19
Die ersten drei Monate waren verflogen. Schon November, dachte Sala, als erwachte sie aus einem kurzen Traum. Sie schob den Vorhang beiseite. Draußen verdampfte der Morgentau, als wollte der Sommer zurückkehren, um ein letztes Mal elegante Frauen in Lolas neuen Farben auf die Straßen zu locken.
Als wenig später der siebzehnjährige Herschel Grynszpan an diesem Morgen des 7. November an dem gemächlich seinen Morgenspaziergang antretenden Botschafter Johannes von Welczeck vorbeieilte, rasch die Stufen unter dem Portikus der deutschen Botschaft im Palais Beauharnais hinauflief, aufgeregt einen Botschaftssekretär zu sprechen verlangte und von der Frau des Portiers an den Sekretär Ernst vom Rath verwiesen wurde, dann aber vom Amtsgehilfen Nagorka ohne weitere Formalitäten ins Arbeitszimmer vom Raths geleitet wurde, wo Grynszpan sofort mit einem »sale boche« und dem Hinweis, dass er im Namen von zwölftausend verfolgten Juden handle, aus seinem am Tag zuvor für 235 Francs erworbenen Revolver fünf Schüsse abfeuerte, von denen einer das Brustbein des Botschaftssekretärs traf und ein zweiter dessen Unterleib, schlenderte Sala, Lolas carré d’hermès über den Schultern und eine, wie sie dachte, herrlich extravagante Sonnenbrille auf der Nase, vom französischen Parlament kommend Richtung Osten, vorbei an der Residenz des Botschafters, zur Gare d’Orsay, dem berühmten Bahnhof, der im Jahr 1900 zur Weltausstellung gebaut und eröffnet worden war. Während sie ihren Erinnerungen nachhing und die ein- und ausfahrenden Züge beobachtete, wurde Herschel Grynszpan festgenommen. In der Manteltasche hatte er eine Postkarte, auf der ihm seine Schwester in großer Angst von einer Zwangsdeportation Tausender polnischer Juden aus dem Reich berichtete, zunächst in das Niemandsland zwischen Deutschland und Polen, wenige Tage später in ein Lager in der Nähe von Bentschen, westlich von Posen. Sie flehte ihren Bruder in panisch dahingekritzelten Zeilen an, möglichst umgehend Geld über den Onkel Abraham von Paris nach Lodz zu schicken, um schnelle Hilfe zu ermöglichen.
Sala liebte Bahnhöfe. Das Quietschen der Züge wirbelte Bilder vom Monte Verità, Berlin und Madrid durch ihren Kopf. Iza, Otto, Sala, Jean. Merkwürdige Menschen, dachte sie. Vertrieben von ihren Vätern, von der Mutter verlassen, den gefallenen, unbekannten Vater im Herzen. Wie wohl ihre Großeltern in Lodz aussehen mochten? Sie beschloss, Lola noch diesen Abend nach Fotos zu fragen.
Das Aufheulen einer Polizeisirene mischte sich in die Gleismusik. Der minderjährige Herschel Grynszpan wurde in das Jugendgefängnis Fresnes in der Nähe von Paris überstellt. Der Untersuchungsrichter Tesniere setzte noch am selben Tag eine Klage wegen versuchten Mordes auf, die, zwei Tage später, nach dem Tod vom Raths, in Mord mit Vorsatz umgewandelt wurde. Zuvor hatte Adolf Hitler seinen Leibarzt Karl Brandt sowie den Chirurgen Georg Magnus nach Paris geschickt. Sie allein übernahmen die Behandlung und Versorgung des Patienten, der überraschend schnell verstarb.
Am Abend des 10. November servierte Célestine Lola und ihrem Mann Robert in der Bibliothek ihren täglichen Dry Martini, den sie auf Lolas Weisung wie immer aus 5 cl feinstem London Dry Gin und 1/2 cl Vermouth mixte, als Sala mit frisch geröteten Wangen hereinstürmte.
»Une menthe pour Mademoiselle?«
Sala nickte. Die Betroffenheit in den Gesichtern war ihr nicht entgangen. Mit gesenktem Kopf verschwand Célestine. Jetzt erst bemerkte Sala die Zeitungen, die über den Boden verstreut lagen. In den Schlagzeilen tauchten immer wieder der Name Grynszpan, die Kristallnacht sowie Hitler, Goebbels, Göring und Himmler auf.
