kicherte er in die Stille hinein.
»Dieses Lied … nein, wirklich, das scheint niemandem aufzufallen.«
Sala beäugte ihren Vater misstrauisch. Mit leichter Stimme begann er, die ersten Takte zu summen. Otto schlug mit der Faust auf den Tisch.
»Singst du jetzt auch diesen Mist?«
»Die Fahne hoch … ta ta ta ta.«
Jean hob eine imaginäre Fahne in die Höhe und wiederholte die ersten Töne.
»Ta ta ta ta! Merkt ihr es nicht? Die Fahne soll nach oben gerissen werden, aber die Töne fallen nach unten. Ta ta ta ta.«
Er wiederholte es und deutete den Tönen folgend mit der linken Hand nach unten, während er mit der rechten Hand wieder die imaginäre Fahne hisste. Seine Hände flogen rauf und runter, runter und rauf, Jean bog sich vor Lachen, die Tränen liefen an seinen Wangen herunter.
Sie saßen schweigend um den Tisch herum. Otto hielt den Kopf zwischen den Händen, als drohte er zu zerspringen. Im Radio sangen die Comedian Harmonists »Wochenend und Sonnenschein«.
»Verdammte Nieselpisse.«
Otto starrte aus dem Fenster. Auf dem Tisch lag ein Brief. Jean schob ihn behutsam Sala zu.
»Von deiner Mutter.«
Sie nahm das Kuvert ohne Zögern, drehte es ein paarmal, roch daran, dann warf sie es zurück auf den Tisch. Der letzte Brief von Iza war pünktlich zur Machtergreifung Hitlers gekommen. Seitdem hatte Sala nichts mehr von ihrer Mutter gehört. Damals wohnte sie noch in Toledo, dieser Brief kam aus Madrid.
»Nun muss ich ihr wohl auch noch dankbar sein, dass sie mich verlassen hat.«
Ottos finstere Miene schien sie zu amüsieren.
»Na ja, wenn sie bei uns geblieben wäre und mich im mosaaaischen Glauben erzogen hätte« – zum ersten Mal in ihrem Leben zog sie ein Wort ironisch in die Länge – »dann würde ich jetzt als Volljüdin gelten. Volljüdin, das klingt doch nicht schlecht. Fast so gut wie Vollidiotin, oder? Dagegen fällt die Halbjüdin schon ein bisschen ab, findet ihr nicht?«
Sie nahm das Kuvert, hielt kurz inne, riss es auf und kramte den Brief heraus. Distanziert ließ sie ihre Augen über die Zeilen wandern, dann stopfte sie die zwei kurzen Seiten zurück in den Umschlag und warf ihn auf den Küchentisch.
»Wie nett von ihr, sie macht sich Sorgen um uns, besonders um mich. Ob ich nicht lieber zu ihr nach Madrid kommen möchte.« Sie biss sich auf die Lippen. »Ich glaube, da würde ich lieber ins Arbeitslager gehen.«
Jean schaute auf den Brief.
»Lies ruhig.«
Jean beugte sich vor, nahm das dünne Papier aus dem Kuvert, faltete es sorgsam auseinander. Iza warnte in ruhigem, ernsthaftem Ton vor dem, was da noch kommen würde. Ihre Nachricht war an Sachlichkeit nicht zu überbieten. Am Ende, die Einladung, verbunden mit einem Gruß an ihn, indem sie zugleich an seine Vernunft appellierte. Dem war, wie immer, nichts hinzuzufügen.
Sala ging wütend auf und ab, sie bohrte die Fäuste in ihre Hüften, bis sie keine Luft mehr bekam, dann platzte es aus ihr heraus.
»Ich bin nicht jüdisch. Ich will nicht jüdisch sein. Ich will es nicht. Ich – will – nicht. Nicht halb, nicht ganz, nicht gar nicht.« Sie rang nach Luft, ihr Gesicht schwoll rot an. »Was hab ich mit ihr zu tun? Ich hasse sie. Ich hasse sie und ihre ganze Sippschaft. Es ist mir gleich, was aus ihnen wird. Sie sollen mich in Ruhe lassen. Sie sollen verschwinden!« Ihre Stimme überschlug sich. Sie stand jetzt am Fenster. Draußen funkelten die Straßenlampen in den fliehenden Tag. Nicht für sie. Die Straßen, die Bänke, die von Bäumen gesäumten Alleen, mit den Menschen, die ihren Geschäften nachgingen oder nach Ruhe suchten, sie alle wandten sich angewidert von ihr ab. Als wäre sie kein Mensch. Ein Etwas. Ein Ding.
»Ich bin hier aufgewachsen. Ich spreche dieselbe Sprache. Ich denke wie sie. Ich fühle wie sie. Ich gehöre dazu. Ich bin eine Deutsche. Ich bin keine Jüdin.«
Ihre Stimme klang fremd. Sie erkannte ihren eigenen Ton nicht mehr. Redete eine Deutsche so? Hatte sich unbemerkt irgendetwas Jüdisches bei ihr eingeschlichen?
