35

Sie saßen in Kreuzberg in der alten Parterrewohnung im dritten Hinterhof. Alle waren gekommen, um die kleine Ada zu bestaunen. Inge war schwanger, Günter hatte abgenommen und sah überraschend manierlich aus, Erna hatte in den Hafen der Ehe gefunden, ihr Paul war ein fleißiger Arbeiter, und Anna thronte zufrieden am Kopfende des Küchentischs, ein Tuch um die Stirn, die Ärmel hochgekrempelt, als hätte sie gerade noch die Trümmer auf der Straße weggeräumt. Nur Karls Platz war leer. Wie traurig hatte Otto geklungen, als er ihr in Leipzig vom Tod seines Stiefvaters erzählt hatte. Sie fasste nach Adas Hand und kämpfte mit den Tränen.

»Mensch, Mensch, Mensch, det is aber ooch ’ne Wolke det kleene Ding, wat sachste, Paule? Wat sachste, da könnte man doch direkt schwach werden, wa?«

Ernas leuchtende Augen wanderten von Ada über Sala hinüber zu Inges kugelrundem Bauch. Paul nickte gutmütig. Er würde alles tun, Hauptsache, seine Erna war glücklich, das hatte er geschworen, und das würde er halten. Auf dem Herd dampfte der Eintopf. Auf der Anrichte dudelte es aus dem Radio der Marke Enigma, das Otto seiner Mutter von seinem ersten selbst verdienten Geld gekauft hatte.

»Schweinefleisch ist teuer,

Ochsenfleisch ist knapp,

gehen wir mal zu Meier,

ob der noch Knochen hat.

Und alle Leute sollen es sehn,

wenn wir bei Meier Schlange stehn,

wie einst Lilli Marleen,

wie einst Lilli Marleen.«

Lilli Marleen, Sala zuckte leicht zusammen, versuchte sich aber nichts anmerken zu lassen. Dann hielt sie es nicht länger aus und prustete los.

»Kinder, nein, das ist ja zum Piiiepen, was die aus dem Lied gemacht haben.«

»Ja, so vergeht die Zeit«, bemerkte Günter trocken. Seine Stimme war flacher geworden. Er schien noch nicht recht zu wissen, wie er sich in dieser neuen Zeit zurechtfinden sollte.

»Habt ihr Nachricht von Otto?«

Alle schüttelten betreten den Kopf.

»Jefallen is er nich, sonst wüssten wa det schon.« Inge fasste nach Günters Hand und legte sie auf ihren schwangeren Bauch.

»Kieck ma, wie er strampelt, der Kleene hat Hunger.«

»Woher weißt du denn, dass es ein Junge wird?«

»Weil meene Kleene so hübsch aussieht, und wenn die Frauen hübsch sin, dann wird det een Stammhalter.«

»Schlecht wär’s nicht«, mischte sich Anna ein, »Nachschub können wir gebrauchen, der Stamm is ja etwas ausgedünnt.«

Dann füllte sie die dünne Suppe in tiefe Teller. Sala suchte vergeblich nach Fettaugen.

»Such ma nach den andan Sender, da, wo die Tanzmusike spielen.« Erna wiegte ihre schmalen Hüften.

»Uff Negermusik kann ick vazichten.« Günter wandte sich angewidert ab. Anna zog seinen Teller weg.

»Auf Eintopf auch?«

Sala beobachtete, wie Günter hungrig den Blick senkte, erst kam das Fressen, dann die Moral. Er war wohl immer noch der alte Nazi, genau wie Inge, die ihre Mutter wütend anstarrte. Sala schmunzelte. Anna hielt das Heft fest in der Hand, wie eh und je.

»So weit sin wa jekommen, det nu die Neger hier mit ihre Musik Einsug halten. Det wirste sehn, wat die aus unsan Vaterland machen. Vaheizn wern se es. Wie damals nachn erstn Weltkriech.«

»Ja, kriech du schön weiter«, sagte Anna und schenkte ihm eine Kelle Suppe ein.

Günter summte leise vor sich hin.

»Was ist des Deutschen Vaterland?

Ist’s Preußenland, ist’s Schwabenland?

Ist’s, wo am Rhein die Rebe blüht?

Ist’s, wo am Belt die Möwe zieht?

Oh nein! nein! nein!

Sein Vaterland muss größer sein.«

Anna sah ihn wütend an. Dann wendete sie sich zu Sala.

