42

German war ein Filou. Das wusste Sala vom ersten Moment an. Sie wusste, dass er hinter jedem Rock her war und dass Mercedes es auch wusste. Es war also nur eine Frage der Zeit, wann die ersten Probleme auftauchen würden. Bis dahin galt es, auf der Hut zu sein.

Warum waren alle Ehen so schwierig? Die einzige gute, an die sie sich erinnern konnte, war die von Lola und Robert – und das wohl auch nur, weil beide etwas eigen waren. War das das Geheimnis? Sala dachte oft, sie würden einander nicht brauchen. Lola widersprach ihr in diesem Punkt, auch Cesja hatte nur gelacht, als sie darüber tratschten.

»Lola ist ein kleines Biest, sie war immer die schlimmste von uns dreien«, sagte sie bei einem dieser Gespräche.

»Lola?«, fragte Sala überrascht.

Sie war ihr ganz anders erschienen. Aber als sie darüber nachdachte, kam ihr die Erinnerung an diese eigenartig unkomplizierte Dreiecksbeziehung in den Sinn. Das war doch nicht normal. Andererseits schien es keinen der Beteiligten zu stören. Anfangs hatte sie großes Mitleid mit Robert. In keiner Sprache gab es so viele verschiedene Ausdrücke für den betrogenen Mann wie im Französischen. Couplets, Einakter, ganze Theaterstücke nahmen sich seiner an. Entweder handelte es sich dabei um ein recht alltägliches Problem, oder die Franzosen entwickelten eine perfide Freude daran, den Gehörnten singend und dichtend vor sich herzutreiben. Aber Robert schien darüber nicht unglücklich, wie sie bald festgestellt hatte. Vielleicht war er froh, die Last nicht allein schultern zu müssen, vielleicht war er am körperlichen Aspekt der Liebe weniger interessiert und teilte mit Lola andere Dinge, die nur ihm vorbehalten waren, vielleicht naschte er selber in fremden Gärten, die sehnsuchtsvollen Blicke seiner Studentinnen, ihr beredtes Schweigen, wenn er scheinbar zerstreut an ihnen vorbeihuschte – gewiss jede einzelne wahrnehmend, denn er nahm immer alles wahr –, ließen allerlei Möglichkeiten erahnen. Jedenfalls hatten sie ein Auskommen miteinander gefunden, nein, mehr als das, eine Komplizenschaft, ein spielerisches Beieinander, das ihnen selbst eine diebische Freude zu bereiten schien, von der jeder Außenstehende ausgeschlossen war. War es das? Etwas exklusiv miteinander zu teilen? Oder war es eine Art seltsamer Verbindung, die sich zwischen Robert und Lolas Liebhaber ergab, weil sie beide mit ihr geschlafen hatten? Könnte Robert daraus ein Gefühl der Überlegenheit beziehen? War es eine versteckte oder zumindest uneingestandene Rache? Lächelte er deswegen so frivol, wenn Lola den Namen ihres Liebhabers scheinbar absichtslos fallen ließ? Und wenn der Zufall oder das Schicksal es wollten, dass Otto und Hannes eines Tages einander begegneten? Sie spürte, wie sie bei dem Gedanken erschrak. Würde sich eine Nähe zwischen ihnen ergeben? War so etwas überhaupt vorstellbar?

Sala und Ada wurden durch Mercedes’ Einfluss bei den Behörden nicht nur katholisch getauft, sie erhielten beide ohne Komplikationen die argentinische Staatsbürgerschaft. Zum ersten Mal seit ihrer Jugend fühlte Sala sich wieder als vollwertiger Mensch. Sie musste nicht mehr um Aufenthalt bitten, sie hatte das Recht, hier zu leben, bis zu ihrem Tod. Deutschland war weit weg. Niemand würde sie mehr vertreiben können. Die Vergangenheit war nur noch ein ferner Schatten, der sie immer seltener in der Einsamkeit der Nacht heimsuchte, wenn sie mit offenen Augen neben ihrer Tochter im Bett lag und betete, dass sie eines Tages sprechen würde. Zwar hatte Mercedes ihr angeboten, einen befreundeten Therapeuten nach einem geeigneten Kinderpsychologen zu fragen, aber Sala lehnte den Gedanken, ihr Kind könnte krank sein, kategorisch ab. Heimlich machte sie sich aber Vorwürfe, zermarterte sich das Gehirn, woran es liegen mochte, dass ausgerechnet ihre Tochter nicht sprechen konnte. Eine Entwicklungsstörung? Nein, nein, das durfte nicht sein, das konnte nicht sein. Sie streichelte vorsichtig Adas kleinen Kopf, schob ihre dunklen Locken zur Seite. Ihr Vater hatte es doch gesagt, Ada würde schon früh genug mit dem Sprechen beginnen und dann wahrscheinlich nie mehr damit aufhören können. Sala stellte sich vor, wie ihre Tochter sie mit einem nicht abreißenden Redefluss überschwemmte. Die Worte sprudelten aus ihr heraus, verwandelten sich in spitze Pfeile, die das hämisch grinsende Kind auf sie, die hilflose Mutter, abfeuerte. Sie fühlte, wie die Wut in ihr emporkroch. Sie dachte an ihre Mutter, sah, wie Iza sie am Handgelenk packte, genau wie damals auf der Plaza de los Toros, der Stierkampfarena in Madrid. Was hatte sie zu ihr gesagt? Sie wusste es nicht mehr. Es war erniedrigend gewesen. Sie hatte sich nur darauf konzentriert, ihren Schmerz zu unterdrücken. Warum hatte sie damals nicht geschrien? Warum hatte sie sich nicht gewehrt, als das Blut aus ihrer Schnittwunde pulsierte? Am liebsten würde sie Ada jetzt packen, sie schütteln, sie ohrfeigen, bis sie endlich den Mund aufmachte, bis sie endlich etwas sagte, egal was. Von heftigen Magenkrämpfen geschüttelt, verließ sie fluchtartig das Zimmer. Sie war vielleicht eine schlechte Mutter, aber dieses Kind, was um alles in der Welt stimmte nicht mit diesem Kind? Und warum musste sie das alles alleine schultern? Warum war Otto nicht da, um ihr zur Seite zu stehen? Tagein, tagaus musste sie sich um fremder Leute Kinder kümmern, während sie ihrer eigenen Tochter nicht helfen konnte. Sie war allein, sah und sprach niemanden, außer dem Personal, Dienstboten, sicher nett, aber ungebildet. Sie hatte keine Zeit zu lesen, etwas für sich zu tun, für ihre Entwicklung. Keine Zeit, Menschen zu finden, die ebenso fühlten und dachten wie sie. Es war beschämend, wie man als unverheiratete Frau dastand. Ehrlos, ohne jede Würde, ein Arbeitstier. Glich sie nicht einem Esel oder einem Maultier, das sich im Kreis um den Brunnen drehte, um für die Herrschaft das Wasser heraufzupumpen? Sie starrte Ada an. Warum hatte sie ihr zweites Kind nicht halten können?

