15
Nur noch wenige Minuten bis Madrid. Ob sie auf dem Bahnsteig auf sie wartete? Wie sie jetzt wohl aussehen mochte? Würde sie sie wiedererkennen? Und Tomás? Was für ein Mann war er? Nach der Beschreibung ihres Vaters klein und eher zierlich. Dunkles, volles Haar, eine große Nase, die das Gesicht beherrschte, flinke, rastlose Augen, elegante, extravagante, meist helle Kleidung, viel zu weite Hosen, die ihn wie einen Clown, einen Spaßmacher aussehen ließen, und ein starker österreichisch-ungarischer Akzent. So genau schauten nur verletzte Augen, dachte Sala. Sie wusste mehr über Tomás als über ihre Mutter.
Der Zug fuhr pfeifend in den Bahnhof ein. Sala verabschiedete sich überschwänglich von ihren Mitreisenden. Mit klopfendem Herzen hievte sie ihren schweren Koffer durch den engen Gang bis zum Ausstieg. Ein kurzes Rucken, der Zug atmete aus.
Sie drückte die schwere Klinke herunter und sprang auf den Bahnsteig. Warum war ihr nicht mulmig zumute? Gestern noch konnte sie sich kaum etwas Schlimmeres vorstellen, als nach Madrid zu fahren. Und jetzt? Der spanische Schaffner reichte ihr den Koffer herunter. Um sie herum strömten die Passagiere dem Ausgang zu, ein wogendes Meer von Hinterköpfen. Sie reckte sich, hielt Ausschau nach einer kleinen, schlanken Frau, die vielleicht schon etwas ergraut war. Mama, Mama, rief es laut und aufgeregt in ihr. Einen Moment lang glaubte sie, ihre eigene Stimme über die Lautsprecher zu hören. Langsam lichtete es sich um sie herum. Wenige Minuten später stand sie allein auf dem Bahnsteig. Wahrscheinlich wartete die Mutter am Ausgang auf sie. Sala umfasste den Griff ihres großen Koffers.
Der Bahnhof war größer als erwartet. Während sie weiter nach ihrer Mutter suchte, schnappte sie einzelne Sätze auf. War das wenige Spanisch, das sie sich selbst beigebracht hatte, ausreichend, um sich zurechtzufinden? Ihre Mutter war nicht da. Wahrscheinlich war etwas Wichtiges dazwischengekommen. Auf der Fahrt hatte sie versucht, mehr über den Bürgerkrieg zu erfahren, aber da sie Deutsche war, reagierten die Spanier verhalten. Hoffentlich war nichts passiert.
»Du musst Sala sein.« Die helle Stimme in ihrem Rücken ließ sie herumfahren. Vor ihr stand ganz offensichtlich Tomás, ihr Vater hatte ihn gut beschrieben.
»Du siehst aus wie deine Mutter, nur noch schöner, aber wehe, du sagst es ihr!«
Seine Stimme klang nach Kaffeehaus, nach Budapest und Wien.
»Ich bin Tomás. Sei willkommen, mein hübsches Kind.«
Der Mann, der sie so charmant wie unverschämt ein Kind nannte, war keine dreißig Jahre alt, und sie würde nun bald achtzehn werden, aber seine Art gefiel ihr trotzdem. Ungläubig starrte sie ihn an. Er war zwanzig Jahre jünger als ihre Mutter und sah sehr gut aus.
»Wir nehmen die Linie 3, da müssen wir nur einmal umsteigen und fahren die ganze Strecke unterirdisch, das ist im Moment sicherer.« Er bot ihr seinen Arm und führte sie zum Ausgang.
»Ist es hier gefährlich?« Sala klang aufgeregt.
»Bei mir bist du sicher. Ich kenne alle Schlupfwinkel in dieser Stadt. Iza und ich kämpfen, seit wir hier leben, mit den Arbeitern und Bauern für die Revolution. Die Jahre in Toledo waren ein einziges Fest, aber am Ende wurde der Boden zu heiß. Wir werden dir alles erzählen. Du wirst begeistert sein, schönes Kind. Wir leben in einer großen Zeit. Was jetzt geschieht, wird die Welt verändern. Berlin ist ja ganz nett, aber mit den braunen Horden wird’s ein schlimmes Ende nehmen. Aber hier in Spanien entsteht etwas Großes. Nirgendwo sind die Anarchisten so stark. Wir werden dem Staat dabei behilflich sein, sich selber abzuschaffen. Und dabei führen wir ein freies, ungebundenes Leben, mit Freunden, die wir lieben. Das Leben ist so anders hier, weißt du, schönes Kind. Es ist so warm wie die Sonne, die jedem Spanier in die Seele und in sein Herz leuchtet. Nicht dieser deutsche Missmut, diese schwerfällige, graue Lebensart mit Wurst, Kartoffeln, Sauerkraut und Bier. Wenn sie jetzt auch noch die Juden vertreiben, ist es endgültig um sie geschehen. Dann kannst du dieses Land vergessen, dann darf nicht mal mehr in den Kellern gelacht werden, es sei denn, die Witze stammen vom Führer persönlich.«
Sala wunderte sich, dass Tomás so ungeschützt drauflosredete. Dann fiel ihr ein, dass sie nicht mehr in Deutschland war, dass die anderen Fahrgäste um sie herum wahrscheinlich kein Wort von alldem verstanden. Die Metro jagte durch dunkle Schächte und versteckte Madrid vor ihren neugierigen Augen. Sie war noch gar nicht angekommen.