Sala kniete sich neben ihre Tante und begann zu lesen. Joseph Goebbels hatte bereits am 8. November den Juristen Friedrich Grimm nach Paris entsandt, um die Interessen des Deutschen Reiches im Prozess gegen Grynszpan zu vertreten. Gemeinsam mit französischen Anwälten übernahm Grimm die Nebenklage im Namen der Eltern und des Bruders vom Raths. Auf diesem Weg, mutmaßte ein Kommentator, wollte Goebbels nachweisen, dass die jüdische Weltverschwörung hinter dem Mord stecke und mit diesem Attentat Deutschland in den Krieg treiben wolle. Die Verwüstungen und Schändungen von Synagogen, jüdischen Betstuben, Versammlungsräumen, Geschäften, Wohnungen und Friedhöfen, die ihren Höhepunkt in der Nacht vom 9. auf den 10. November als Reichspogromnacht erfuhren, hatten bereits am 7. November in Kurhessen und Magdeburg-Anhalt begonnen. Sie erstreckten sich über das gesamte Deutsche Reich. Sala griff nach der nächsten Zeitung. Empört beschrieb der Journalist die Perfidie, mit der SA, SS, aber auch Mitglieder der Gestapo und der Hitlerjugend, verkleidet als scheinbar normale Bürger, in Windeseile den Virus des Volkszornes verbreitet hatten. In einem anderen Blatt wurde ein hoher Funktionär des Propagandaministeriums aus dem Völkischen Beobachter zitiert: »Die Schüsse in der deutschen Botschaft in Paris werden nicht nur den Beginn einer neuen deutschen Haltung in der Judenfrage bedeuten, sondern hoffentlich auch ein Signal für diejenigen Ausländer sein, die bisher nicht erkannten, dass zwischen der Verständigung der Völker letztlich nur der internationale Jude steht.« An anderer Stelle hieß es, »Hunderte Juden ermordet oder in den Suizid getrieben«. Die Buchstaben verschwammen vor Salas Augen. Sie müsste jetzt weinen, dachte sie, aber sie fühlte nichts. Dumpf starrte sie auf das Muster des Art-déco-Teppichs, auf dem sie saß. Wenig später saßen sie bei Tisch. Es gab Seezunge.
»Bravo, Célestine, man schmeckt das Meer«, sagte Robert. »Ein großes Essen«, fügte er in sachlichem Ton hinzu. Seine Stimme verhallte einsam im eleganten Esszimmer, bis man nur noch das Kratzen des Bestecks auf den Tellern hörte. Sala bekam keinen Bissen hinunter. Nach dem Essen gingen sie wortlos zu Bett.
Sala lag noch wach. Seit wann starrte sie an die Decke? Sie wusste es nicht. In ihrer Linken hielt sie einen Brief von Otto. Er schrieb von Berlin, von den letzten Ereignissen und wie sehr sie ihm fehle. Woran hatte sie bei seinen Zeilen gedacht? Was auch immer es gewesen sein mochte, es war verschwunden, als wäre es nie da gewesen. Hin und wieder hatte sie wohl mit dem Gedanken an eine Rückkehr gespielt. Vorbei. Ab morgen würde hier in Paris ihr neues Leben beginnen. Sie hatte über Nacht ihre Heimat verloren.
20
Sala studierte an der Sorbonne Französisch und Spanisch. Sie beherrschte bald beide Sprachen akzentfrei und wurde weder als Deutsche noch als Jüdin erkannt. Paris war ihre neue Heimat geworden. Mit Lola ging sie ins Français, das Theater von Molière, wie man hier die Comédie Française nannte. Sie besuchte Ausstellungen und Konzerte, half ab und zu im Laden aus, lernte Lolas Künstlerfreunde kennen, Colette, Cocteau und Jean Marais.
Zwei Jahre vergingen. Die Welt geriet aus den Fugen, aber die Sonne scherte sich nicht darum. Die deutschen Truppen marschierten unter blauem Himmel in Paris ein. Die Regierung verabschiedete sich nach Vichy, Marschall Pétain unterzeichnete den Waffenstillstand. Auch in Frankreich gab es nun Lebensmittelkarten, auch hier wurde Freiheit ein knappes Gut.