Juanita und Diego spielten in ihrem Zimmer, als Ada schweigend hereinkam.

»Hau ab«, sagte Juanita, »wir wollen nicht mit dir spielen.«

Ada blieb neben der Tür stehen und sah sie finster an.

»Hast du nicht gehört, was meine Schwester gesagt hat? Verschwinde! Und hör auf zu starren, du Hexe!«

Juanita und Diego lachten.

»Hexe«, riefen sie fröhlich, »stinkende Hexe.«

Ada rührte sich nicht. Die Hände hinter dem Rücken verschränkt, lehnte sie an der Wand.

Diego sprang auf sie zu. Er zog sie an den Haaren. Ada sah ihn stumm an.

»Hallo, Hexe«, rief er laut, wie ein Kind, das sich im Dunkeln fürchtet. »Du bist unser Sklave, unser Esel, unser Stinktier, und du musst ab jetzt alles machen, was wir sagen, sonst sagen wir unsern Eltern, dass sie euch rausschmeißen sollen.«

»Ja, die sollen euch rausschmeißen, dich und deine blöde Mutter, die uns immer mit ihren Geschichten langweilt«, fiel Juanita mit ein.

Diego ahmte Sala nach. »Naaaa, meine Süüüüßeen. Habt ihr auch schööööön zugehört? Wer kann mir das denn jetzt alles noch maaaal erzählennnnn?«

»Hör auf, so blöd zu starren, Hexe! Sprich, Hexe! Du kannst zaubern, aber nicht sprechen? Was bist du denn für eine Hexe? Wir sind stärker als du. Wir sind zu zweit. Du hast ja nicht mal einen Bruder oder eine Schwester.«

Sie lachten laut.

»Jedes Kind hat einen Bruder oder eine Schwester. Jeeeedes.«

Sie schrien vor Freude. »Jeeeedes, würde deine liebe Mamita sagen.«

Ada begann leise zu summen. Die beiden sahen sie erschrocken an.

»Lass das, Hexe, sonst verbrennen wir dich.«

Das Summen wurde lauter.

»Du sollst aufhören, habe ich gesagt, sonst holen wir unsern Vater, und der schlägt dich zu Brei, hast du verstanden?«.

Während Diego sprach, wurde Adas Summen immer lauter, wuchs an zu einem spitzen, ohrenbetäubenden Schrei, der den Zwillingen durch Mark und Bein fuhr. Die Gesichter angstverzerrt, versuchten sie an der nun schrill singenden Ada vorbei aus dem Zimmer zu fliehen. Aber Ada stand mächtig vor der Tür. Sie versperrte ihnen den Ausgang, bis beide laut weinend in die entlegenste Ecke des Zimmers krochen.

Als Sala die Tür öffnete, war es still. Die Kinder saßen zu dritt am Boden. Ada wandte ihrer Mutter den Rücken zu. Sie spielten einträchtig miteinander. Nur Juanita und Diego sahen schweigend Adas drohenden Blick.

Mercedes kam aus einer der größten Rinderzüchterfamilien Argentiniens. Ihr Land war so weit, dass man es in einer Woche nicht umfahren konnte. Der Reichtum der Familie war unermesslich. Trotzdem lag nichts Prahlerisches in ihrem Wesen. Der Vater war von ruppiger Herzlichkeit, die Mutter lebte zurückgezogen. Die ein oder andere Andeutung ließen Sala befürchten, sie habe sich schon vor längerer Zeit auf eine Reise in die Dunkelheit begeben, auf der sie niemand begleiten konnte.

Wenn man sie bei großen gesellschaftlichen Anlässen aus der Ferne sah, wirkte sie immer gepflegt, nickte freundlich, sprach aber kaum mehr als ein gehauchtes »Guten Abend« oder »Wie schön, Sie zu sehen«. In Wahrheit war sie vollkommen dement.

Am Morgen, als sie die Stadt verlassen wollten, um die ersten Ferienwochen auf der Finca von Mercedes’ Eltern zu verbringen, traf Post von Otto ein. Sie war den ganzen Tag in Eile, alles musste schnell gehen. Während sie die Kinder versorgte, ließ sie Kleidung und Spielzeug in großen Reisekoffern von Louis Vuitton verschwinden und suchte unter den Kleidern, die ihr Mercedes zur Auswahl hatte bereitlegen lassen, aus, was sie für die abendlichen Anlässe auf der Finca brauchen würde. In dieser Aufregung war es Sala unmöglich erschienen, einen Augenblick der Ruhe zu finden, um Ottos Karte, die ihr von dem Hausdiener Augusto aus Diskretion in einem Umschlag überreicht worden war, zu lesen. Den ganzen Tag über trug sie den Brief unter ihrem Herzen. Jetzt endlich, als die Gäste zu den traurig lockenden Klängen der Tangogruppe zu tanzen begannen, zog sie sich in eine Ecke zurück.