Als sie die Stufen hinaufliefen, schossen ihr die ersten Sonnenstrahlen entgegen. Vor ihnen lag die Gran Vía. Sala verschlug es den Atem.
»Da vorne ist die Plaza del Callao. Siehst du dieses große Gebäude? Das ist das Hotel Florida. Komm, wir trinken einen Cortado und essen ein paar Tapas.«
»Und meine Mutter?«
»Man muss Frauen immer ein bisschen warten lassen. Das erhöht die Spannung. Obwohl, deine Mutter ist in vielen Dingen eher wie ein Mann. Wenn etwas nicht so läuft wie erwartet, ändert sie es, oder vergisst es schnell. Außerdem hat sie viel zu tun, wahrscheinlich würden wir nur stören.« Sala sah ihn verblüfft an.
»Was meinst du: Ich zeige dir die Stadt. Wir flanieren an diesem herrlichen Tag auf den großen Avenuen und treffen deine Mutter zum Abendessen. Bestimmt ist die Bude dann voll. Es wird lustig. Du wirst nicht mehr nach Berlin zurückwollen.«
Dessen war sich Sala nicht so sicher, aber ein Spaziergang durch die Stadt klang verlockend.
»Und mein Koffer?«
Tomás lachte. Es war ein helles, fast knabenhaft sorgloses Lachen.
Im Hotel Florida nahm ihm der Portier respektvoll das schwere Ding ab.
»Der wird vor uns zu Hause ankommen«, grinste Tomás zufrieden.
Sala kannte diese Nonchalance von ihrem Vater. Zumindest darin ähnelten sie einander. Die politischen Ansichten schienen sie auch zu teilen. Er war Maler, also verstand er auch etwas von Kunst. Bestimmt war er auch meistens unpünktlich, wie ihr Vater, und so, wie er gedankenlos ihre Bestellung aufgab, schien er auch in Gelddingen unbekümmert. Vor allem aber entstand ein völlig neues Bild von ihrer Mutter, die sie als strenge, lieblose Frau in Erinnerung hatte. Ein Mensch mit klaren Prinzipien. Sie konnte sich an kein einziges Lächeln erinnern. Wie konnte es sein, dass sie ihr Leben mit so heiteren Gesellen teilte?
Der Kellner brachte immerfort Teller mit neuen Köstlichkeiten. Begeistert stürzte sie sich auf die Tortilla. »Ein Armenessen«, wie Tomás ihr kichernd versicherte, »heute allerdings mit Meeresfrüchten gespickt.« Sie hatte während der Fahrt kaum geschlafen, aber die Müdigkeit war einer rauschhaften Heiterkeit gewichen. Tomás hatte sie angesteckt. Sie dachte an Otto. Im Rausch und bei drohender Gefahr würden Endorphine freigesetzt, die die Angst betäubten, hatte er ihr erklärt. Hatte sie Angst, ihre Mutter zu treffen? Auf einen unmerklichen Wink hin stellte ein weiterer Camarero zwei schlanke Gläser randvoll mit Champagner vor sie hin. Sala lachte entgeistert.
»Puffbrause.«
»Ja«, kicherte Tomás, »dein Vater hasste Champagner.«
Sala leerte ihr Glas in einem Zug.
»Tut er immer noch.«
»Hier in diesem Hotel finden manchmal unsere Versammlungen statt, oder wir treffen uns mit den Kameraden in der Bar Chicote. Dort kommen wir später auch vorbei. Eigentlich ist es dort lustiger, aber die hätten uns nicht deinen Koffer abgenommen.«
Was zunächst planvoll wirkte, wurde, wie bei ihrem Vater, im Augenblick geboren. Ihr Kopf begann sich aufs Angenehmste zu drehen, sie fühlte sich leicht und träumte sich in eine aufregende Zukunft. Zum ersten Mal lag ihr die Welt zu Füßen, frei von deutscher Ernsthaftigkeit. Während sie erneut auf die Straße traten, hörte sie Gitarrenklänge und lebenshungriges Lachen. Hier in dieser Stadt lebte also ihre Mutter.
»Was macht meine Mutter eigentlich? Arbeitet sie im Krankenhaus, oder hat sie eine eigene Praxis?«
Tomás sah Sala überrascht an.
»Sie hat in Spanien nie als Ärztin gearbeitet. Ihr Abschluss wurde hier nicht anerkannt. Hat sie euch das nicht geschrieben?«
»Nein.«
»Deine Mutter ist eine gefragte Kunsthändlerin. Sie konzentriert sich auf das achtzehnte und neunzehnte Jahrhundert. Hin und wieder findet sie auch Arbeiten aus der Renaissance oder dem Spanischen Barock. Heute hat sie viele wichtige Termine. Es geht um eine Ausstellung der Arte Antigua. Ein alter Freund von ihr hat eventuell einen Schatz entdeckt, den er ihr zeigen will.« Er lächelte geheimnisvoll.
»Besitzt sie einen Laden, also, ich meine eine Galerie?«
»Iza hasst jede Form von Geldverschwendung.« Er lachte. »Ganz im Gegensatz zu mir. Sie macht alles von unserer Wohnung aus, empfängt dort ihre Kunden, organisiert Ausstellungen, und abends …« Er zögerte kurz. »Na, du wirst ja sehen.« Er blieb vor einer kleinen Bar stehen. Sala las über zwei großzügigen Fensterfronten und der Drehtür des Eingangs in großen, einfachen Lettern b a r c h i c o t e. Sie blickte in einen lang gezogenen Raum, eingerichtet im Art-déco-Stil.