»Der deutsche Wegbegleiter – Wohin in Paris?«, las Sala auf dem Titelblatt des Hefts, das ein Soldat auf dem Nachbartisch liegen gelassen hatte. Sie begann neugierig darin zu blättern. »Für die meisten unter uns ist Paris unbekanntes Land. Wir nähern uns mit den gemischten Gefühlen der Überlegenheit, der Neugierde und fiebrigen Erwartung. Allein der Name ruft Besonderes hervor. Paris – unsere Großväter haben es in dem Krieg gesehen, der den deutschen Königen die kaiserliche Krone sicherte. Paris – das Wort aus ihrem Mund klang geheimnisvoll und außergewöhnlich. Jetzt sind wir dort und durchwandern es in unseren freien Stunden. Fußgänger und Automobile werden ohne Unterlass von der rue Royale verschlungen und wieder ausgespuckt, die Champs-Élysées, der Arc de Triomphe, die Concorde, die Madeleine, die großen Boulevards und die herrlichen Vitrinen der luxuriösen grands magasins, der parc Monceau, die Place de la République, der Friedhof Père Lachaise. Alles ist möglich für uns Soldaten, in die Oper gehen, in die Theater auf den großen Boulevards oder die Folies-Bergère. Wir brauchen keinen Baedeker, wir erkennen die Schönheit dieser Stadt auch so. Und inmitten des zarten und einfachen Lebens dieser Stadt der Lichter erwacht in unserem deutschen Wesen nur eine Devise: Verfalle nicht in Sentimentalitäten. Dies ist das Zeitalter des Stahls. Richte dein Auge auf klare und sichere Ziele. Und sei bereit für den Kampf.« Während Sala über derartige Plattitüden verärgert den Kopf schüttelte, flog die Tür auf. Zwei angetrunkene deutsche Soldaten stolperten herein und ließen in breitbeiniger Manier ihre Augen durch das Bistro schweifen, als gehörte ihnen das Lokal bereits. Ihr Blick blieb an zwei jungen Frauen hängen, auf deren Tisch sie zusteuerten. Sie bauten sich grinsend davor auf.
»La place ici … c’est libre … chez vous, Madame?«, fragte der eine leicht vorgebeugt, um äußerste Höflichkeit bemüht, und erklärte seinem Kameraden, dass er gerade gefragt habe, ob der Platz neben den Damen frei sei. Die Französinnen rührten sich nicht. Während die Jüngere auf die Tischplatte starrte, schaute die Ältere ihnen unvermittelt ins Gesicht, was der Dicke als Einladung deutete.
»Merci.«
Er winkte einen Kellner herbei und machte, ganz Mann von Welt, eine kleine kreisende Handbewegung.
»Champagne, s’il vous plait.« Dabei musterte er die beiden Damen aufmunternd.
Ein paar Minuten später hielt sein Kamerad, ein zu schnell hochgeschossenes, flachsblondes Klappergestell, den Moment für gekommen, zur Tat zu schreiten. Er trommelte mit unschuldigem Blick auf dem Tisch herum. Kurz, lang, lang – kurz, lang – kurz, kurz, kurz – …
»Morsezeichen«, flüsterte eine fremde Stimme Sala ins Ohr. Sie drehte sich ertappt um. Am Nebentisch saß ein gut aussehender Mann. In seinem eleganten hellgrauen Zweireiher erinnerte er sie an Cary Grant. Wie er trug er das dichte Haar mit ein wenig Pomade nach hinten frisiert. Unverschämt weiße Zähne strahlten sie aus einem breit grinsenden Gesicht an. Bevor sie fragen konnte, begann er zu übersetzen.
»Was denkste von den zwei Schaluppen? Lohnt sich ein Angriff?«
Sala wusste nicht, ob sie fluchen oder losprusten sollte.
Kurz, kurz, kurz – lang, kurz, lang, kurz – lang, lang, kurz – lang …
»Und?«, flüsterte Sala.
»Sind zwei rechte Schnepfen, was?«
Sala unterdrückte beim Anblick der Mädchen mühsam ein Kichern. Der Spargel klapperte munter weiter, was Cary Grant mit »Ran an die Buletten« übersetzte, derweil der Dicke wieder sein Glück auf Französisch versuchte, indem er fragte, ob die Damen etwas zu essen wollten.