Sie erbrach das Kuvert und ließ ihre Augen über die wenigen Zeilen fliegen. Alles in ihr versteifte sich. Sie spürte einen Stich in ihrem Kopf, als würde sie jemand am Nacken packen und schütteln. Sie versuchte, sich zu befreien, sich loszureißen. Das konnte nicht sein. Das war nicht Otto, der ihr schrieb. Nicht so. Was da stand, war unbarmherzig und kalt. Sie las die Worte wieder und wieder. Je öfter sie sie las, desto weniger verstand sie ihre Bedeutung, es war, als würden sie mit jedem Mal mehr zerfallen, als würden die Buchstaben ihren Platz wechseln, auf der Suche nach ihrer eigentlichen Bestimmung, denn das, was da stand, das konnten sie nicht sagen wollen. Diese Worte kamen nicht von dem, den sie über alles liebte. Diese Worte wollten sie belügen, ihr vormachen, dass Otto, der Mann, den sie heiraten, mit dem sie hier eine gemeinsame Existenz aufbauen wollte, nicht der Mann sei, für den sie ihn gehalten hatte. Sie wollten ihr sagen, schwarz auf weißem Grund, dass dieser Mann, dieser Otto, sich ein Leben mit ihr nicht mehr vorstellen könne, auch dann nicht, wenn er je wieder die Freiheit erlangen sollte, dass er kein Kind von ihr wolle, dass er ein anderer geworden sei.

Sie rannte zur Toilette, um sich das verheulte Gesicht zu waschen. Aus einem Gang sprang German sie an. Er lachte schallend, wie ein Junge, der beim Versteckspielen gewonnen hat. Er war betrunken, was ihn noch verwegener als sonst auftreten ließ. Er war es offensichtlich nicht gewohnt, auf Widerstand zu stoßen. Er war in seinen Augen nicht nur reich, begabt und gut aussehend, er hielt sich für unwiderstehlich. Sein Temperament tänzelte zwischen jungenhafter Verspieltheit und viriler Unverschämtheit. Verlor er das Gleichgewicht auf diesem Seil, wurde er entweder kindisch oder brutal. Nur mit Mühe konnte Sala ihm entkommen. Empört stürzte sie die Treppe zum Park hinunter, stolperte über die Terrasse, verlor einen Absatz, zog beide Schuhe aus und rannte schluchzend hinaus in die von Fackeln erleuchtete Nacht. Sie rannte und rannte, bis das riesige Anwesen in ihrem Rücken nur noch ein Lichtermeer war. Endlich sank sie erschöpft zu Boden.

Sie wusste nicht, wie lange sie schon dort lag, als sie plötzlich nackte Füße über das Gras huschen hörte. Das Rascheln eines Kleides ließ sie hochschrecken. Mercedes saß dicht bei ihr. Überrascht richtete sich Sala auf. Im Vollmond sah sie ihre Augen leuchten, ein scharfes, schnell um sich greifendes Feuer blitzte aus ihrem Gesicht. Sie hatte eine Flasche dabei. Mercedes fasste den Korken, drehte und zog ihn, ließ sanft die Luft entweichen. Champagner perlte in die Gläser. Schweigend reichte sie Sala ein Glas. Ein Klirren, dann stürzten sie den Inhalt hinunter.

Die Luft war noch warm. Der Boden weich und schon etwas feucht. Langsam begannen sie zu sprechen. Sie erzählten sich ihr Leben. Ihre Enttäuschungen nach immer neu gehegten Hoffnungen, sie lachten über das so leicht zu ergründende Wesen der Männer, stutzten, fluchten und weinten darüber, dass es ihnen trotzdem immer wieder gelang, sie zu verletzen.

Sie sprachen über ihre Mütter, über ihre Angst, ihnen im tiefsten Innern zu gleichen. Sie wunderten sich über die Ähnlichkeit ihrer Väter, die einzigen Männer, die anders als alle anderen waren. Sie fragten sich, warum ihre Mütter so falsch, so gedankenlos verletzend mit ihren Vätern umgegangen waren, warum sie sich von ihnen entfernt hatten, wie ihre Liebe wohl gewesen sein mochte, als sie jung waren, und ob es an ihnen, den Töchtern, gelegen haben könnte, dass die Liebe kühler Distanz gewichen war, um sich bald darauf davonzuschleichen. Hass, darin waren sie sich einig, hatten beide bei ihren Eltern nicht erlebt, wohl aber eine zunehmende Entfremdung, an der sie als Kinder zu ersticken geglaubt hatten. Sie sprachen über die Zwillinge, und Sala erzählte von Adas Geburt und von dem Verlust des zweiten Kindes.

Mercedes reichte ihr eine brennende Zigarette, die leere Flasche rollte den Hügel hinunter. Sala fühlte eine tiefe Traurigkeit, die sich langsam wie eine schwere Wolke über sie schob. Und während diese Wolke sie beide einhüllte, sich wie eine Glocke über sie stülpte, glitt Mercedes’ Hand zu ihr, tastete nach ihrem Arm, fühlte ihre Finger. Ihre Köpfe stießen zusammen, Sala spürte etwas Warmes, Weiches, das feucht über ihre geschlossenen Augen, ihre Wangenknochen, ihre Lippen fuhr, sich in ihren Mund schob, ihre Zunge berührte, während eine Hand von den Knien aufwärtsglitt, bis Sala sich öffnete. Feiner Regen fiel auf ihr Gesicht. Ihr wurde schwarz vor Augen.

Als sie aufwachte, lag sie allein im Gras. Aus der Ferne tönte das Geschrei der Kiebitze. Pferde wieherten in die Morgenstille. Im Osten tauchte die aufsteigende Sonne die Wolken in leuchtendes Rot. Mit dem Wind kam das Quaken der Frösche.

43

»Wie hieß Großvaters zweite Frau mit Nachnamen? Nohl?«

»Nein, er hat sie ja erst kurz vor seinem Tod geheiratet, damit sie versorgt war. Sie hieß Wentscher, Dora Wentscher. Wann kommst du mal wieder vorbei? Du hast dich ja ewig nicht gemeldet.«

Ich murmelte eine kurze Entschuldigung, etwas von Arbeit und Familie, und beeilte mich, das Gespräch zu beenden. Ich wollte so schnell wie möglich Doras Namen in die Suchmaschine eingeben. Zu meiner Überraschung stieß ich dabei auf ein Buch über meinen Großvater und seinen Bruder Hermann Nohl. Ein Leben im Schatten. Gemeint war mein Großvater, der erst im hohen Alter, in der DDR, ein wenig aus dem Schatten seines Bruders, des Göttinger Pädagogik-Papstes, heraustreten konnte.