»Unkraut vergeht leider nicht.«

»Hör endlich auf, auf meinem Mann rumzuhacken. Immer musst du meckern, immer weißt du alles besser. Der Günter war im Krieg. Was weißt du schon?«

»War aber ’n kurzes Gastspiel«, murmelte Anna.

Sie trug weiter auf, ohne den Blick zu heben. Alle schwiegen. Dass Günter keine Tapferkeitsmedaille von der Front mitgebracht hatte, war eine Tatsache. In die Stille hinein versuchte Sala es noch mal.

»Habt ihr wirklich keine Spur?«

Anna schüttelte den Kopf. Sie schob ihr einen Teller hin. Ihre Augen lagen tief in den Höhlen. Geweint hatte sie schon lange nicht mehr.

Sala war mit Ada in Berlin bei Freunden ihres Vaters untergekommen. Erich Blocher und seine Frau Kläre. Fast den ganzen Krieg über hatte sie ihn zusammen mit drei weiteren Juden auf ihrem Dachboden versteckt. Sie verliebten sich in dieser Zeit. Erich war Maler, nach dem Krieg erlitt er einen schweren Schlaganfall, der ihn an den Rollstuhl fesselte. Kläre heiratete ihn trotzdem. Immer wieder betonte Erich, sein Schlaganfall würde ihn bedeutend härter treffen als die Verfolgung der Juden. Brauchte der Mensch auch, um leiden zu können, sein eigenes, unverwechselbares Schicksal, sein eigenes Leid?

Ada war bereits etwas über zwei Jahre alt. Sala war ganz vernarrt in ihre dunklen Augen, ihre schwarzen Locken. Aber sosehr sie sich bemühte, das Mädchen wollte nicht sprechen. Es brachte kein Wort heraus. Nicht Mama, nicht nein, nicht ja.

»Was willst du? Sie ist zwei Jahre alt. Träumst wohl von einer genialischen Frühbegabung, was?«, sagte Jean am Telefon. Er lachte. Sala hatte ihm den verlorenen Zwilling verschwiegen. Sie versuchte selbst, nicht mehr daran zu denken. Einen Moment starrte sie auf das Telefon. Das neue Gerät hing nicht mehr wie früher an der Wand, es stand auf einem eigens dafür auserkorenen Tischchen, war kleiner, eleganter als sein Vorgängermodell, ein Stimmenfänger aus schwarzem Bakelit, mit einer Schnur, an der Ada lustvoll herumzwirbelte.

Erich stocherte missmutig auf seinem Teller herum. Er schimpfte über die Amerikaner.

»Diese geistlose Mischpoke, die nichts Besseres im Sinn hat, als über ihr Glück nachzudenken. Ihr werdet sehen, wie schnell das zu uns rüberschwappt im Rhythmus ihrer selbstverliebten Tanzmusik.«

»Du bist ja bloß neidisch«, neckte Kläre ihren Mann.

»Nee, neidisch bin ich auf Jean und Dora. Ich weiß gar nicht, warum du in diesem verfluchten Westen leben willst. Merkst du nicht, dass hier alle wieder aus ihren Löchern kriechen? Millionen Juden wurden vergast, aber bitte, wir gehen wieder zur Tagesordnung über, wir krempeln die Ärmel hoch, wir bauen auf, egal wie verrottet das Fundament ist.«

»Was sollen sie denn tun? Sie können ja schlecht das ganze Volk verhaften«, sagte Kläre.

»Doch, alle vor Gericht. Ich will hier weg. Bitte, Kläre, überleg doch mal, das kann nicht gut gehen.«

»Ach Erich, guck dir die kommunistischen Länder an, da gibt’s keine Freiheit.«

»Warst du schon mal da?« Er starrte sie wütend an. »Nein. Also.«

»Was hast du gegen die Amerikaner? Wer hat uns denn befreit?«

»Die Russen.«

Kläre verdrehte die Augen.

»Du bist ein unverbesserlicher Dickkopf.«

Jetzt kam Erich erst richtig in Fahrt. Er schlug mit der flachen Hand auf den Tisch.