»Voulez-vous quelque chose manger?« Seinem Akzent nach schien er aus Bayern zu kommen. Offenbar traute er seinem Schulfranzösisch nicht ganz und untermalte das Gesagte mit umständlichen Gesten.
»Irgendwie kann man sich gar nicht vorstellen, dass das eine Siegermacht sein soll«, flüsterte Cary Grant.
Sala rutschte unruhig hin und her. Sie musste plötzlich auf die Toilette, wollte sich aber das Spektakel nicht entgehen lassen. Als die beiden Schönen nicht bereit schienen, auf die Avancen zu reagieren, räusperte sich der dünne Lange, füllte seine schmale Brust mit Luft, um zum Angriff überzugehen, als er plötzlich und zu seiner großen Verblüffung die Hände der jüngeren Frau, die so schüchtern dreingeschaut hatte, auf den Tisch trommeln hörte: lang, kurz, kurz, kurz – kurz, lang, kurz, kurz – lang, lang, lang, kurz – …
»Die Dummheit ist auch eine Gabe Gottes«, übersetzte Cary Grant trocken, während die beiden jungen Frauen aufstanden und sich, ohne eine Miene zu verziehen, fordernden Schrittes an den errötenden Soldaten vorbei zum Ausgang bewegten.
»Dämliche Schnepfen«, fluchte der Dünne.
Cary Grant lachte ungeniert drauflos. Die beiden Soldaten fuhren erschrocken herum.
»Die einen verstehen das Morsealphabet, die andern die deutsche Sprache. Das feindliche Ausland ist voller Gefahren«, sagte er.
Die Soldaten murmelten etwas vor sich hin und beeilten sich, anschließend, den Ort ihrer Niederlage zu verlassen.
»Verzeihen Sie meinen Überfall, mein Name ist Hannes Reinhard, von der Deutschen Presseagentur. Darf ich Sie zum Abendessen einladen?« Er verneigte sich leicht.
»Und wenn ich verabredet bin, Herr DPA?«
»Dann wären Sie nicht neben mir sitzen geblieben.«
»Das ist ja wohl eine Unverschämtheit.« Sala stand auf, packte ihre Sachen zusammen und lief zur Tür. Hannes holte sie draußen ein. Es regnete in Strömen. Schnell spannte er einen Schirm auf, den er sich im Herausgehen gegriffen hatte.
»Ist das ein ›Vielleicht‹?«
»Das ist ein Nein.«
»Sie kennen das französische bonmot?«
»Sie werden es mir bestimmt nicht vorenthalten.«
»Wenn eine Frau ›Nein‹ sagt, meint sie ›Vielleicht‹; sagt sie ›Vielleicht‹, heißt das ›Ja‹…«
»Und wenn sie ›Ja‹ sagt?«
»Dann ist sie eine Schlampe.«
Sala starrte ihn mit offenem Mund an, dann brach sie in schallendes Gelächter aus.
»Wir könnten auch ins Theater gehen und danach eine Kleinigkeit essen. Haben Sie Jouvet in der Schule der Frauen schon gesehen? Er soll hinreißend sein.«
»Ich liebe Jouvet.«
»Ich habe Zugang zur Presseloge.«
Er bot ihr seinen Arm. Als sie gemächlich durch den Regen schlenderten wie unter strahlendem Sonnenschein, parlierte Hannes fröhlich drauflos.
»Vorgestern traf ich meinen guten Freund Pierre Renoir, der mag den Jouvet gar nicht und erzählte mir diese Geschichte: Im Conservatoire gibt Jouvet regelmäßig Schauspielunterricht. Seine beißende Kritik ist gefürchtet. Neulich soll er einem seiner Eleven mitten in einer Szene beim Vorsprechen zugerufen haben: ›Hören Sie um Gottes willen auf, der arme Molière würde sich im Grabe umdrehen, wenn er hören könnte, was Sie aus seinen Texten machen.‹«
Sala hielt sich erschrocken die Hand vor den Mund.
»Oh nein, der Ärmste.«
»Der Ärmste war nicht auf den Mund gefallen, er trat an die Rampe und erwiderte: ›Na, wenn er Sie gestern Abend in Die Schule der Frauen gesehen hat, dann liegt er ja jetzt wieder richtig.‹«
Prustend gingen sie weiter, bis sie in die rue Boudreau im 9. Arrondissement einbogen und vor dem Théâtre de L’Athénée standen.
Hannes drehte sich zu Sala.