Ich notierte mir den Namen des Autors, Peter Dudek, ein Erziehungswissenschaftler, der zuletzt als außerordentlicher Professor an der Goethe-Universität in Frankfurt gelehrt hatte. Das Buch war gut recherchiert. Vieles deckte sich mit den Erzählungen meiner Mutter. Wie in der Wissenschaft üblich fand ich im Anhang sämtliche Quellenangaben, vor allem aber erfuhr ich, dass sich der gesamte Nachlass meines Großvaters in der Akademie der Künste in Berlin befand. In den folgenden drei Monaten verbrachte ich jede freie Minute im Lesesaal der Akademie in der Kochstraße. Ich stieß auf alte Texte meines Großvaters, die Psychoanalyse, seine sozialpädagogischen Reformansätze, die sein Bruder Hermann geschickt für seine eigenen Schriften genutzt hatte, ich entwickelte ein Bild der Ehe meiner Großeltern, die einander bis zu Jeans Tod regelmäßig an Weihnachten und zum Geburtstag schrieben, immer verbunden mit einem liebevollen Gruß an und von Tomás. Ich machte mir Notizen, ließ Kopien anfertigen, trug alles nach Hause, las alles wieder und wieder, bis diese Menschen zwischen den Zeilen Gestalt annahmen. Eines Tages stieß ich auf ein Konvolut von Briefen meiner Mutter aus Argentinien. Unruhig flogen meine Augen über die, wie mir schien, immer in Eile aufs Papier geworfenen Zeilen. Hier lag alles, wonach ich gesucht hatte. Mein Zweifel an der allzu widerstandslosen Geradlinigkeit der mütterlichen Erzählung wurde Buchstabe für Buchstabe bestätigt. Ich las das erschütternde Dokument einer jungen Frau, die, mehrfach verstoßen, in denkbar großer Ferne ihrer Heimat, Fuß zu fassen versuchte und dabei immer aufs Neue scheiterte. Voller Zweifel, voller Sehnsucht, voller Angst. Zu Cesja und Max fand sie keinen Zugang, fühlte sich und ihr Kind, zu Recht oder nicht, unerwünscht. Ein Gefühl, das in den folgenden Jahren ein ums andere Mal aufgefrischt oder verschärft wurde. Eine stetige Entwicklung, eine mit den Jahren und Ereignissen wachsende Entfremdung, das Abgleiten einer temperamentvollen Frau in einen dunkel gähnenden Abgrund, so wie viele Frauen ihrer Generation, die ein vergleichbares Schicksal teilten. Vor mir lag die Karriere einer Depression, vielleicht auch einer Verzweiflung, deren späte Stationen ich als Kind und Jugendlicher immer wieder erlebte, bis ich versuchte, es ihr gleichzutun, so wie alle Kinder in ähnlicher Lage versuchen, ihre schweigenden Mütter auf diesem Weg zu entdecken, bis sich das schwarze Ungeheuer auch auf ihrer Brust niederlässt, um ihnen den Atem auszupressen.

Rückblickend kann man vielleicht sagen, dass das Verbrechen meiner Mutter darin bestand, eine Jüdin und eine Frau zu sein. Und die Strafen, die die Gesellschaft dafür bereithielt, leben in ihren Kindern fort.

Dieses Land, von dem meine Mutter immer mit verklärtem Blick sprach, blieb mir fremd. Mehrfach blieb ich vor einem Reisebüro stehen, zögerte hineinzugehen und entschied mich dann doch, es nicht zu tun. Warum? Ich wusste es nicht. Argentinien blieb der unerforschte Kontinent, der die Familiengeschichte überschattete. Warum war meine Mutter dorthin geflohen? Ihre Briefe gaben darüber keine Auskunft. Sie selbst weigerte sich, darüber zu sprechen, solange ich denken kann. Der Alltag war schwer, sie bemühte sich, ihr Kind zu erziehen, während sie mit den Launen von Mercedes’ Kindern kämpfte. Sie war jung, sie wollte sich eine Existenz aufbauen, aber sie muss gespürt haben, dass jeder Schritt, den sie unternahm, in eine Sackgasse führte. Immer wieder war in ihren Briefen die Rede von mangelnder Selbstbestimmtheit. Sie fühlte sich isoliert, aufs Neue stigmatisiert, fremd in ihrer Wahlheimat, die sie in derart überstrahlenden Farben schilderte, dass die Konturen auszubrennen drohten. Sie schrieb Briefe über Briefe, versuchte, das Unverständliche zu begreifen, aber je mehr sie schrieb, um die Hoffnung nicht zu verlieren, desto mehr begann sie sich einzugestehen, dass Otto sich zurückgezogen hatte. Immer wieder betonte sie, dass das Leben in Buenos Aires trotz aller Schwierigkeiten wohl leichter sei als in Deutschland. »Ada bekommt jeden Morgen ihr Butterbrot mit Honig und mittags wie abends ein ordentliches Essen. Sie ist gut gekleidet.« All das würde ihr in Deutschland sicher schwererfallen. »Vorderhand«, schrieb sie, »bin ich mit meinem Schicksal zufrieden, wenn es auch ungerecht ist, dass ich alles alleine schultern muss und sich daran wohl auch in Zukunft nichts ändern wird. Ottos Karte war eindeutig, er wird sich jedweder Verantwortung entziehen. Am schwersten trage ich daran, dass ich ihn in seinen eigenen Worten nicht wiedererkenne und mir immer wieder unter Tränen den Vorwurf mache, wie ein dummes Huhn auf ihn reingefallen zu sein.«

Was in den ersten Briefen nur zwischen den Zeilen zu lesen war, brach nun offen hervor. Die Beziehung zu Mercedes kühlte schnell ab. Aus Nähe wurde Eifersucht. German stellte Sala unverhohlen nach und scherte sich wenig um Gerüchte. Das Zusammenleben war vergiftet. Der Hass, in den sich Sala steigerte, half ihr, das täglich drohende Scheitern, ihr Elend, die Demütigung, wieder auf Almosen angewiesen zu sein, vor allem aber die steigenden Selbstzweifel, für ein paar Stunden in Schach zu halten. Aber es kam bald schlimmer. In einem verzweifelten Brief schilderte Sala, dass Mercedes von ihr verlangte, Ada in ein Internat zu schicken, sonst müssten sie beide gehen. Aus dem Mädchen würde sonst eine Versagerin oder eine Verbrecherin, das könne man an ihren Augen erkennen, sie habe dafür einen untrüglichen Blick, das untere Lid wirke verschlagen, das sei kein guter Umgang für ihre Kinder.