»Diese Kaugummi kauenden Affen. Ich ertrage ihr geistloses Geschwätz nicht.«

»Sie drehen tolle Filme, haben tolle Musik …«

»Negermusik.«

»Du bist ein Rassist, Erich, Negermusik, ich glaub, mich tritt ein Pferd, die Schwarzen werden seit Jahrhunderten verfolgt, wie die Juden.«

»Willst du mich jetzt mit einem Neger vergleichen? Und die Filme werden von europäischen Juden gedreht, Billy Wilder, Robert Siodmak, Ernst Lubitsch, Michael Curtiz, da kann ich ewig weiterreden.«

»Ich find die Neger trotzdem schön. Ihre Musik ist genial, so traurig. Mir gefällt’s besser als dieses Klezmer-Gedudel.«

»Schickse.«

Nach dem Abendessen ging Sala zu Bett. Ada schlief schon. Sie kroch erschöpft unter die Decke. Kaum hatte sie das Licht gelöscht, war sie hellwach. Der Schlaf wollte nicht kommen. Sie rechnete und rechnete. Alles war zu teuer. Lebensmittel gab es nur auf Bezugsschein. Auf dem Schwarzmarkt kostete ein Ei 15 Mark, ein Pfund Mehl 35. Kaffee und Kartoffeln waren unerschwinglich. Sie hungerte mehr als in Kriegszeiten, nur in Gurs hatte es noch weniger gegeben. Morgen würde sie versuchen, der französischen Militärregierung ihre Dienste als Übersetzerin anzubieten. Ada wachte auf. Sie fühlte, wie ihr Puls beschleunigte. Schon wieder stieg die Angst in ihr auf. Ada wimmerte. Wahrscheinlich hatte sie Hunger oder Bauchkrämpfe. Warum konnte sie nicht sprechen? Sie war keine gute Mutter. Ihr fehlte die Geduld, immer war sie müde, immerzu müde. Gleich würden die Kopfschmerzen kommen, die Migräne, dann würde sie es hoffentlich noch mit letzter Kraft zur Toilette schaffen, das wenige Essen wieder von sich geben, hinein in die weiß gähnende Schüssel, bis sie keine Luft mehr bekam. Auf dem Boden liegend würde sie warten, bis der Schmerz vorüberging. Wenn nur das Kind nicht anfing zu schreien. Nur darum würde sie Gott bitten, weiter nichts. Sie musste sich jetzt auf ihre Übelkeit konzentrieren, sie musste dagegen ankämpfen, sie verlor zu viel Kraft dabei. Das Wimmern an ihrer Seite wurde lauter. Was sollte sie tun? Was denn noch? Sie gab schon alles, mehr hatte sie nicht. Das kleine Gesicht neben ihr lief rot an. Ada riss den Mund weit auf, ihre Zunge zog sich zitternd zurück. Konnte sie so ersticken? Sala versuchte, sie zu beruhigen, streichelte ihren schwitzenden Kopf. Das Schreien wurde lauter, immer lauter. Panisch drehte sich Sala auf den Bauch, presste ihr Gesicht in das Kissen. Sie versuchte, nicht mehr zu atmen. Ihre Magensäfte schossen hoch. Sala riss sich aus dem Bett, sie stolperte, fiel zu Boden, sprang hoch, zur Toilette, schnell. Beide Hände vor dem Mund stürzte sie ins Bad, riss den Deckel der Kloschüssel hoch und erbrach das mühsam zusammengesparte Essen in einem einzigen Schwall. Im Zimmer war es ruhig. Die Übelkeit verschwunden. Bald würde der Hunger kommen, der Durst, die Angst, größer als in Gurs, ungreifbarer als in Leipzig, als die Bomben fielen, eine Angst, die jede Zelle ihres Köpers durchdringen würde, die sich von innen durch sie hindurcharbeiten würde, ein Gegner, den man nicht niederschreien konnte, nicht fassen, weil er in immer neuer Gestalt wiederkehren würde, gefräßig nach ihr schnappend, nach dem lebendigen Rest, der sich bereits in einen fernen Winkel ihres Wesens zurückgezogen hatte. Das Kind. Sie musste zu ihrem Kind. Sie zog sich am Waschbeckenrand nach oben. Das Gesicht abgewandt vom Spiegel taumelte sie zurück ins Schlafzimmer. Sie mussten hier weg. Weg aus dieser Stadt, aus diesem Land, aus dem niedergebrannten Deutschland, aus dessen Ruinen die Henker und Verräter krochen. Noch sah man sie nicht. Sie gaben sich nicht zu erkennen, warteten auf den rechten Moment, wenn der Wind wieder drehte und ihnen nicht mehr ins Gesicht blies, dann würden sie auf einmal da sein, denn sie waren nie weg gewesen.