»Und?«
»Ja – und wehe, Sie sagen jetzt Schlampe.«
Nach der Vorstellung saßen sie in einem kleinen Bistrot, nicht weit von der Place Pigalle. Le Garde Temps. Der Kellner servierte unaufgefordert zwei Gläser Kir Royal, als entrée eine Tarte mit rotem Zwiebelkompott, danach kurz gebratenes Kabeljaufilet mit einem Teller »carottes oubliés« und golden gerösteten Ofenkartoffeln, dazu einen Puligny-Montrachet. Sala wagte nicht zu fragen, was um Himmels willen vergessene Karotten sein mochten, aber sie schmeckten nach verlorenem Paradies und vergessener Kindheit. Den krönenden Abschluss gab eine »chantilly caramel«, begleitet von einem Glas tiefgoldenem Sauternes. Allein dafür verzieh sie Hannes den langen Fußweg, auf dem er ihr den mühsamen Werdegang Jouvets durch die französische Provinz ebenso plastisch schilderte wie die früh gescheiterten Versuche im Tragischen eines bis heute berühmten Komödianten aus dem 17. Jahrhundert. Immer wieder blieb er stehen, um ihr vorzuspielen, wie jener Tropf bei seinen redlichen Versuchen, die Verse Corneilles oder Racines zu deklamieren, ins Stottern geriet, bis er erkannte, dass er geboren war, die Menschen zum Lachen zu bringen.
»Jean-Babbbaptiste Popopoquelin«, sagte er und mit einer tiefen Verbeugung, ohne zu stottern, »oder einfach Molière.«
In den nächsten Tagen zeigte er ihr die andere Seite von Paris. Die kleinen Lokale der Arbeiter, in denen man ausgelassen zum Valse Musette tanzte, die Stände, an denen man morgens um vier bei Schweinsfuß und Sauerkraut neben Huren und Zuhältern einen Weißwein schlürfte, während Paris langsam erwachte. Sie lasen gemeinsam Gedichte von Apollinaire, er erzählte ihr von Breton, Buñuel und Salvador DalÍ, und dass die Surrealisten seinen Namen spottend zu »avida Dollars«, dem Geldgierigen, verdrehten. Wie ihr Vater konnte er Stunden vor einem Bild sitzen oder stehen, redend, lachend, ebenso frei wie brillant assoziierend. Er nahm einen Gedanken, warf ihn in die Luft, schaute ihm versonnen nach, neugierig, wohin er fallen mochte, falls er ihn nicht im nächsten Augenblick, wie ein Taschenspieler, aus dem fragenden Blick seiner begeisterten Zuhörerin wieder hervorzauberte, gleich einem blinden Passagier, der in sehnsüchtiger Ungeduld darauf wartete, entdeckt zu werden.
Dann war er plötzlich verschwunden.
Kein Wort des Abschieds, keine Erklärung, kein Brief. Er fehlte ihr so sehr, dass sie es morgens kaum schaffte, aufzustehen, einen Tag zu beginnen, den er nicht mit seinem schallenden Lachen begrüßte. Wohin sie sah, trugen die Menschen das gleiche Gesicht stumpf durch die Stadt. Das Blau des Himmels wirkte kraftlos, die Sonne kalt, die Straßen verloren. Sie sah den Krieg. Aber er rührte sie nicht. Warum hatte er sie so plötzlich verlassen? Was hatte sie falsch gemacht?
In der dritten Woche klopfte sie zaghaft an seine Tür. Er öffnete, stand vor ihr, in einem abgetragenen Morgenmantel, die Augen verschattet, das Gesicht eingefallen. Sie erkannte ihn kaum. Schweigend trat sie ein. Er brühte ihr einen Tee. Beide ließen sich an einem kleinen runden Tisch nieder, jede Geste, jeder Blick sparsam bemessen, als gelte es, die Kostbarkeit des Augenblicks vor jedem Überfluss zu schützen. Sie sah ihn an, erschrak über die Schwermut in seinen Augen, seine Hände glitten durch ihr Haar, ihre Körper prallten aufeinander, gingen zu Boden, wälzten sich, wie Tiere im Schlamm, ohne Rettung, verloren. Sie schrien, weinten, sie schlugen sich, fremdes Blut auf immer fremder werdenden Lippen, die nie mit, nie ohne den anderen sein könnten, ewig suchend, ohne je zu finden, ohne Halt, das Ende dem Anfang schon eingeschrieben, lachend, wie nur Verzweifelte es tun. Sala rannte barfuß durch die Nacht. Wenn das Liebe war, wollte sie ihr nie wieder begegnen, nie wieder ohne sie sein.