Sala fand eine kleine Klosterschule im Landesinneren. Die Nonnen waren freundlich zu Ada. Hier würde sie sich wohlfühlen und vielleicht auch zu sprechen lernen. Sala besuchte sie an jedem freien Wochenende. Ihrem Vater schrieb sie. »Mit den Menschen habe ich kein Glück. Allein das Lesen hilft. Wenn ich mich nur in ein Kleid aus Buchstaben hüllen könnte.«

44

Sie war um vier Uhr morgens aufgestanden, um mit dem Zug rechtzeitig nach La Falda zu fahren, hinein in das überwältigend tiefe Blau des Morgens.

Es war bereits neun Uhr, als sie das Kloster verließen. Die aufsteigende Sonne strahlte die Rückseite des Gebäudes an, die Vorderseite spendete noch kühlenden Schatten. Hand in Hand stolzierten sie den Weg hinunter. Ada trug ein blütenweißes Kleidchen, sie hatte es selbst gebügelt. Salas Kleid war mit bunten Blumen bestickt, ihre Haare dufteten nach Zedernholz, am linken Arm schwenkte sie einen Picknickkorb.

Sie fanden ein schattiges Plätzchen unter Bäumen und ließen sich lachend ins Gras fallen. Bald würde in der Ferne das Sonnenlicht über geschorene Felder flammen, ein goldener Teppich bis zum Horizont. Während Sala in freudiger Erwartung das karierte Tischtuch auf dem warmen Boden ausbreitete, verteilte Ada Teller und Besteck. Mit ihrer kleinen Hand klopfte Ada einen dritten Platz zwischen sich und ihrer Mutter ins Gras. Sala wandte sich ab. Sie konnte den Anblick nicht ertragen. Der Wind schlug sanft seine Wellen ins endlose Grün.

Am Nachmittag hüpften sie über die Wiesen. Hinter einem Weiher grasten friedlich die Ochsen, umflattert von kreischenden Kiebitzen. Bald streckte der Tag sein Haupt strahlend und heiß dem Untergang entgegen. Bevor er brach, sah Ada auf einem Bauernhof, wie sich der Weizen in den fauchenden Schwungrädern der Maschinen in goldenen Regen verwandelte. Sie fasste nach der Hand ihrer Mutter.

»Mama? Warum hat Papa uns nicht mehr lieb?«

Sala hob den Kopf. Was war das? Erschrocken und beglückt fuhr sie mit den Händen über Adas Gesicht. Ihre Tochter hatte zum ersten Mal gesprochen. Sie standen reglos voreinander. Warum konnte sie sie nicht voller Freude in ihre Arme schließen? Jetzt. Schnell. Bevor es zu spät war. Sie spürte Adas Blick, ein spitzer Sonnenstrahl, der sich in ihre Seele brannte. Sie hatte versagt. Sie hatte ihrer Tochter keinen Vater geben können, kein zu Hause, aus dem sie niemand vertreiben konnte, sie hatte weitergegeben, wovor sie geflohen war. Die Fremde hatte sie eingeholt, ihr eigener Schatten erhob sich jetzt gegen sie. Aus der Ferne trieb eine dunkel wachsende Wolke auf sie zu. Ein Unwetter, dachte sie und wunderte sich, dass kein Donnerrollen zu hören war. Der Wind schien den Atem anzuhalten. Dann flog ein spitzes Rauschen herbei, brach herein, stürzte auf sie nieder, entlaubte den Paradiesbaum, zerfraß die Beete, die Kräuter und Pflanzen, riss sie zurück ins Leben mit biblischer Wucht. Heuschrecken, dachte Sala, aber es waren keine da, nur die toten Leiber von Gurs, auf der Ladefläche eines Lastwagens. Sie wirbelte herum.

»Lauf, Ada!«, rief Sala ihrer Tochter zu. »Lauf!«

Ada sah ihre Mutter schweigend an. Ein Gewitter brach über sie herein. Schwarz lag der vom Regen aufgeweichte Boden vor ihnen. Auf dem Rückweg ins Kloster sprachen sie kein Wort.

Als sich Sala tief in der Nacht nach Hause schlich, hörte sie einen trockenen Knall. Ein Schmerz durchzuckte sie, wie ein elektrischer Schlag. Sie wich erschrocken zurück. Vor ihr stand German mit nacktem Oberkörper, in der linken Hand eine Bullenpeitsche. Draußen rauschte der Regen. Sala wusste nicht mehr, wie lange schon.

Als sie später aus dem Fenster sah, stand alles in nassem Grau. Vor ihr die Nacht. Sie musste sich arrangieren. Irgendwann würde in diese Dunkelheit ein neuer Tag leuchten. Irgendwann würde die Sonne reich in ihr Zimmer fließen. Irgendwann würde der Himmel wieder voller Zugvögel sein. Irgendwann.

Wenige Monate nach diesem Vorfall traf ein Brief von Otto ein. Er kam aus Berlin. Scharperstraße. Das war eine feine Gegend. Zitternd vor Glück öffnete Sala das Kuvert.

Sie begann zu lesen. Anfangs verstand sie nicht recht. Alles klang so verworren, so kompliziert und umständlich, wie sie es von Otto nicht gewöhnt war. Nie brauchte er viele Worte, aber sie war nun schon auf der zweiten Seite angelangt und begriff immer noch nicht, was er ihr eigentlich mitteilen wollte.

Ihr war, als würde sie auf eigenartig verschlungenen Pfaden an einen kleinen Flusslauf des Amazonas mitten im Urwald gelangen. Auf dem Wasser trieben – langsam und ruhig – vereinzelte, grobe Holzscheite. Sie wollte sich niederknien, um ihren Durst zu löschen. Da geschah es. Einer der Holzscheite verwandelte sich in einer blitzschnellen Drehung in ein reißendes Krokodil. Mit weit aufgerissenem Kiefer stürzte es auf sie zu.