Nach dem Frühstück, das Kläre aus den spärlichen Resten des letzten Abendessens gezaubert hatte, ging es Sala wieder besser.

»Warum bist du eigentlich nicht mit deinem Bruder Walter nach Amerika ausgewandert?«

Erich zuckte in seinem Rollstuhl zusammen, als habe ihm jemand einen Stromstoß verpasst.

»Weil ich dieses kapitalistische Pack noch mehr gefürchtet habe als die Nazis. Walter war immer Opportunist. Wenn die Nazis ihn gewollt hätten, wäre er ihnen mit fliegenden Hakenkreuzfahnen in die Arme gelaufen. Auch bei uns Juden gab’s sone und solche.« Er grinste sie unverhohlen an. Sala spürte, wie die Wut langsam in ihr hochkroch.

»Hättest ja nach Russland auswandern können, wenn’s dir da so gefällt. Leider mögen die die Juden auch nicht. So ein Pech.«

»Quatsch kein dummes Zeug. Nichts weißt du von den Russen, gar nichts.« Nach einer kurzen Pause fuhr er fort: »Wenn dein Otto überlebt hat, kannst du nur beten, dass die Russen ihre Gefangenen nicht so misshandeln, wie die Nazis es mit ihnen gemacht haben.« Er stopfte wütend seine Pfeife. »Elendes Pack. Ich wünschte, eine Sintflut käme und spülte diese Verbrecher von der Erdoberfläche in den Orkus, wo sie hingehören. Tja, das hat er nun davon, dein braver Soldat.«

»Er ist nicht als Soldat, er ist als Arzt in diesen vermaledeiten Krieg gezogen.«

»Vermaledeit?« Erich zog die Augenbrauen hoch. »Kindchen, Kindchen.«

Sala sprang auf.

»Und du, du bist ein beleidigter, ein rachsüchtiger Kommunist, ein, ein« – sie wusste nicht weiter und schlug mit der Faust auf den Tisch –, »ein Fatzke, das bist du, ein Fatzke, der seinem Schicksal danken sollte, dass so ein Engel wie Kläre ihn aufgenommen und versteckt hat. So wie Dr. Wolffhardt mich in Leipzig versteckt hat und Ingrid und Ernst, aber … aber du grinst nur spöttisch und hoffst, dass Otto von deinen geliebten Russen gefoltert wird. Was bist du für ein Mensch?«

Erschrocken setzte sie sich, um gleich wieder aufzuspringen und hinauszulaufen.

Draußen spülte ihr der strömende Regen langsam ihre Wut aus der Seele. Sie wusste, was Erich durchgemacht hatte, trotzdem empfand sie kein Mitleid. Ihr war es nicht besser ergangen. Erich wünschte allen Deutschen den Tod. Ja, das konnte sie verstehen, aber seine Liebe zu Russland empfand sie als persönlichen Angriff. Er wusste, dass Otto in Lebensgefahr schwebte, und machte auch noch Witze darüber.

Kläre nahm sie anderntags zur Seite. Sie hatte einen Kuchen gebacken. Kein Mensch wusste, wie sie es immer wieder schaffte, sich die Dinge, die sie brauchte, zu besorgen.

»In der ersten Zeit auf dem Dachboden ist er ganz anders gewesen.«

Sala sah sie staunend an. Wie konnte ein Mensch so gutherzig, so uneigennützig sein wie Kläre?

»Erich hat die besten Witze erzählt und alle auf dem Dachboden bei Laune gehalten, wenn sie vor Angst nicht zu atmen wagten, weil SS oder SA oder Gestapo oder irgendwelche Verräter auf der Suche nach Juden durch die Straßen patrouillierten. Und dann, nach dem Krieg, der Schlaganfall und alle Lebensfreude, sein beißender Witz, sein ansteckendes Lachen, waren weg. Er hat monatelang schweigend aus dem Fenster gestarrt. Ich dachte, der wird nicht mehr.«

Es war, erzählte sie Sala an einem anderen Tag, als hätte er sich nachträglich zurückgezogen, weit weg aus einer Welt, die seinesgleichen nie gewollt hatte. Jetzt, da er frei sein konnte, da er es durfte, hatte ihn das Schicksal wie ein Blitz getroffen. Gelähmt saß er, an seinen Rollstuhl gefesselt, vollends der vernichtenden Bewegung seiner Gedanken, seiner Erinnerungen ausgeliefert. Der Kommunismus war seine letzte Zuflucht, sein Sehnsuchtsort geworden. Nur die Vorstellung, die Hoffnung, dass ein paar Kilometer weiter, im Osten, Menschen versuchten, dieser neuen Ordnung ein deutsches Antlitz zu verleihen, hielt ihn am Leben, verhinderte, dass er in seiner Verzweiflung seinen Rollstuhl vor die nächste Straßenbahn lenkte.