Drei Wochen später klopfte Célestine an ihre Tür.
»Ein junger Herr wartet im Entree.«
»Hat er sich nicht vorgestellt?« Was sollte sie tun, wenn sie im nächsten Moment vor Hannes stehen würde? Sie wussten doch beide, dass ihre Liebe ganz und gar unmöglich war. Wenn man das, was sie miteinander erlebt hatten, überhaupt so nennen konnte. Konnte man das? Sie wusste es nicht. Sie strich sich unschlüssig durch die Haare. Eine merkwürdige Lethargie, eine Müdigkeit kroch in ihr hoch. Am liebsten würde sie sich wieder hinlegen. Sie fühlte sich erschöpft.
»Hat er seinen Namen genannt, Célestine?«
Célestine nickte knapp.
»Otto.«
Sala griff sich unwillkürlich an die Brust. Für einen Moment dachte sie, ihr Herz würde aufhören zu schlagen. Im nächsten Augenblick pochte es so wild in ihrem Hals, dass sie fürchtete, daran zu ersticken.
»Aus Berlin. Sie wüssten schon.«
Unangekündigte Herrenbesuche schien Célestine nicht zu schätzen. Sala sprang auf.
»Sagen Sie ihm, ich komme sofort. Nein, sagen Sie ihm … ich … es dauert, ich bin gleich da. Ach, Sagen Sie nichts.«
Célestine schüttelte missbilligend den Kopf. Kaum hatte sie die Tür geschlossen, rannte Sala zu ihrem Schrank. Ihre Hände flogen über die Kleider. Das grüne musste es sein, ja das grüne würde ihm gefallen. Wie kam er so überraschend nach Paris? Ohne jede Ankündigung. Sie schlüpfte in das knielange, eng taillierte Kleid aus Lolas neuester Kollektion. Das hätte er doch wenigstens telegrafieren können, nein müssen. Wo war er überhaupt die letzte Zeit gewesen? Sie wusste ja nichts. Rein gar nichts. Was war sie auch für eine blöde Kuh. Eiskalt hatte sie ihn abserviert, wenn sie es recht bedachte. In seinen Briefen kein Vorwurf, keine Fragen. Wie sah sie überhaupt aus? Sie hatte doch nicht etwa zugenommen? Sie warf im Vorbeigehen einen prüfenden Blick in den Spiegel. Nein. Oder? Wovon denn? Erschrocken blieb sie stehen. Mein Gott, ihre Haare. Wann war sie denn das letzte Mal beim Friseur gewesen?
Sie flog durch den Korridor. Was würde sie ihm sagen, wenn er nach ihrem Leben fragte? Nein, Hannes würde sie nicht erwähnen. Auf keinen Fall. Wozu auch? Einmal ist keinmal. Außerdem waren Otto und sie kein Paar mehr. Er würde es wissen. Er wusste alles. Er war so klug, so großzügig, so fantasievoll.
Kurz bevor sie das Entree betrat, hielt sie inne. Hatte sie sich verändert? Sie würde es an seinem Blick erkennen. Mit beiden Händen fächelte sie sich Luft zu. Ihr wurde schwarz vor Augen, als müsste sie im nächsten Moment umfallen. Nicht aufregen. Einfach auf ihn zugehen. Nichts übereilen. Am besten würde sie ihm die Hand geben. Sich ihm sofort an den Hals zu werfen, wäre nun wirklich unpassend. Zitternd setzte sie einen Fuß vor den anderen.
Er saß auf dem Louis-Seize-Stuhl neben der großen Flügeltür, die ins Wohnzimmer führte. Gott sei Dank waren Lola und Robert nicht da. Jetzt sah sie auch, warum Célestine den Kopf geschüttelt hatte. Otto trug seine Wehrmachtsuniform. Ein deutscher Soldat in einem jüdischen Haushalt. Er war aufgestanden, als sie hereingekommen war. Sie flog in seine Arme. Sie würde ihn nie wieder loslassen, egal was Gott, egal was Hitler, egal was Célestine dazu sagen mochten.