»Pedro Chicote ist ein guter Freund, wir werden ihn bald besuchen. Er ist ganz einfach der beste Barmann der Welt und besitzt eine sagenhafte Sammlung von über zwanzigtausend Flaschen, darunter auch einen alten Cachaca, den ihm der brasilianische Botschafter eines Abends geschenkt hat, als Pedro noch an der Bar im Hotel Ritz seine Cocktails mixte. Aber noch umfangreicher ist seine Sammlung kleiner und großer Geschichten. Keiner erzählt so kunstvoll von den Nachtvögeln, ohne die leiseste Indiskretion zu begehen. In Wahrheit ist er ein Geschichtenerzähler, der aus dem Rohstoff langer Nächte, aus den hellen und dunklen Gestalten, die bei ihm verkehren, den Träumern, Verbrechern und Hochstaplern, den Anarchisten, Schauspielern und Königen seine Miniaturen destilliert. Er hat nur einen Fehler. Noch mehr als diese Geschichten liebt er das Geld, vielleicht ist er deswegen kein Dichter. Komm, jetzt zeige ich dir die Plaza de los Torros, wo die größten Stierkämpfe stattfinden, oder möchtest du lieber erst den Prado sehen, du hübsches bürgerliches Kulturkind?«
Er lachte wieder mit seiner hohen Stimme. Eigentlich hasste Sala hohe Stimmen, aber bei Tomás hätte eine tiefe Stimme vollkommen unpassend geklungen. Er wirkte gerade durch diesen eigenartig hohen Singsang unerwartet männlich. Von Stierkämpfen wollte sie nichts hören. Das Töten eines Tieres zur allgemeinen Volksbelustigung verabscheute sie.
»Ich verstehe diese Lust am Töten nicht. Es ist wie früher, als das Volk zu den öffentlichen Hinrichtungen rannte. Widerlich. Ich hab mal gehört, dass die Elefanten sich zum Sterben von ihrer Herde absondern. Niemand möchte sich beim Sterben zusehen lassen, oder? Vielleicht möchte man von einem geliebten Menschen, von seinen Kindern begleitet werden. Oder würdest du gerne öffentlich sterben?«
»Kommt ganz drauf an, welche Bedeutung ich meinem Leben beimessen würde.«
Sala verstand nicht, was er damit sagen wollte, und wechselte schnell das Thema.
Die kühle Luft in den großen Hallen des Prado war ihr lieber. Sie atmete den vertrauten, modrigen Duft alter Gemälde. Die Sonntage ihrer Kindheit zogen an ihr vorüber, an denen sie, geduldig neben ihrem Vater stehend, in seiner Miene zu lesen suchte, was er in den Bildern sah. Heute glaubte sie zu verstehen, warum er sich scheute, das Gesehene zu kommentieren. Vielleicht wollte er das Gefühl nicht verlieren, das ihn mit dem Bild verband, so wie man von einer Liebe nur allzu ausführlich erzählt, wenn ihr Verlust bevorsteht oder wenn sie gestorben ist, um ihr in der Erinnerung ein zweites Leben zu schenken. Sie dachte an Otto und fühlte einen Schmerz. Hier in diesen stillen Räumen, inmitten des gestalteten Lebens, war sie ihm mit einem Mal nah. Erstaunt wandte sie sich zu Tomás, der leicht versetzt hinter ihr stand. Sie sah ihn versunken seinen Bleistift über einen Zeichenblock führen. Wie anders stand er jetzt da. Beinahe hätte sie ihn nicht wiedererkannt. Alles Glühende war von ihm abgefallen. Er stand fest auf dem Boden, die Beine leicht auseinandergestellt. Ertappt blickte er zu ihr hoch. Es waren erste Skizzen von ihr, die er schnell aufs Papier geworfen hatte. Als sie näher trat, steckte er sie weg.
Draußen raste ein mit Sandsäcken beladener Lastwagen an ihnen vorbei. Tomás sah ihm aufmerksam nach.
»Sie bauen Barrikaden, um Madrid gegen die Franquisten zu verteidigen.«
In der Ferne fielen Schüsse. Sala zuckte zusammen. Er nahm ihren Arm.
»Komm!«
Als sie die Treppen des alten Wohnhauses hinaufstiegen, überfiel sie eine bleierne Müdigkeit. Wie gerne würde sie jetzt die Wiederbegegnung, die sie sich in den letzten Jahren immer wieder anders ausgemalt hatte, verschieben. Was sollte sie tun, wenn sie ihr gleich gegenüberstehen würde? Wie würde ihre Mutter reagieren, was könnten die ersten Worte sein? Oder würden sie schweigen? Müsste man sich in die Arme fallen? Eigentlich konnte es nur peinlich werden. Sie dachte daran umzukehren, da öffnete sich leise die Tür. Vor ihr stand Iza.
»Wo wart ihr denn so lange? Kommt rein.«
Sie nahm Sala lachend bei der Hand und zog sie in ein beeindruckend großes, leeres Entree. Später bemerkte Sala, dass ihr Blick zuerst auf die nackten Glühbirnen gefallen war, die von der gelbbraun gekalkten Decke baumelten. Unsicher war sie dem prüfenden Blick ihrer Mutter ausgewichen, der eigenartig mit dem herzlichen Klang ihrer Stimme kontrastierte.