36

Wahrscheinlich war es ein Fehler gewesen, nach Madrid zu fahren, aber sie wusste nicht mehr wohin. Es war nicht einfach gewesen, Berlin zu verlassen. Die besetzte Zone hatte ihre eigenen Gesetze, Reisen war keine einfache Sache. Sie musste einen Antrag als rassisch Verfolgte stellen. Alles in ihr sträubte sich dagegen. Jahrelang hatte sie ihre jüdische Identität geheim gehalten, um in diesem Land zu überleben. Jetzt brauchte sie sie, um gehen zu dürfen.

Iza öffnete die Tür. Sie fielen sich in die Arme. Die Gefangenschaft, das Alter schienen sie milder gestimmt zu haben. Sie war sofort vernarrt in die kleine Ada. Vor Eifersucht frierend beobachtete Sala, wie aufmerksam sich ihre Mutter in den nächsten Tagen um Ada kümmerte. Sie umgarnte sie mit ihrer Zuwendung, als wollte sie ihrer Tochter zeigen, was dem Kind fehlte, warum es im Grunde ganz natürlich war, dass die Kleine noch nicht sprechen konnte. Schweigen sei ein Zeichen besonderer Intelligenz. Kinder würden so ihre Charakterstärke, ihre Unabhängigkeit zu erkennen geben. Gerade sie müsse das doch am besten verstehen, bei ihr sei es schließlich genauso gewesen, und Ada sei doch gerade einmal zwei Jahre alt, was denn ihr Vater dazu gesagt habe, der alte Seelenfänger.

Eine kleine Stichelei hier, ein Vorwurf dort, und schon schwammen sie in den alten feindlichen Gewässern. Wieder bestand Tomás darauf, Sala zu portraitieren, wieder kam es zum Streit, bei dem die Mutter das Portrait der Tochter kurzerhand zerriss. Sala hatte, Tomás’ Anweisungen folgend, in einem langen Kleid auf einer Récamière gelegen, ein Buch in der Hand, ohne ihn weiter zu beachten. Im Grunde sei er gar nicht da gewesen, beteuerte er kichernd, während Iza die Reste des Bildes in den brennenden Kamin warf.

Abends, als Ada schlief und Tomás sich auf der Suche nach neuen Modellen durch die Bars von Madrid trank, saßen Mutter und Tochter schweigend bei Tisch. Kein Wort über Gurs oder Leipzig, keines über die Jahre in Francos Gefängnissen, wo Iza und Tomás nur knapp dem Tod entgangen waren.

Jeden Bissen achtunddreißigmal kauend, starrte Iza ihre Tochter an, und Sala fragte sich, wie eh und je, was ihre Mutter von ihr wollte, was sie tun musste, um sich, nein, nicht ihre Zuneigung, aber wenigstens ihr Wohlwollen oder ihre Gnade zu verdienen.

Spät in der Nacht kam Tomás in ihr Zimmer. Er schaltete das Licht an und riss ihr die Bettdecke weg.

»Steh auf, du undankbares Miststück! Raus hier! Verlass auf der Stelle unsere Wohnung!«

Im Hintergrund tauchte Iza auf. Sie merkte zwar, dass ihr Mann betrunken war, machte aber keinerlei Anstalten, ihrer Tochter beizustehen. Etwas unentschlossen lehnte sie mit schlafroten Augen im Türrahmen.

»Was soll das, was habe ich dir getan?«

»Du hast den Dürer beschädigt. Mein Atelier steht unter Wasser. Du hattest recht, Iza. Ich war blind. Ein blinder Trottel, der immer nur an das Gute im Menschen glaubt. Du hattest so recht. Man kann ihr nicht trauen. Sie ist hinterhältig und verlogen. Eine Ratte.«

Sala sprang aus ihrem Bett. Sie schlug Tomás ins Gesicht, dann packte sie ihre Mutter, ließ sie aber gleich wieder erschrocken los.

