15
Garcia war schon auf dem Weg ins Treppenhaus, als ihm auf einmal auffiel, dass Hunter nicht bei ihm war. Er blieb stehen und drehte sich nach ihm um. Hunter stand vor der Tür zu ihrem neuen Büro und hielt sich das Handy ans rechte Ohr. Seinem Gesichtsausdruck war unschwer zu entnehmen, dass etwas nicht stimmte.
»Was gibt’s?«
Hunter antwortete nicht. Er schüttelte den Kopf – nur eine angedeutete Bewegung, doch Garcia kapierte sofort, was los war.
»Verdammt!«, entfuhr es Garcia leise. Er eilte zu Hunter zurück, stellte sich neben ihn und neigte den Kopf zum Telefon, um mithören zu können.
»Ich schätze, du hast mein neuestes Werk gesehen?«
In Hunters Kopf herrschte auf einmal völlige Leere, während sein Herz wie wild raste.
»Willst du nicht mit mir reden, Robert?«
Es war fast zwei Jahre her, seit Hunter diese Roboterstimme zuletzt gehört hatte. »Es war ja nicht zu übersehen«, sagte er schließlich mit ruhiger Stimme.
Gelächter. »Nun ja, der ganze Kick, das Abenteuer – ich will doch, dass du das würdigst. Ich mache deinen Job doch erst interessant.«
»Ehrlich gesagt, ich hatte gehofft, Sie wären hinüber.«
Erneutes Gelächter. »Ach, komm, Robert! Du hast doch den Kerl, der dir da ins Netz gegangen ist, nicht ernsthaft für mich gehalten.«
Hunter ging langsam ins Büro zurück, Garcia neben ihm her. »Also war er nur ein weiteres Ihrer Opfer?«
»Ich habe ihn nicht umgebracht.«
»Sie haben ihm die Falle gestellt. Das läuft auf dasselbe hinaus.«
»In Wahrheit habe ich euch einen Gefallen getan. Er war nur ein perverser Sack … ein Pädophiler.«
Trotz seines Widerwillens wusste Hunter, dass er den Killer am Reden halten musste in der Hoffnung, dass der sich irgendwann zu einem Fehler, einem Ausrutscher hinreißen ließ.
»Sie haben sich also entschlossen, aus dem Ruhestand zurückzukehren?«
Diesmal war das Gelächter noch begeisterter. »So könnte man es nennen.«
»Warum gerade jetzt?«
»Nur Geduld. Alles zu seiner Zeit, Robert. Ich würde mich ja gerne noch länger mit dir unterhalten, aber du weißt ja, dass das nicht geht. Ich wollte nur sicher sein, dass du Bescheid weißt. Darüber, dass das Spiel wieder beginnt. Aber keine Sorge, ich melde mich bald wieder.«
Noch bevor Hunter etwas erwidern konnte, war die Leitung tot. »Scheiße.«
»Was hat er gesagt?«, fragte Garcia, noch bevor Hunter sein Handy eingesteckt hatte.
»Nicht viel.«
»Es besteht also kein Zweifel mehr. Es ist der Kruzifix-Killer.«
Hunter brachte nur ein Nicken zustande. In seinem Blick lag Niedergeschlagenheit.
»Wir sollten es gleich dem Captain sagen.«
Hunter registrierte einen fast erregten Unterton in Garcias Stimme. »Ich rufe ihn vom Auto aus an. Wir nehmen uns jetzt diese Studios vor. Du fährst.«
Hunters Gespräch mit Captain Bolter war kurz und knapp. Er teilte ihm mit, dass sie ein paar Fitnessstudios überprüfen würden und dass der Killer sich telefonisch gemeldet hatte. Der Captain hatte bereits erwogen, Hunters Handy mit einer Abhörvorrichtung versehen zu lassen, doch das hatten sie schon früher erfolglos versucht. Der Killer hatte dafür gesorgt, dass sein Anruf über zwanzig verschiedene Orte auf dem ganzen Globus geschickt wurde, und so eine Lokalisierung unmöglich gemacht. Im Augenblick konnten sie nichts weiter tun.
Ihre Recherchen in den Fitnessstudios von Hollywood blieben ohne Ergebnis. Weder das Personal am Empfang noch die Fitnesstrainer erkannten die Frau auf dem Computerausdruck. Die Mitglieder-Datenbanken der Studios durchzugehen hätte eine richterliche Genehmigung und einen enormen Zeitaufwand erfordert, und das ohne eindeutige Aussicht auf Erfolg.
Die Gold’s-Gym-Filiale in Venice Beach kann gut und gerne als das berühmteste Fitnessstudio der Welt bezeichnet werden. Schlagartig bekannt wurde es 1977 mit dem Film Pumping Iron, der Arnold Schwarzeneggers Bodybuilding-Karriere beleuchtete. Seither gilt Gold’s Gym in Venice Beach als das Fitnessstudio für professionelle Bodybuilder, Schauspieler und Berühmtheiten, die ihren Körper herzeigen wollen. Doch auch hier hatten Hunter und Garcia kein Glück. Keiner erkannte die Frau auf dem Foto wieder.
»Wir können unmöglich sämtliche Fitnessstudios in L. A. abgrasen«, wandte Garcia ein, als sie wieder in seinem Wagen saßen.
»Ich weiß. Es war nur ein Versuch, aber er war es wert«, gab Hunter zurück und rieb sich die müden Augen. Die vergangene schlaflose Nacht forderte allmählich ihren Tribut.
»Was kommt als Nächstes? Model- und Schauspielagenturen?«
»Noch nicht.« Hunter war tief in Gedanken versunken. »Dr. Winston hat doch was davon gesagt, die Tote müsse wohlhabend gewesen sein und eine Menge Geld in ihr Äußeres investiert haben, erinnerst du dich?«
»Ja. Und?«
»Wenn sie versucht hat, eine Schauspieler- oder Model-Karriere in Gang zu kriegen …«
»… dann schwamm sie garantiert nicht im Geld«, vervollständigte Garcia den Gedanken.
»Du machst dich richtig gut, Garcia. Schon mal überlegt, ob du Detective werden willst?«, spöttelte Hunter.
Garcia hob die rechte Hand und zeigte Hunter den Mittelfinger.
»Ich will vorher noch bei jemand anderem vorbeischauen.«
»Wem?«, fragte Garcia.
»Auch wenn sie eigentlich Model oder Schauspielerin sein wollte, heißt das nicht, dass sie nicht auf andere Weise Geld verdienen konnte. Du hast es selbst schon erwähnt.«
Garcia runzelte die Stirn. Ein paar Augenblicke später schnippte er mit den Fingern und deutete auf Hunter. »Prostituierte«, sagte er triumphierend.
Hunter lächelte anerkennend. »Und da weiß ich zufällig genau, an wen wir uns wenden müssen.«
»Na dann los«, schlug Garcia eifrig vor.
»Nicht jetzt. Den erreichen wir nur nachts. Hast du heute Abend schon was vor?«, fragte Hunter mit einem Augenzwinkern.
»Willst du mich auf ein Date einladen?«
Diesmal war es Hunter, der seinem Partner den Mittelfinger zeigte.