28
Der restliche Tag verging mit zähem Warten: darauf, dass die Spurensicherung die Untersuchung des Tatorts abschloss, auf die Biopsieergebnisse, darauf, dass die Leiche an Dr. Winston überstellt wurde, und auf die Resultate der Obduktion.
Kurz bevor die Dunkelheit einsetzte, fuhren Hunter und Garcia in den Griffith Park zurück. Wenn die Spurensicherung irgendetwas gefunden hatte, wie winzig auch immer, dann wollten sie es gleich wissen. Doch die Suche war mühselig und ging sehr langsam voran. Das hohe Gras, die Hitze und die hohe Luftfeuchtigkeit erschwerten alles noch zusätzlich. Um ein Uhr nachts hatte das Team noch immer nichts entdeckt.
Die Einsamkeit in Hunters Wohnung war bleischwer. Als Hunter die Tür öffnete, fragte er sich, wie es wohl sein musste, zu jemandem nach Hause zu kommen, der einen liebte, der einem die Hoffnung geben konnte, dass die Welt nicht komplett zum Teufel ging.
Hunter versuchte, gegen die schleichenden Schuldgefühle anzukämpfen, die seit dem Hunderennen an ihm nagten, doch nicht einmal mit all seiner Erfahrung und seinem Wissen konnte er sich ganz dagegen wehren. Hätte ich bloß die Nummer zwei genommen. Nun gewann der Killer also auch noch den psychologischen Kampf.
Hunter goss sich eine doppelte Portion von seinem zwölf Jahre alten Laphroig ein, warf seinen üblichen Eiswürfel ins Glas, dimmte das Licht in der Wohnung herunter und ließ sich erschöpft auf sein altes, steifes Ledersofa fallen. Er fühlte sich psychisch und physisch ausgelaugt und wusste gleichzeitig, dass er wieder nicht würde schlafen können. Sein Gehirn spielte immer wieder die Ereignisse der vergangenen Stunden durch und verschlimmerte dadurch noch die pochenden Kopfschmerzen.
»Warum habe ich mir nicht irgendeinen harmlosen Beruf ausgesucht, Koch oder Schreiner?«, sagte er laut vor sich hin. Doch der Grund war ganz einfach. So klischeehaft es klang, Hunter wollte etwas bewirken in der Welt, und jedes Mal, wenn er durch seine Untersuchungen und harte Arbeit einen Killer fassen konnte, hatte er dieses Ziel erreicht. Es war ein unvergleichliches Hochgefühl – die Genugtuung, die Euphorie angesichts des Wissens, dass Menschenleben gerettet worden waren, weil er ruhig und methodisch die Spuren verfolgt und ein Geschehen, das bereits in der Vergangenheit verlorenzugehen drohte, Stück für Stück wieder zusammengesetzt hatte. Hunter war gut in dem, was er tat, und das wusste er.
Er trank einen Schluck von seinem Single Malt und behielt ihn eine Weile im Mund, bevor er ihn hinunterschluckte und das vertraute brennende Gefühl in der Kehle genoss. Er schloss die Augen und ließ den Kopf nach hinten auf die Lehne sinken, versuchte, so gut es irgend ging, die Ereignisse des Tages hinter sich zu lassen. Doch die Bilder stürmten weiterhin schonungslos auf ihn ein.
Er erschrak, als sein Handyton ihm den Eingang einer SMS meldete. Er tastete nach dem Telefon, doch es war nicht in seiner Tasche.
»Mist.«
Das Handy lag auf der Glastheke seiner kleinen Bar. Dort hatte er es nebst der Brieftasche und den Schlüsseln abgelegt.
Er stellte das Whiskyglas auf den Boden, erhob sich und warf einen Blick auf die Uhr.
»Wer zum Teufel schickt mir um diese Zeit noch eine Nachricht?« Er schaute auf das Display.
»Hoffe, es geht dir gut. War schön, dich heute Mittag zu sehen, wenn auch nur für ein paar Minuten. Isabella.«
Hunter hatte ihren kurzen gemeinsamen Lunch komplett vergessen. Er schmunzelte und bekam zugleich ein schlechtes Gewissen, weil er erneut so plötzlich hatte verschwinden müssen. Eilig tippte er eine Antwort ein.
»Kann ich dich noch anrufen?« Er drückte auf Senden und ging zum Sofa zurück.
Eine Minute später vibrierte das Handy, und gleich darauf ertönte der Klingelton in der Stille des Zimmers.
»Ja.«
Hunter nahm noch einen Schluck Whisky und wählte ihre Nummer.
»Hallo … ich dachte, du würdest längst schlafen um die Zeit«, sagte sie zärtlich.
»Dasselbe dachte ich von dir. Ist es für eine Forscherin nicht schon ein wenig spät? Musst du nicht morgen ganz früh wieder im Labor stehen?«, fragte Hunter schmunzelnd.
»Ich brauche nicht viel Schlaf. Meistens reichen mir fünf bis sechs Stunden pro Nacht. Mein Hirn ist ständig in Aktion. Forscherkrankheit.«
»Fünf bis sechs Stunden Schlaf. Das ist wirklich nicht viel.«
»Ach, das sagst ausgerechnet du? Warum schläfst du denn noch nicht?«
»Schlaflosigkeit gehört sozusagen zum Berufsbild.«
»Du musst lernen, wie man sich entspannt.«
»Ich weiß. Ich arbeite daran«, log er.
»Apropos Beruf – ist alles in Ordnung? Dieser Anruf heute schien dir ziemlich zuzusetzen.«
Hunter schwieg einen Augenblick und rieb sich die Augen. Er dachte daran, wie unschuldig die meisten Menschen vor sich hin lebten, ahnungslos angesichts des Übels, das gleich um die nächste Ecke lauerte. Es gehörte zu seinem Job, dafür zu sorgen, dass das so blieb.
»Alles in Ordnung. Das ist nur die Arbeit. Ein gewisser Druck gehört eben dazu.«
»Bestimmt mehr, als ich mir vorstellen kann. Jedenfalls freue ich mich, dass du angerufen hast.«
»Tut mir leid, dass ich schon wieder so überstürzt aufbrechen musste. Vielleicht kann ich es ja wiedergutmachen.« Er hätte schwören können, dass er sie lächeln hörte.
»Das wäre schön … tatsächlich hatte ich auch schon daran gedacht. Hättest du Lust, Samstagabend zum Essen zu mir zu kommen?«
»Ein Dinner-Date?«, fragte Hunter mit spöttischem Unterton.
»Nun, da wir den Lunch-Date-Test erfolgreich hinter uns gebracht haben, könnten wir es ja wagen. Musst du Samstag arbeiten?«
»Nein, nein, da habe ich frei. Samstag ist prima. Um wie viel Uhr?«
»Wie wär’s um sechs?«
»Klingt gut. Ich bringe eine Flasche mit.«
»Bestens. Weißt du die Adresse noch?«
»Sag sie mir lieber noch mal. Ich war ziemlich zu in der Nacht.«
»Ach nein …« Sie mussten beide lachen.