»Hast du das gesagt?«

Ada wachte auf. Mit großen Augen sah sie ihre Mutter an. Sala war zu aufgeregt, um es zu merken.

»Er ist betrunken«, sagte Iza.

»Hast du es gesagt? Ich will es wissen«, sagte Sala.

Iza ließ sie schulterzuckend stehen. Ada schaute stumm ihrer Großmutter nach. Im Gehen wandte Iza sich zu Tomás.

»Ist das Bild noch zu retten?«

Tomás ließ sich vom Alkohol übermannt schluchzend auf den Boden fallen.

»Hör auf zu heulen! Man soll nicht trinken, wenn man es nicht kann.«

Sie zog den Gürtel ihres Morgenmantels fester und ging. Sala rannte ihr hinterher. Im Flur fasste sie nach ihr. Iza fuhr herum wie eine Furie.

»Wag es nicht, mich anzufassen. Wir haben uns aufgerieben für dich und dein Kind, und zum Dank vernichtest du unsere Existenz.«

»Das kann nicht sein, Mutter. Du glaubst ihm doch nicht etwa? Ich habe nichts getan. Ich weiß gar nicht, wovon er redet. Ihr habt einen Dürer? Das habe ich nicht einmal gewusst.«

»Spar dir deine Unschuldsmiene. Dasselbe blöde Grinsen wie dein Vater, wenn er gelogen hat.«

»Papa hat nie gelogen, in seinem ganzen Leben nicht. Du hast so einen Mann nicht verdient. Du hast seine Seele nie verstanden.«

»Na, du kennst dich ja zum Glück aus mit der menschlichen Seele.« Sie lachte. »Mal sehen, was aus deinem Otto in der Gefangenschaft wird. Edel sei der Mensch und gut? Wart’s ab. Glaubst du vielleicht, Tomás war immer so? Du hast ihn doch erlebt vor dem Krieg, da hat er dir doch recht gut gefallen oder nicht? Sitz mal fünf Jahre in der Todeszelle, dann reden wir weiter.«

Sala sah erschrocken, wie ihre Augen glühten. Zugleich baumelten die Arme kalt und unbeteiligt an ihr herab. Sie schrie. Nie hatte Sala sie schreien hören. Ihre Mutter war in allen Lebenslagen kühl und beherrscht, auch in der Wut. Der schmale Körper blieb regungslos, während die Stimme scharf auf Sala einhieb.

»Du willst mir etwas über das Leben erzählen? Ich bin in Abgründe gestiegen, an deren Rand du dich nicht einmal wagen würdest. Wir haben hier gekämpft, Tochter, wir wurden zum Tode verurteilt, wir haben fünf Jahre lang darauf gewartet, erhängt zu werden. Deswegen ist Tomás so geworden, wie er ist, deswegen zieht er um die Häuser und trinkt, bis er sie nicht mehr spürt – die Todesangst. Wenn sie dich einmal in ihren Fängen hat, dann lässt sie dich nicht mehr los. Nie.«

Sala wurde kalt. Ihr Puls beruhigte sich. Sie sah ihrer Mutter gerade ins Gesicht. Hatte sie einmal nach ihrem Leben der letzten Jahre gefragt?

»Sowie ich weiß, wohin, werden wir gehen.«

Aus ihrem Zimmer schrie Tomás.

»Das Kind! Das Kind! Schnell! Es erstickt.«

Sala und Iza rannten zu ihnen. Ada war rot angelaufen. Keuchend rang sie nach Luft. Sala riss sie hoch zu sich. Iza trat dicht an die beiden heran. Sie schaute aufmerksam in das Gesicht des Kindes.

»Pseudokrupp. Das geht vorbei. Bleib ruhig und geh raus mit ihr an die Luft.«

Sie streichelte der keuchenden Ada über den Kopf und sprach mit ruhiger Stimme.

»Na, mein kleiner Vogel, ist alles halb so schlimm. Bis du heiratest, ist alles wieder gut.«

Zwei Tage später lief Sala mit Ada durch die Straßen von Madrid, auf der Suche nach einem neuen Ziel, einem Ort, einem Menschen. Frankreich, Deutschland und nun auch Spanien. Egal wohin sie kam, sie blieb unerwünscht. Indésirable. Nicht begehrenswert.