»Habt ihr schon gegessen? Ich habe ein paar Kleinigkeiten zusammengestellt, zum Kochen war keine Zeit, außerdem kann Tomás das viel besser als ich. Wie war deine Reise? Was habt ihr heute gesehen? Vor allem aber, erzähl mir, was gibt es Neues? Dein Vater ist ein schlechter Briefeschreiber, wenn es ums Alltägliche geht.«
Sala fühlte wieder diesen ruhigen, durchdringenden Blick. Ein Brennen, dem sie ausweichen wollte. Ihr war, als hätte sie eine Prüfung zu bestehen. Tomás deckte den Tisch. Auch im Esszimmer hingen die Glühbirnen in ihren Fassungen von der Decke. Kein Tischtuch, wie sie es von zu Hause gewöhnt war, Geschirr und Besteck lagen auf einem langen alten Holztisch, an dessen Kopfende Iza Platz nahm. Sie war kleiner und zierlicher als ihre Tochter und begann sofort mit gutem Appetit zu essen. Sie beobachtete aus den Augenwinkeln Sala, die hastig ein paar Bissen hinunterschluckte.
»Jeden Bissen achtunddreißigmal kauen. Dann wirst du alt und bleibst jung.« Sie trank einen Schluck Weißwein. »Das ist gut für den Kreislauf. Niedriger Blutdruck ist gut fürs Herz, aber schlecht für die Dachstube.« Sie deutete auf ihren Kopf.
Als Sala von den Eindrücken dieses Tages berichtete, war ihr unter dem aufmerksamen Blick ihrer Mutter, als würden die Wörter von jemand anderem gesprochen werden. Verliere dich nicht, dachte sie, aber die Sätze purzelten von ihren Lippen. Sie hätte sie auf der Straße nicht wiedererkannt, dachte sie und wäre beinahe über den nächsten Satz gestolpert.
Während sie in einem fort redete, wurde die Entfernung zu ihrer Mutter immer größer. Ein fremder Mensch saß da, an der gegenüberliegenden Seite des Tisches, eine schöne Frau. Ihre Mutter. Ein-, zweimal meinte Sala, einen Adler zu sehen, der fortwährend kleine Bissen mit seinem Schnabel von ihr abriss und gewissenhaft zerkaute. Jeden Bissen achtunddreißigmal.
»Ich glaube, mir ist schlecht«, murmelte Sala. Ihr wurde schwindelig.
Es dunkelte bereits, als sie aus halb offenen Augen den Schatten ihrer Mutter durch die Tür verschwinden sah. Wenig später drang Stimmengewirr zu ihr hinüber. Füße trampelten über das alte Parkett, der Duft schwerer Speisen kroch durch den Türspalt. Jemand klatschte in die Hände. Sie hörte eine weiche, seltsam ölige Stimme.
»Hitler wird Franco mit Waffenlieferungen unterstützen, das haben wir längst von unseren Verbindungsleuten erfahren. Wahrscheinlich wird Mussolini gleichziehen, dann haben wir eine faschistische Front aus drei verschiedenen Staaten. Demgegenüber stehen Stalins Bolschewiken, die vermutlich, nur um Hitler und Mussolini in die Suppe zu spucken, die Republik unterstützen werden, und dann wird das Ganze zu einem Krieg zwischen Faschismus und Kommunismus. Was am Ende rauskommt, weiß der Teufel. Jedenfalls keine syndikalistische Gewerkschaftsorganisation, wie die CNT sie geplant hat. Keine Auflösung der staatlichen Gewalt, wofür wir Brigadisten gemeinsam mit der CNT kämpfen wollen. Nicht die Worte Bakunins werden sich auf diesem Wege durchsetzen, sondern Stalins Westentaschenmarxismus, der – daran kann es gar keinen Zweifel geben – nur eine neue Form der Ausbeutung der Arbeiter mit sich bringen wird. Es bleibt die Gewalt beim Staat, und der Staat heißt in diesem Fall Stalin, so wie es immer Einzelne oder kleine, privilegierte Gruppen sein werden, die dem Staat ihren Willen aufzwingen und sein Gewaltmonopol zur Unterdrückung jeglichen Widerstands nutzen.«
Ein wildes Durcheinander folgte der Ansprache. Sala versuchte sich den Redner vorzustellen. Vor ihrem inneren Auge tauchte ein kleiner, rundlicher Mann auf, um die dreißig, würde er wohl sein. Sie stellte sich vor, wie er sich nun, nach dem Ende seiner langen Rede, die ihn weit zurück in eine ruhmreiche, kämpferische Vergangenheit geführt hatte, den Schweiß von der Stirn wischte und sich in seinen Sessel fallen ließ. Er stammte aus einer Bauernfamilie, die, wie er immer wieder betonte, bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, gemeinsam mit anderen Bauernfamilien und Landarbeitern, instinktiv dem anarchistischen Ideal der sich selbst verwaltenden Dorfgemeinschaft anhing.