Otto liebte sie nicht mehr. Eine andere Frau war in sein Leben getreten. Der Krieg habe ihn um seine besten Jahre betrogen, er könne sich keinen Aufschub mehr leisten. »Ich habe hier Dinge erlebt, die einen anderen Menschen aus mir gemacht haben«, las Sala zitternd, »wahrscheinlich würdest du mich gar nicht wiedererkennen und wärest am Ende froh, wieder frei und unabhängig zu sein. Ein Zustand, den du, nach allem, was du erlebt und durchlitten hast, sicherlich genauso schätzen wirst wie ich.« Dieser Satz bohrte sich wie ein rostiger Nagel in ihren Kopf. Plötzlich hörte sie sich lachen, ein schallendes, höhnisches Gelächter. Was wusste er von ihrem Leid? Was hatte er davon gesehen, was mitgetragen? Nichts. Rein gar nichts. Des Weiteren informierte Otto sie, er halte es für seine Pflicht, ganz offen mit ihr zu sein und nichts zu beschönigen, auch wenn er ihr gerne diese Enttäuschung ersparen würde, aber er habe eine Frau kennengelernt. Er bezweifle zwar, ob er zum Ehemann tauge, aber er habe beschlossen, es mit Waltraud zu versuchen.

Sala schrieb zwei Briefe, einen kurzen an Otto, einen langen an ihren Vater. Sie bestätigte Otto den Erhalt seines befremdlichen Schreibens. Dem sei von ihrer Seite nichts hinzuzufügen, außer dass seine Herzensbildung mit seiner geistigen Entwicklung offenbar nicht Schritt halten konnte, was bei seiner Herkunft und der wohl daraus resultierenden mangelhaften Erziehung nicht weiter verwunderlich sei. Sie selber könne das recht gut verkraften, leid täte es ihr lediglich um die gemeinsame Tochter, die sich bisher prächtig entwickelt habe. Auf der sachlichen Ebene müsse sie ihn an seine Verantwortung erinnern und würde hoffen, dass er seinen finanziellen Verpflichtungen ohne weitere Aufforderung nachkommen würde. Andernfalls würde sie nicht zögern, einen Anwalt einzuschalten.

In dem Brief an ihren Vater offenbarte sie ihre ganze Verzweiflung. Die Jahre des bedingungslosen Wartens, des Vertrauens. Wenn sie nicht Verantwortung für ein anderes Leben tragen würde, sie nähme sich auf der Stelle einen Strick.

Ottos Antwort war der nächste Schlag. Er zweifelte seine Vaterschaft an. Er wisse von Salas Verhältnis mit Hannes, sie selbst habe ihm in Leipzig davon erzählt. Wütend antwortete sie ihm, sie könne auf sein Geld verzichten. In Wahrheit brauchte sie jeden Céntimo.

Sie fuhr zu ihrer Tochter nach La Falda. Adas Reaktion auf die traurige Nachricht, dass ihr Vater nicht kommen würde, war für Sala noch schwerer zu ertragen als ihr eigener Schmerz.

»Und warum kommt Papa nicht?«, fragte sie.

»Weißt du, Erwachsene ändern manchmal ihre Meinung.«

Ada sah zu Boden.

»Aber er hat es doch versprochen.«

45

»Das Eck« war eine dunkle Kneipe. Im Hinterzimmer konnte man illegal Karten spielen. Ein paar Automaten hingen an den schweiß- und rauchverklebten Wänden. Hier kam Otto regelmäßig her, seit er aus der Gefangenschaft heimgekehrt war. Er hatte niemanden angerufen, war zu niemandem gegangen. Er hatte sich sofort bei der Charité beworben. Erst Assistenzarzt, dann, nach wenigen Monaten, Stationsarzt. Seine Geschicklichkeit prädestinierte ihn für kleine, schnelle Eingriffe. Er begann eine Fachausbildung zum Hals-Nasen-Ohren-Arzt. Warum, wusste er selbst nicht genau. Empfehlung vom Chefarzt. Außerdem brauchten sie HNO-Ärzte in der Charité. Es traf sich also gut. Berlin sah wieder besser aus. Die Menschen litten keinen Hunger mehr.

Waltraud wohnte in der russischen Zone. Sie suchte einen Mann, der sie da rausholte. Bei den Kommunisten gefiel es ihr nicht. Kommt Zeit, kommt Rat, dachte Otto und handelte. Orientierung? Struktur? Ablenkung? Wovon? Vom Krieg? Von der Gefangenschaft? Vom Tinnitus? Ja, vielleicht half ihm Waltrauds schrilles Organ, den Ton in seinem Ohr nicht mehr zu hören.

Immer wieder fragten ihn seine Patienten, was sie gegen diesen furchtbaren Ton in ihrem Ohr tun könnten. Er sei nicht wirklich in ihrem Ohr, versuchte er sie zu beruhigen, es sei in ihrem Kopf, er habe das auch.

»Das ist der Krieg, Herr Doktor«, sagte einer zu ihm.

Der Krieg, ja, sicher war es auch der Krieg. Alles, was sie jetzt erlebten, war der Krieg. Er war ihre Vergangenheit, ihre Gegenwart, ihre Zukunft. Sie waren der Krieg. Es lohnte nicht, darüber zu reden. Keiner wollte Fragen stellen, auf die es keine Antworten gab. Sie alle teilten ein und dasselbe Schicksal, und damit hatte keiner eines. Sie liefen jeden Tag in seine Sprechstunde, ein Heer von Selbstmitleidern. Sie wollten gesehen werden, ohne zu wissen, was sie zeigen sollten. Ihre Körper wurden krank. Ihre Seelen? Was sollte das sein? Sie kannten das Wort, aber der Sinn war irgendwo stecken geblieben. Im Morast, im Schützengraben, in den Lagern, in der Gefangenschaft, in den gefallenen Kameraden, in ihren vollgeschissenen Hosen, in den ratlosen Gesichtern ihrer Kinder, die sie nach ihrer Heimkehr zum ersten Mal sahen, in ihren Betten, in denen fremde Männer ihre Frauen beschlafen hatten, in ihren Träumen, die weggebombt waren, in ihren verlorenen Sehnsüchten, ihren verratenen Idealen, ihren vereisten Herzen. Sie hatten keine Gefühle zu verschenken und konnten keine empfangen. Sie waren tot. Gestorben, wie ihre Väter im Ersten Weltkrieg, zum Tode verurteilt, wie ihre Kinder. Stinkende Kadaver, aber das konnten sie nicht sagen, das durften sie nicht denken, sonst würden sie alle aus den Fenstern ihrer wiederaufgebauten Häuser springen. Denn nicht die Alliierten waren es, die dieses Land zerbombt haben, dachte Otto, wir waren es, wir haben unsere Ärsche in den Wind gehalten, weil wir nie dachten, dass der Wind auch drehen könnte und einem dann die eigene Scheiße ins Gesicht klatscht.