Otto hatte ihre Briefe seit Monaten nicht mehr beantwortet. Was war mit ihm geschehen? Sie wusste es nicht. Lebte er noch?

Sie lief zur Post. Ihre Mutter hatte ihr die Adresse von ihrer Schwester Cesja gegeben. In Paris hatte Cesja in den Zwanzigerjahren eines Abends Max kennengelernt. Er arbeitete als Bibliothekar in Buenos Aires und verbrachte seine Ferien in Frankreich. Er war ein Goij. Cesja folgte ihm nach Argentinien. Wenige Wochen später heirateten sie. Von dieser Schwester hatte ihre Mutter kaum erzählt. Sie wusste nicht einmal, was sie machte. Egal, sie brauchte nur eine Anlaufstelle für die ersten Wochen, alles Weitere würde sich weisen. Überall war es besser als hier. In einem billigen Hotel wartete sie auf Antwort. Sie zählte ihr Geld. Jean hatte ihr etwas gegeben und ihre Mutter erstaunlicherweise auch. Für die Überfahrt und die ersten zwei Wochen würde es reichen, aber in einem Hotel zu übernachten war verrückt. Sie musste lernen, weniger impulsiv zu handeln. Sie brachte Ada zu Bett. Am Fenster sah sie den Tag verglühen. Die Luft war feucht und stickig, Madrid atmete aus. Sie brauchte mehr als immer neue Möglichkeiten, dachte Sala, sie trug jetzt Verantwortung für ihr Kind. Sie brauchte endlich eine Wirklichkeit, einen Platz, auf dem sie stehen durfte, von dem aus sie in die Welt schauen konnte, in der Gewissheit, dass sie ein Recht hatte, dort zu sein. Vor neun Jahren hatte sie in Berlin ihre Koffer gepackt. Es war ihr letztes zu Hause gewesen. Neun Jahre währte ihre Reise jetzt schon. Hatte sie je Ziel oder Dauer des Aufenthalts bestimmen können? Und jetzt? Changer la vie, changer la ville, sagten die Franzosen, neues Leben, neue Stadt. Eine Stadt reichte nicht mehr aus. Um diese Flucht zu beenden, brauchte sie einen anderen Kontinent. Und Otto? Was, wenn er nicht zurückkommen würde? Sie war nicht die einzige Kriegswitwe. Witwe? Nein, nicht einmal das war sie.

IMMER WILLKOMMEN STOP ANKOMMST WANN STOP BRAUCHST DU GELD STOP

Sala ließ sich auf das Bett fallen. Sie zog die kleine Ada zu sich, warf sie immer wieder in die Luft, bis sie sie vor Freude juchzend in ihre Arme schloss.

»Wir sind willkommen, wir sind willkommen, hörst du? Ada und Mami sind willkommen.«

Es würde die erste Reise sein, an deren Ende keine Verhaftung drohte. Keine Verfolgung. Keine Demütigung. Freiheit.

37

»Warum wolltest du nach Argentinien?«

»Wollte ich das?«

Meine Mutter zupfte die Brokatdecke auf dem Couchtisch zurecht.

»Ich konnte diesen ganzen deutschen Mist nicht mehr ertragen. Außerdem haben wir gehungert. Das war schlimmer als im Krieg. Das kann sich heute keiner mehr vorstellen. Alles war zerstört. Die Bibliothek meines Vaters war verbrannt. Alles, was er über Jahre geschrieben hatte – weg. Ich war nur noch deprimiert. Alle waren deprimiert. Man schleppte sich durch sein Leben und wunderte sich, dass die Sonne trotzdem auf- und unterging. Und in dieser Tristesse sollte man Wiegenlieder singen?«

Aber das Schlimmste war doch überwunden, wollte ich sagen und begriff gerade noch rechtzeitig, wie falsch dieser Satz war. Nein, das Schlimmste stand noch bevor.

War die Erinnerung an glückliche Zeiten das einzige Paradies, aus dem man nicht vertrieben werden konnte, drohte sie jetzt zur Hölle zu werden, der kaum einer entkam. Während die gefangenen Soldaten durch die russische Steppe stolperten, trat man daheim auf dem Trümmerfeld den Marsch ins Vergessen an.