»Habe ich etwas Gehetztes in meinem Ausdruck? In meinen Bewegungen? In meiner Sprache? Schwester Agathe hat mich gestern darauf aufmerksam gemacht. Sie sagte, sie meine es gut mit mir. Nach dem Biologieunterricht hat sie mich zur Seite genommen. Im Unterricht hatte sie mich fortwährend angestarrt. Rassenkunde. Na und? Ich wusste alles. Besser als die andern. Aber sie hat mich trotzdem angestarrt. Ich war immer ihre Lieblingsschülerin, und auf einmal starrt sie mich an, als sei ich über Nacht jemand anders geworden. ›Du bist nicht mehr du selbst, mein Kind‹«, äffte sie Schwester Agathe nach. »Ach ja? Was bin ich denn dann? Ein Elefant?« Sala wandte sich jetzt an ihren Vater. »Du bist deutsch, du hast mich gezeugt. Also ist das hier mein Vaterland. Ich lasse mich nicht einfach vom Hof jagen. Es ist mein Recht, hier zu sein.«
Plötzlich brach sie ab. Sie stand kerzengerade und starr vor ihnen. Warum schwiegen sie? Dachten sie ebenso? Wollten sie sie auch nicht mehr haben?
»Sie haben die Wahrheit umgeschrieben, Sala«, sagte Jean ruhig und trocken.
»Welche Wahrheit denn? Gibt es da eine Auswahl?«
»Damit ist es wohl erst mal vorbei.«
»Aber … die Wahrheit … ist doch … die Wahrheit«, stammelte sie.
»Nein. Das war sie noch nie.«
Sala senkte den Kopf zu Boden.
»Wo soll ich denn hin?«
Jean sah ihr gerade ins Gesicht.
»Und meine Reifeprüfung? Darf ich nicht mal die Schule beenden?« Salas Stimme zitterte. Sie sah ihren Vater flehend an. »Vielleicht überlegen sie es sich ja noch. Ich bin doch wie sie. Ich bin doch nicht anders. Ich bin wie sie.«
»Was nutzt dir das Abitur, wenn du nicht studieren darfst. Nahezu täglich werden Juden abgeholt. Wer weiß, wann die Halbjuden dazukommen. Wenn sie von deiner Liebe zu Otto erfahren, werden sie dich öffentlich demütigen und wegsperren. Euch blüht dann beiden das Zuchthaus.«
Otto hörte schweigend zu. Er wusste von seiner Schwester Inge, dass etwas im Busch war, auch wenn sie nicht mehr offen mit ihm redete, weil sie seine Beziehung zu Sala missbilligte.
»Ich darf also nicht mal lieben, wen ich will.«
»Nein.«
Jean fühlte eine Übelkeit in sich aufsteigen. Wer durfte das schon? Wer konnte es? Ein Schmerz hämmerte gegen seine Schläfen. In Spanien tobte der Bürgerkrieg. Iza war auch anders, anders als er, anders als Sala, anders als sie alle. Sie würde in den bewaffneten Kampf ziehen, falls sie es nicht bereits getan hatte. Sie fürchtete weder Tod noch Teufel. Immer hatte er sie im Stillen dafür bewundert. Warum dachte er jetzt an Iza? Seine Augen gruben sich in Ottos Gesicht. Vielleicht war Otto ihr noch am ähnlichsten. Er kannte auch keine Angst.
Die Sonne war längst untergegangen. Sala öffnete das Fenster. Ein Duft von Nacht und Blumen schlug ihr entgegen. Der Regen ließ nach. Wurde sie verrückt? Worauf wartete sie? Auf Tränen. Niemand sollte Macht über sie erlangen, niemand.
Sie fühlte die Hand ihres Vaters.
»Was ist?«
Sie wusste keine Antwort.
Am nächsten Tag sprach Otto eindringlich auf sie ein.
»Wir müssen vorsichtiger sein.«
»Was ist passiert?«
»Gestern hat mir jemand den Völkischen Beobachter auf mein Bett gelegt. Wahrscheinlich Inge oder Günter, der verfluchte Nazi. Der Titel des aufgeschlagenen Artikels lautete ›Der angeborene Bastardisierungstrieb des Juden‹.«
Sala sah Otto erschrocken an. Dann lachte sie laut auf.
»Was für ein Trieb?«
Otto nahm sie bei der Hand und zog sie auf die Seite. Er flüsterte aufgeregt.
»Das ist kein Scherz, Sala, die meinen es ernst. In manchen Städten haben sie Männern und Frauen, die Rassenschande begangen haben, Schilder um den Hals gehängt und sie wie Schlachtvieh durch die Straßen getrieben.«
»Was für Schilder denn?«
»›Ich bin am Ort das größte Schwein und lass mich nur mit Juden ein.‹« Er sah sie schweigend an. »Das hatten sie einer Frau umgehängt. Daneben stand ein Mann mit einem Schild, auf dem stand: »›Ich nehm als Judenjunge immer nur deutsche Mädchen mit aufs Zimmer.‹«
Sala lachte wieder. »Tja, wir sind das Volk der Dichter und Denker.«
»Sala, die fordern die Todesstrafe.«
Sie machte sich los.
»Zwingt dich ja keiner, meine Hand zu halten.«
»Sala.«
Er nahm sie an den Schultern und erwiderte lange ihren ernsten Blick.