Nein, man saß lieber auf den neuen Sofas neben den Waltrauds und Irmgards, den Gerdas und Juttas, voller Hoffnung auf überquellende Tische. Viereinhalb Jahre Gefangenschaft. Die saßen tief. Er arbeitete. Er spielte. Er fickte. Er aß und trank und schlief. Und wenn er mit allem fertig war, fing er wieder von vorne an oder von hinten, das war ihm einerlei. Deswegen hatte er wohl geheiratet. Und ja, sein Verdacht wurde bestätigt, er taugte nicht zum Ehemann. Egal. Nur kein Stillstand. War Geld da, rannte er in die Kneipe, vertrank und verspielte es, war mehr Geld da, kaufte er Waltraud ein Geschmeide und verspielte den Rest etwas vornehmer im Casino. Er war wieder da, wo er angefangen hatte. Es war zum Totlachen. Aber er war Arzt. Und er hatte ein Auto.

In der Charité beendete er seine Facharztausbildung. Es wollte ihm nicht gelingen, sich unterzuordnen. Überall noch der gleiche Korpsgeist, die gleichen Sprüche und Allüren, die gleichen Fratzen, die gleichen Heinis wie vor dem Krieg. Er wollte weg. Er wollte sein eigener Herr sein. Niemand sollte ihm mehr Befehle erteilen. Niemand. Mag sein, dass er starrköpfig war, wie sein Chef behauptete. Aber nachdem er gesehen hatte, wie sich im Lager aus dem gleichen Misthaufen wieder die gleichen stinkenden Seilschaften bildeten, hatte er ein für alle Mal beschlossen, auf fremden Rat zu verzichten.

In der letzten Nacht, bevor sie aus der Gefangenschaft entlassen wurden, trank er mit dem Lagerkommandanten, sie sangen russische Lieder und lasen Puschkin. Mascha hatte das Lager schon vor Monaten verlassen. Sie arbeitete wohl als Schwester in Rostow. Manchmal dachte er an sie. Mascha lebte. Mascha lachte. Mascha liebte. Mascha war so unvernünftig. Mascha fragte nicht nach seiner Vergangenheit. Mascha war nicht wirklich. Mascha war der Krieg. Mascha, das war er. Sie war, was er in Deutschland nie gehabt oder verloren und in Russland wiedergefunden hatte. Sie war sein gefallener Vater, sie war seine verfluchte Mutter, sie war die Birkenlandschaft bei Berlin, die Birkenlandschaft aus Russland. Sie war Oberschlesien und Pommernland. Sie roch nach Borschtsch und Kiefern. Ihre Hände waren schlank, das Gesicht weiß, die Haut braun und herrlich. Ihr dunkles Haar. Die Lippen. Die Brustspitzen. Der Rücken. Ihr Lächeln. Stets sah sie ihn an. Er wusch sich in ihren Tränen. Mascha war der Traum, aus dem er nie erwachen wollte, der Schmerz, der seine Sehnsucht stillte. Sie war die Freiheit, die es nicht gab, die Wahrheit, die er gesucht, der Kampf, den er verloren hatte. Mascha gab es nicht. Viereinhalb Jahre gefangen. Wem sollte er erklären, dass er dieses Land liebte, diese Menschen? Sie teilten ihr letztes Stück Brot mit ihm, sie verrieten ihn nie, sie waren gut zu ihm. Warum sollte ihn jemand verstehen? Es gab nichts zu verstehen.

In den letzten Monaten arbeitete er neben der Klinik in einer Praxis in Tegel. Er übernahm die Vertretung eines betagten HNO-Arztes. Er verdiente gut. Besser als in der Klinik. Dann eben keine wissenschaftliche Karriere. Davon hatte er im Lager immer geträumt. Aber dafür wieder die Hacken zusammenschlagen? Nein. Dr. Lechlein wollte bald aufhören. Otto gefiel ihm. Seine Patienten mochten den schweigsamen jungen Arzt. Er war ein Arbeiter. Wie sie. Dr. Lechlein versprach, Otto die Praxis zu einem bezahlbaren Preis zu überlassen. Kredite waren leicht zu bekommen. Seinem Cousin hatte die Bank mit einem Eigenkapital von einer D-Mark einen Kredit für 150 Sozialwohnungen gewährt. Was war da schon das Geld für eine Praxis?

In seinen Mittagspausen saß er am Fenster des immer gleichen Cafés, starrte jahrein, jahraus in die Sonne, in den Regen, in den ersten Schnee. Die Menschen hasteten an ihm vorbei, von Geschäft zu Geschäft. Ihre Arme wurden länger und länger, die wachsenden Wirtschaftswundertüten schlugen beim Gehen fröhlich gegen ihre Knie. Kaufen, verbrauchen, wegwerfen, wieder kaufen. Tagein, tagaus liefen sie am Fenster vorbei. Ihre Bäuche wurden dicker, die eilig hin und her fliegenden Augen schrumpften in den anschwellenden Gesichtern zu Stecknadelköpfen, die kein Schnäppchen verpassten. Tiefe Sehnsucht, kurzer Atem. Aus dem zerbombten Boden waren die Läden gepilzt, Bekleidungsläden, Küchenläden, Elektroläden, Feinkostläden, Tante-Emma-Läden, Cafés, Konditoreien, Wäschereien, Schustereien. Mit allem konnte man Geld verdienen. Mit dem Geld konnte man essen, trinken, rauchen, Häuser bauen, bewohnen und verkaufen und wieder neue Häuser bauen.