»Wusstest du, dass Papa in russischer Gefangenschaft war?«

»Was wusste ich?« Ihre Stimme klang schrill. »Nichts wusste ich.«

»Du hattest seine Spur verloren?«

»Wahrscheinlich. Ja. Das wird wohl so gewesen sein. Ich vergesse jetzt auch schon einiges, weißt du?«

»Und damals?«

»Damals habe ich nichts vergessen. Gar nichts. Aber die andern.« Sie lachte. »Die Leute konnten sich auf einmal an nichts mehr erinnern. Aber jeder wusste noch von einem sehr netten Juden zu berichten, den er vor dem Krieg gekannt und gemocht hatte. Mein Vater sagte immer, die Deutschen hätten wohl sechzig Millionen nette Juden umgebracht, denn jeder habe ja einen gekannt. Lauter Verrückte. Das war mir dann doch zu viel, weißt du?«

»Und wie seid ihr nach Argentinien gekommen?«

»Na, wie wohl? Mit dem Schiff natürlich. Das war vielleicht aufregend, kann ich dir sagen. Mit Äquatortaufe und allem Drum und Dran. Man wurde mit allerhand stinkendem Zeug eingerieben und hinterher durchs Wasser gezogen. Manche sind dabei ertrunken.«

»Wirklich?«

»Na, wenn ich es dir sage?« Sie sah mich empört an. »Aber mit mir haben sie das nicht gemacht. Ein freundlicher Mitreisender hatte mich gewarnt. Als mich dann so ein Matrose fragte, ob das denn unsere erste Äquatorüberquerung sei, habe ich nur müde gelächelt.« Sie lachte.

»Wusstest du, dass sich auch einige Nazigrößen nach Argentinien abgesetzt hatten?«

»Mir ist keiner begegnet. Wär ja noch schöner gewesen.«

»Erzähl mir von Argentinien.«

»Na, was soll ich da erzählen, es war die schönste Zeit meines Lebens. So einfach ist das. Ein wundervolles Land. Und die Menschen erst. Einmalig. Das kann man gar nicht verstehen, wenn man nicht dort gewesen ist. Das ist einmalig.«

»Was denn?«

»Na, die Argentinier eben. Ein wundervolles Volk. Frei. Verstehst du?«

Ihr Kopf kippte nach links, die Augen halb geschlossen, verschwand sie für einen Moment. Wohin? In ihre Erinnerungen? Immer wieder hatte ich versucht, etwas über ihre Zeit mit Ada in Argentinien zu erfahren. Die idyllischen Schilderungen weiter Landschaften, wilder Pferde und noch wilderer Gauchos erinnerten an die Bilder drittklassiger Reisevideos, unterlegt mit dem Geschrammel stereotyper Tangomusik. Es gab keine Männer in ihrem Argentinien. Eine alleinstehende Frau, hübsch, jung, neugierig, immer nur allein mit ihrer Tochter?

»Also nein, Männer habe ich dort keine kennengelernt, ich musste ja arbeiten. Ich war angestellt. Für so etwas hatte ich keine Zeit.«

Braucht man mit achtundzwanzig Jahren Zeit, um sich zu verlieben? Die Geschichten, die sie erzählte, waren so abgedichtet wie ein Aquarium, bei dem die Sauerstoffzufuhr defekt ist. An den dicken Glaswänden schnappten Fische sterbend nach Luft, wie die allzu aufrechten Figuren einer leblosen Erzählung.

»Wollen wir mal hinfliegen?«

»Wohin?«

»Nach Buenos Aires.«

Einen Moment dachte ich, sie würde aufhören zu atmen.

»Hast du noch Töne! Wie kommst du denn auf so eine verrückte Idee?«

»Würde es dir denn gefallen?«

»Nein.«

Ich sah sie überrascht an.

»Nicht?«

»Ganz und gar nicht«, antwortete sie entschieden.

»Warum?«

Vorsichtig wiegte sie sich hin und her, als würde sie einer vertrauten Melodie lauschen.

»Das gibt es nicht mehr.«

»Was?«

»Mein Buenos Aires. Mein Argentinien. Vorbei.«

»Du meinst, es hat sich verändert?«

»Verändert?« Sie lachte in sich hinein. »So wird es wohl sein.«

»Wie? Ich meine, wie war es?«

Die Stille kroch schwer durch den Raum.

»Dein Vater hat sich damals nicht gut benommen.«

Sie presste ihre Hände zusammen, bis die Knöchel weiß wurden.

»Ich dachte, er war in russischer Kriegsgefangenschaft«, sagte ich vorsichtig.

»War er auch.«

»Und wie kam er dann nach Argentinien?«