»Schon damals haben meine Ahnen Kampfgemeinschaften gegen die adligen Grundbesitzer gebildet, um sich gegen deren Ausbeutungsversuche zur Wehr zu setzen. Sie verteidigten Kollektivismus und Gleichheit und kämpften gegen die Privatisierung von Landbesitz, der den Zusammenhalt der Dorfgemeinschaft bedrohte.«
Sala hörte, wie er plötzlich wieder aufsprang. Was er wohl für Hände haben mochte, überlegte sie. Wahrscheinlich klein und dick. Warf er sie jetzt in die Luft, um sich erneut Gehör zu verschaffen? Sie schloss die Augen, um seiner Stimme zu lauschen, die vor Pathos zu zittern begann.
»Liebe Freunde! Liebe Kämpfer! Vergesst nie, der Anarchismus wurde in unserem Land bereits von unseren Vorfahren erfolgreich praktiziert. Mit der Einführung kapitalistischer Besitzverhältnisse hat die Aushöhlung von innen unsere Dörfer erfasst. Wir können es mit eigenen Augen sehen, wie der Mensch entmachtet und weggeworfen wird. Die Kapitalisten ersetzen ihn durch Maschinen, die seine Arbeit schneller und effizienter bewerkstelligen. Sie zerteilen ihn, denn sie brauchen ihn nicht mehr als ein Ganzes, sie brauchen nur noch seine Arme, seine Hände oder was auch immer ihnen noch einfällt. Am Ende – und das ist ihr Ziel, täuscht euch darin nicht –, am Ende werden sie ihn ganz abschaffen, den arbeitenden Menschen, so wie sie bereits alles Menschliche in sich selbst abgetötet haben.«
In der Abgeschiedenheit ihres Zimmers beäugte Sala neugierig das Bild, das sie sich von diesem Mann machte. Er wird nicht besonders attraktiv sein, dachte sie. Auch kein Intellektueller, dafür plapperte er zu gewollt in einem wenig kultivierten Tonfall. Aber es schwang eine Begeisterung in seiner Stimme mit, den Glauben an die rechte Sache konnte man ihm wohl nicht absprechen. Wie anders als in Deutschland klangen diese Töne, denn die Begeisterung der Nazis, das begann sie zu begreifen, wurde von einem kalten Feuer am Leben gehalten.
»Antonio, mein Freund, du bist entzückend, aber dein sentimentaler Geschichtsunterricht, den du uns hier voller Selbstergriffenheit vorträgst, verändert gar nichts. Deine republikanischen Freunde, deren Beifall du dir mit solchen wohlfeilen Reden erkaufen möchtest, scheißen auf den kleinen, dicken Bauernlümmel, der du für sie immer bleiben wirst.«
Ha, dachte Sala, klein und dick, ich wusste es.
»Wir brauchen keine Selbstbeweihräucherungsartisten, wir brauchen bessere Waffen, nicht diese verrosteten Flinten. Wir brauchen deine aufrüttelnden Reden nicht. Wir von den Internationalen Brigaden sind mutig, viel mutiger als Francos verdammte Truppen. Wir kämpfen nicht für irgendeine hübsche Vergangenheit, wir kämpfen für die Zukunft. Wir kennen nur eine Hemmung, die Ladehemmung unserer beschissenen Gewehre, die allesamt in den Orkus gehören. Hast du darauf eine Antwort, dann sag es, hast du Waffen, dann gib sie uns, ansonsten rate ich dir, deine weinerlichen Reden woanders zu halten.«
Sala saß jetzt aufrecht in ihrem Bett. Die Stimme, die sich eben so vehement und männlich erhoben hatte, kam aus dem kleinen, zähen Körper ihrer Mutter. Diese entschlossene Frau kannte sie nicht. Es war still geworden. Sala hörte das Knarren eines Sessels. Jemand stand auf.
»Sehr verehrte Genossin Doña Isabella.« Es war wieder der Kleine, Dicke, den ihre Mutter mit dem Namen Antonio angesprochen hatte.
»Doña Isabella …« Weiter kam er nicht.
»Spar dir dein selbstgefälliges Getue.«
»Was erlauben Sie sich, Doña Isabella!«
»Was erlaubst du dir, du verlogener Dorftrottel.« Ein Raunen ging durch die Reihen. »Was willst du hier überhaupt? Wer hat dich eingeladen? Schämst du dich nicht nach den Kämpfen in Toledo? Wie kannst du es wagen, dich mit uns an einen Tisch zu setzen und von gemeinsamen Zielen zu faseln. Unsere Freunde sind in Toledo jämmerlich verreckt, weil du ihnen Gewehre geliefert hast, die du wahrscheinlich aus den Ställen deiner geliebten Dorfgemeinschaften unter den Ärschen deiner Ziegen hervorgeholt hast. Sei froh, dass wir dich am Leben lassen. Du hast den Frauen ihre Männer geraubt, du hast ihre Kinder zu Waisen gemacht und traust dich hier zu erscheinen und dummes Zeug über Bakunin oder Marx zu schwätzen, von denen du keine einzige Zeile gelesen hast. Du und deine ganze Mischpoke.«
»Sie irren sich, Verehrteste, Sie irren sich gewaltig. Ha! Das ist ein erneuter Beweis für Ihre jüdische Gehässigkeit, für Ihre Verlogenheit.« Die Stimme begann wieder zu zittern. »Ich habe die gesamten Jugendschriften von Marx und sein bahnbrechendes Werk, seine brillante Analyse der kapitalistischen Gesellschaftsordnung, ja, Das Kapital, meine Freunde, sehr wohl gelesen, ha! Ich habe damit mein Gehirn prall wie den Euter einer Ziege gefüllt.«
»Aber nichts verstanden, nichts verstanden! Da kannst du dich noch so sehr bemühen, der Verstand hat nichts gemein mit den Zitzen deiner Ziegen.«
»Meine Freunde, meine Freunde … äh … äh …«
»Määääh, määäääh, määäääh, määääh.« Iza ahmte unter dem schallenden Gelächter der Gäste eine Ziege nach.