»Oooooottoooo!«

Waltrauds Stimme schallte durch die kleine Wohnung in der Scharperstraße. Otto fragte sich, warum zum Teufel ihm seine Eltern diesen Namen gegeben hatten. Hätte er Waltraud nicht geheiratet, würde sie auch nicht so nach ihm schreien.

»Wie heißt du? Otto? Wie süß! Otto?«

Im Standesamt hätte er aufstehen müssen und gehen. Aber er war zu feige gewesen, zu ausgehungert. Er wusste nicht, wie er allein in dieses Leben nach der Gefangenschaft zurückfinden sollte. Waltraud war genauso bestimmend wie seine Mutter. Am Anfang hatte ihm das gefallen. Jetzt schämte er sich bei dem Gedanken.

»Eeeeeesseeeennn.«

Der Tisch war gedeckt. Eine schlampige Ordnung, wie überall in der Wohnung. Als Otto sich setzte, dachte er, dass Waltraud zu den Menschen gehörte, für die es keinen Unterschied zwischen innen und außen gab. Sie bestand aus Einbahnstraßen und Sackgassen. Darin konnte es äußerst unterschiedlich zugehen, mal laut und bunt, mit Stühlen und Tischen vor der Tür, wie auf den Fotos südländischer Städte, mal finster und menschenleer, wie in einem von deutschen Soldaten verwüsteten russischen Dorf. Dann roch es in der Wohnung nach Tod.

»Na, Ottochen? Wie machste dich inne Klinik? Wirste bald avanciert?«

Ihre Versuche, sich gewählt auszudrücken, erinnerten ihn an seine Herkunft, an seinen Stiefvater und seine Schwestern. Immer wieder hatte Waltraud ihn gefragt, wann er denn Oberarzt oder Chefarzt würde, wann sie sich ein neues Auto, eine größere Wohnung oder ein Haus mit Garten, ach was, mit einem Park, leisten könnten.

»Otto, meen Süßer, die Hilde, die hat von ihrem Mann, dem Dieter, weißte, hat se einen echten Brilli jeschenkt bekommen. Da staunste, wa? Und er hat sich einen Opel Kapitän gekauft. Einfach so. Stell dir ma vor. Das nenne ich großzügig.«

»Bescheuert.«

»Was?«

»Großkotzig und bescheuert.«

»Das ist ma wieder typisch. Typisch ist det. Du bist ja bloß neidisch.«

Otto schwieg.

Waltraud baute sich vor ihm auf, die Hände in die Hüften gestemmt.

»Also weeste, du kannst manchmal ganz schön pampig sein, ein echter Piesepampel, mein kleiner Otto.«

Wie dumm war er gewesen. Unverzeihlich dumm. Für heute reichte es ihm. Er schob den Teller weg.

»Nanu, was is denn jetzt los?«

Otto stand auf. »Ich muss noch mal weg.«

»Ach ja? Wohin denn jetzt auf einmal?«

»In die Klinik.«

»In die Klinik?«

»Muss nach meinen Patienten schauen.«

»Patienten oder Patientinnen, Herr Doktor?«

Er warf die Tür hinter sich zu.

In seiner Position hätte er die Wahl gehabt. Warum ausgerechnet Waltraud? Warum dieser unverzeihliche Fehler? Er wusste es nicht. Eine Frau wie Sala gab es nicht. Daran war nichts zu ändern. Aber Argentinien? Nein. Ein Kind? Nein. Er wollte leben. Waltraud wusste, wie man mit Männern umging. Mit Männern, wie er einer war. Ausgehungert. Um seine Jugend betrogen. Zehn Jahre verloren in diesem Krieg, im Dienste eines Wahnsinnigen, umgeben von Kriechern, die jeden noch so absurden Befehl ausführten, Gefreite, die mühelos zwei, drei Stunden aus dem Fenster starren konnten, ohne zu denken. Jetzt musste er schnell ins Eck. Dort wartete das Glück. Dort waren alle gleich. Wie im Lager, wie in Russland. Und dann die Puppen tanzen lassen.

Wieder zurück im Heimathafen, würde er zur Besänftigung noch schnell über Waltraud rutschen müssen. Halb so schlimm. Am Ende machte es sogar Spaß.

Jean schrieb ihm manchmal. Meistens antwortete er viel zu spät oder gar nicht. Eine Umsiedlung nach Südamerika war für ihn völlig undenkbar. Er beherrschte die Sprache nicht, kannte weder das Land noch seine Gebräuche, außerdem würde man sein Staatsexamen in Argentinien nicht anerkennen. Er müsste also wieder von vorne anfangen. Selbst wenn man einen Teil seines Studiums anerkennen würde, was zweifelhaft wäre, würde er wieder Jahre seines Lebens verlieren. Sala würde ihn nicht wiedererkennen. Es war besser so. Und das Kind? War er wirklich der Vater?

Bei seiner Mutter fand er ein Foto von Sala. Es lag in einer Küchenschublade. Er nahm es heraus und musste heulen. Er stand in der Küche seiner Mutter, es war die alte Küche, noch immer dieselbe Wohnung, in der er groß geworden war. Dritter Hinterhof, links, Parterre. Er erinnerte sich, wie er nachts nach seinen Diebestouren nach Hause geschlichen war. Der Stiefvater lag besoffen auf dem Tisch. Die Mutter wischte um ihn herum – und er schämte sich. Er erinnerte sich, wie er frühmorgens raus auf den Hof war, vorbei an der Pritsche vom Vater, den die Mutter nachts mal wieder rausgeworfen hatte, weil er sie oder die Kinder verprügelt hatte, wie er auf dem Hof an der Teppichstange seine Klimmzüge machte, bis die Armbeugen brannten und dann noch mal zehn, bis er Krämpfe in den Händen bekam und abrutschte. Roland. Die Diebestouren. Und dann stand er bei ihr in der Wohnung. Auf der Leiter. An der Bücherwand. Und sie tauchte hinter ihm auf. Als er sich umdrehte, wäre er beinahe runtergesegelt. Sie war schlank, die helle Haut dünn wie Papier. Der wache Blick. So hatte ihn noch niemand angeschaut. Die dunklen Haare fielen traurig über die Schultern. Er heulte nie, verdammt noch mal. Das war sinnlos.