Als Sala am nächsten Morgen aufwachte, war es noch dunkle Nacht. Vorsichtig streckte sie ihre schmerzenden Glieder. Sie verspürte einen schalen Geschmack im Mund. In ihrer Armbeuge entdeckte sie einen blutunterlaufenen Fleck. Jemand schien ihr eine Spritze gegeben zu haben. Sie war in Madrid. In der Wohnung ihrer Mutter. Es roch nach Medizin. Auf dem Nachttisch stand ein Glas Wasser, daneben lag offen ein Tablettenröhrchen. In ihren Schläfen pochte es. Sie wusste nicht mehr, wie sie hierhergekommen war. Vorsichtig schob sie die Decke beiseite und setzte die Füße auf den Holzboden.
Als sie die Vorhänge aufzog, fiel ihr Blick auf eine sonnenhelle Straße, auf der Menschen geschäftig auf und ab wimmelten. Es war Tag. Sie öffnete das französische Fenster und atmete die Frühsommerluft ein. Verträumt lauschte sie dem Lärm einer einfahrenden Straßenbahn, während der Geruch von Teer und Asphalt ihre Sinne weckte. Es klopfte an der Tür.
»Wie geht es dir?« Ihre Mutter trat näher.
Sie wirkte weniger streng als gestern. Salas Angst war verflogen. Stattdessen strahlte sie mit einem Mal über das ganze Gesicht. Sie stürzte mit weit ausgebreiteten Armen auf Iza zu und ließ sie nicht mehr los.
»Was ist passiert?«, fragte sie unsicher, als sie sah, wie blass ihre Mutter war.
»Du bist ganz plötzlich bewusstlos vom Stuhl gefallen.« Unter ihren Augen erkannte Sala die Schatten einer schlaflosen Nacht.
»Hast du das öfter?« Sie setzten sich beide auf Salas Bett.
»Nein. Noch nie. Ich …«, Sala fühlte sich verunsichert, ohne zu wissen, warum.
»Zuerst konntest du plötzlich nicht mehr sprechen. Dabei …« Iza schwieg, als wüsste sie nicht, ob es der richtige Zeitpunkt war, darüber zu sprechen. »Es war wie damals in Berlin. Du hast mich mit großen Augen angestarrt, als wolltest du etwas sagen, aber dein Mund, du …«
Überrascht erkannte Sala, wie schwer es ihrer Mutter fiel, über diese Zeit zu sprechen, in der sie als Kind geschwiegen hatte.
In ihrem Kopf begann es sich wieder zu drehen. Ihre Mutter sah sie an. Da war er wieder, dieser stille Vorwurf, dieser anklagende Blick, dieser Zwang, sich zu erklären. Was sollte sie denn erklären? Warum wollten immer alle alles von ihr wissen? Was wusste sie schon selber? Nichts. Rein gar nichts. Das war nicht gut, was jetzt geschah, sie konnte es fühlen, es war falsch, alles wurde verkehrt. Sie sah den Zorn, den ihrer Mutter und ihren eigenen. Gerade noch waren sie beide traurig gewesen, aber nun waren sie wütend, und Sala fragte sich, wer nun als Erste schreien würde? Wo sollte sie hinlaufen in diesem Moment? Sie war hier fremd. Sie kannte die Wege nicht, nicht die Straßen und Plätze, auch die Sprache beherrschte sie kaum. Sie war es, die Hilfe brauchte. Sie. Plötzlich packte Sala ihre Mutter am Arm. Sie drückte so fest zu, wie sie konnte. Ihre Hände wurden weiß, ihr Atem ging schneller. Ihre Mutter saß reglos vor ihr.
»Was machen wir heute?«
Ihre Stimme stand laut und kraftvoll im Raum. Iza befreite sich vorsichtig aus der Umklammerung ihrer Tochter.
»Du bist etwas überspannt, mein Kind. Vielleicht ging das alles zu schnell. Dein Brief. Die Anreise. Zu viel auf einmal nach all den Jahren. Es war ein Fehler. Gut gemeint ist eben nicht gut.«
Sala fasste wieder nach ihrer Mutter.
»Wer war gestern zu Besuch?«
»Niemand.« Iza rückte von ihr ab.
»Aber ich habe doch Stimmen gehört. Ihr habt über Politik geredet.«
»Das musst du geträumt haben. Wahrscheinlich geistert dir Deutschland durch den Kopf.«
»Nein, nein, ihr habt über Franco und die Anarchisten geredet, ich habe es doch genau gehört.«
Izas Stimme hatte wieder zu ihrer gewohnten Festigkeit gefunden. Sie richtete sich auf und strich mit den Händen über ihren hellen Rock.
»Wahrscheinlich ist das Frühstück jetzt kalt. Aber Tortilla schmeckt auch so. Ich muss weg, wir sehen uns später.«
Im Bad versank Sala in ihrem Spiegelbild. Wie sie wohl auf andere wirkte? Otto hatte sie nie beschrieben. Auch ihr Vater nicht. Ihre Hände legten sich um den Waschbeckenrand, als wollte sie die Porzellanschüssel zerbrechen. Wieder schaute sie in ihr Gesicht. Es war angeschwollen und leuchtete rot, aber auch hier konnte sie kein Gefühl erkennen. Wer war sie? Die Tochter einer polnischen Jüdin, die ihren Mann verlassen hatte, ihren Vater, einen Bohemien, Anarchisten und Atheisten, wie seine Frau, die er immer noch zu lieben schien, er, der auch Männer liebte, der sich vielleicht auch in Tomás verliebt hatte? Sie, die Tochter eines gebildeten Protestanten, dem alles Kirchliche lächerlich erschien, die auf eine katholische Mädchenschule geschickt worden war und sich in einen kommunistischen Arbeitersohn aus dem dunkelsten Kreuzberger Hinterhof verliebt hatte; die – sie hatte es vom ersten Moment an gespürt – sich von dem Geliebten ihrer Mutter, einem zwanzig Jahre jüngeren Budapester Juden, der sich hier offenbar als ihr Bruder ausgab, also offiziell ihr Onkel war, beschämend angezogen fühlte; die in ihrem eigenen Land nur noch als halber Mensch galt, ohne auch nur das Geringste über ihr Judentum und seine Geschichte zu wissen; die noch vor wenigen Monaten eine glühende Nationalsozialistin werden wollte, enttäuscht, dass der Bund Deutscher Mädchen eine wie sie niemals aufnehmen würde. Wütend schlug sie mit der Faust auf ihr Spiegelbild ein und starrte in das zersplitterte Gebilde. Von ihrer Hand tropfte Blut auf weiße Fliesen. Triumphierend fühlte sie endlich Schmerz und sank erleichtert schluchzend zu Boden. Im Nebenzimmer wurde leise die Tür geöffnet. Jemand trat herein.
»Sala?«
Sie erkannte die helle Stimme von Tomás. Sie sprang auf und wusch sich eilig das Blut von der Hand. Es half nichts, es floss weiter aus ihr heraus. Sie wollte gerade rufen, da tauchte Tomás hinter ihr in dem zerborstenen Spiegel auf. Sie drehte sich schnell um, ihre Hand hinter dem Rücken verbergend.
»Ich … ich wollte eine … Kakerlake über dem Spiegel … ich wollte sie totschlagen und … wo ist das verfluchte Viech jetzt überhaupt?«
Sie ging auf die Knie und suchte mit übertriebenem Eifer unter dem Waschbecken.
»Kakerlaken gibt’s hier einige. Sie klettern aus der Kanalisation durch die Wasserrohre hinauf. Unangenehme, äußerst flinke Mitbewohner. Ich werde einen Kammerjäger bestellen.« Er sah sie herausfordernd an. Sie lächelte verlegen. Auf einmal spürte sie, wie ungewöhnlich heiß es jetzt schon war.
»Ich würde dich gerne malen.« Sein Blick fiel auf ihre blutende Hand.
Sie sah zu ihm auf. Er stand immer noch in der Tür zum Badezimmer. Jetzt trat er einen Schritt näher. Sie bewegte sich nicht. Er trug eine dunkle, weite Hose, sein weißes Hemd war halb offen. Sie sah seine Haut. Seine Hände wirkten viel zu groß für den schmalen Körper.
»Wo ist meine Mutter?«
»Unterwegs.« Er beugte sich zu ihr herunter. »Komm.«
Er nahm sie an der Hand und führte sie schweigend durch die leere Wohnung. Wieder fielen ihre Augen auf die nackten Glühbirnen. Er öffnete die Tür zu einem lang gestreckten, leeren Raum.
»Mein Atelier.«
Er ließ ihr den Vortritt. Sie drehte sich durch den Raum wie durch einen Tanzsaal. Sie atmete den Geruch von Farbe und Terpentin. An der Wand standen mehrere angefangene Bilder, die Staffelei war leer. Tomás schloss die Tür.
Die Hufe eines mächtigen Stieres donnerten auf das Pferd zu. Der Reiter versuchte verzweifelt, dem kraftstrotzenden Bullen seine Lanze in die Nackenmuskulatur zu stoßen. Pfiffe gellten von den gefüllten Rängen. Alles, was sie sah, war für Sala verabscheuenswert, aber sie fühlte sich wohl auf ihrem Platz. Sie genoss dieses Schauspiel, zu dem ihre Mutter und Tomás sie überredet hatten.
»Der Picador versucht die Muskelstränge des Stiers zu treffen, damit er den Matador später nicht mehr mit erhobenem Haupt angreifen kann«, erklärte Iza. Sie gehörte zu den Aficionados dieses Schauspiels. Plötzlich packte sie Salas verwundete Hand.
»Was ist das?«
Ehe Sala antworten konnte, sprangen die Menschen um sie herum von ihren Sitzen. Vereinzelte Schreie, lautes Raunen, Pfiffe und Gelächter.
Auch Sala war aufgesprungen. Unten in der Arena riss der Stier dem Pferd mit seinen gewaltigen Hörnern den Unterleib auf. Das Tier sackte unter seinem Reiter zusammen. Der Picador rettete sich mit einem Schwung aus dem Sattel über die hölzerne Balustrade, während die herbeieilenden Banderilleros versuchten, den wütenden Stier mit Schreien und mit ihren Capas, den Umhängen, von dem verletzten Pferd wegzulocken. Schnaubend fuhr der schwere Bulle herum und galoppierte nach kurzem Zögern auf die geschickt ausweichenden Banderilleros zu. Sie platzierten ihre Banderillas mit den spitzen Widerhaken in seinem Nacken. Sala schaute hin- und hergerissen von dem Stier zu dem verletzten Pferd. Es schabte an der Holzwand entlang, seine Vorder- und Hinterbeine knickten immer wieder ein. Aus seinem aufgerissenen Leib quollen die Gedärme, die das Tier wie eine riesige Nachgeburt hinter sich herschleifte. Es blieb nur das protestierende Geschrei der Masse, ein Tumult, für den Sala keine Erklärung wusste.
Nach einigen Minuten hatte sich alles beruhigt. Das Pferd war verschwunden, die Banderilleros hatten ihre Arbeit getan, alle warteten gespannt auf den letzten Akt, den Auftritt des Matadors. Zuerst war Sala enttäuscht. Er war von untersetzter Statur, seine einfachen Bewegungen wirkten desinteressiert. Sala verstand nicht, was vorging. Auch der Stier wirkte verändert. Eine atemlose Stille breitete sich aus.
Sala sah, wie sich der Stier in einiger Entfernung vor dem Matador positionierte. Beide standen ruhig da. Aus dem Stand donnerte das Tier auf den Mann los. Sala fühlte die Erschütterung im Unterleib. Der Matador rührte sich nicht von der Stelle, als seien seine Füße in der Erde verwurzelt. Ruhig nahm er mit beiden Händen die Capa vor den Körper und bewegte sie im letzten Moment weich und sanft zur Seite. Der Stier schob seinen riesigen Kopf dicht an seinem Körper vorbei, hinein in das Tuch.
»Das kann nur Enrique, schau, seine Füße haben sich nicht bewegt.«
Iza fasste ihre Tochter an der verletzten Hand und drückte fest zu.
»Diese Bewegung nennt man Veronica, wie das Schweißtuch Jesu. Damit führt er den Stier so dicht wie möglich an seinem Körper vorbei. Wenn es perfekt ist, wirst du nachher das Blut des Tieres an seinem weißen Hemd sehen. Schau, noch eine und noch eine. Damit zeigt er, wie er den Stier kontrolliert. Und jetzt eine halbe Veronica zum Abschluss. Da. Perfekte Eleganz.«
Sala zuckte bei dem letzten Wort zusammen. Der Matador hatte den Stier mit dieser letzten Bewegung zum Stehen gebracht und wandte sich nun von ihm ab. Sein Hemd war knapp unter der Brust blutverschmiert.
Salas Kopf drehte sich leicht.
»Ich glaube, mir wird schlecht«, flüsterte sie.
»Nicht jetzt«, sagte Iza.
Ihre Stimme zwang Sala auszuharren. Tomás beobachtete die Frauen von der Seite.
Der Stier machte sich wieder zum Angriff bereit. Iza sah ihre Tochter an.
»Nur was wir verlieren können, verdient unsere ganze Liebe. Alles andere ist gepflegte Langeweile.«
Enrique vollführte eine Reihe von Veronicas, mit denen er den Stier auf engstem Kreis wenden ließ, bis er das erste Mal in die Knie ging. Dann entfernte er sich wieder. Die Menge tobte vor Begeisterung.
»Ich habe das Bild gesehen, das Tomás von dir gemalt hat.«
»Und?«
»Sehr hübsch.« Sie wandte sich mit einem Lächeln zu Tomás.
»Erzähl mir von deinem jungen Freund in Berlin, wie heißt er gleich?«
»Otto.«
»Richtig, Otto.«
»Er würde dir gefallen.«
»Muss er das?«
»Ich dachte, es würde dich freuen.«
»Du bist genau so ein Früchtchen wie dein Vater.«
»Es gibt weniger schmeichelhafte Vergleiche.«
»Wollte ich dir schmeicheln, würde ich seine besseren Eigenschaften heranziehen.«
»Was habe ich dir getan, dass du mich so hasst?«
»Es gibt zwei Dinge, die ich nicht ausstehen kann. Verlogenheit und Selbstmitleid.«
»Auf dein Mitleid könnte ich auch lange warten.«
»Mitleid gibt’s umsonst an jeder Ecke, Neid musst du dir erst verdienen.«
»Ich dachte, das hätte ich gerade.«
Iza starrte sie wütend an.
»Luft«, dachte Sala, »Luft.«
Der Stier galoppierte mit gesenktem Kopf auf Enrique los. Durch eine Bewegung mit der scharlachroten Muleta zwang er ihn zum Stehen. Sie sahen einander in die Augen. Enrique hielt mit der linken Hand die rote Seite der Muleta direkt vor seinen Körper, während er den Degen mit der Rechten herauszog. Iza griff nach Salas Hand. Der Stier setzte zum Sprung an. Enrique schob sich zwischen seine Hörner, wich unmerklich zurück und stieß ihm den Degen bis zum Schaft zwischen die Schulterblätter.
»Mitten ins Herz«, sagte Iza trocken. Sie atmete aus.
Enrique wandte sich pietätvoll ab. Der Stier knickte zuerst ein, dann fiel er zur Seite, drehte sich auf den Rücken, seine Läufe trabten zuckend durch die Luft. Wie die Arme und Beine eines hilflosen Babys, dachte Sala. Von der Seite schaute sie in das Gesicht ihrer Mutter. Iza weinte.