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Es gibt Neuigkeiten von Dr. Winston«, verkündete Garcia, als Hunter wieder ins Büro zurückkam.
»Schieß los«, sagte Hunter und füllte seine Kaffeetasse auf.
»Wie erwartet hat Catherine Slater die Leiche des zweiten Opfers als die ihres Mannes George identifiziert.« Weil Hunter keine Reaktion zeigte, fuhr Garcia fort. »Bis wir das Resultat der DNA-Analyse zu dem im Wagen gefundenen Haar haben, dauert’s noch etwa fünf Tage, aber sie konnten jetzt schon bestätigen, dass es nicht von George Slater stammt.«
»Das bringt nicht viel«, erwiderte Hunter. »Wir haben keinen Verdächtigen für einen DNA-Abgleich.«
»Leider wahr.«
Hunter fiel auf, wie müde Garcia aussah. Sogar sein Schreibtisch wirkte nicht so aufgeräumt wie sonst. »Alles in Ordnung, Grünschnabel? Du siehst ziemlich gerädert aus.«
Es vergingen ein paar Sekunden, bis Garcia Hunters Frage überhaupt registrierte. »O ja, danke, mir geht’s gut. Hab nicht viel geschlafen in den letzten Tagen, das ist alles.« Er hielt inne und rieb sich die Augen. »Ich hab die Akten zu allen vorherigen Opfern studiert und nach irgendeiner Verbindung zwischen ihnen oder den beiden neuen Opfern gesucht.«
»Und, was gefunden?«
»Bisher nicht«, erwiderte Garcia resigniert. »Vielleicht steht es gar nicht in den Akten. Vielleicht ist es irgendetwas, was bei der ersten Untersuchung durchgerutscht ist.«
»Durchgerutscht? Was sollte durchgerutscht sein?«
»Irgendeine Verbindung … eine Gemeinsamkeit zwischen allen Opfern. Es muss einfach was geben. Es gibt immer irgendwas. Der Killer kann sie sich doch nicht völlig beliebig aussuchen.« Garcia klang beinahe ärgerlich.
»Warum? Weil es so in den Lehrbüchern steht?« Hunter zeigte auf die kriminalpsychologischen Bücher auf seinem Schreibtisch. »Ich erkläre dir jetzt mal was zu dieser Verbindungstheorie, an die du dich so verbissen klammerst. Ich habe genau wie du nach dieser Verbindung zwischen den Opfern gesucht, wie ein Adler auf Beutefang habe ich endlose Kreise gedreht, und es hat mich völlig fertiggemacht, genau wie es dich jetzt fertigmacht. Du musst kapieren, dass diese Verbindung womöglich nur in den Augen des Killers existiert. Sie muss für uns oder irgendjemand anderen gar keinen Sinn ergeben. Für uns wäre sie vielleicht eine völlige Belanglosigkeit … von mir aus, dass alle Namen der Opfer drei von fünf Vokalen enthalten oder sie an einem bestimmten Wochentag auf derselben Parkbank saßen. Es ist völlig egal, was es ist, aber bei dem Killer löst es etwas aus. Etwas, was ihn dazu bringt, töten zu wollen. Diese Verbindung zu finden ist nur ein winziges Puzzleteil bei unserer Arbeit. Okay, zugegeben, es könnte sehr hilfreich sein, aber ich will nicht, dass du dich daran abarbeitest … so wie ich es getan habe.«
Garcia hörte einen väterlichen Ton in Hunters Stimme durch.
»Wir können nicht mehr tun, als möglich ist, Grünschnabel, und wir tun schon alles. Vergiss nicht, wir haben es hier mit einem Psychopathen zu tun, dem es einen immensen Lustgewinn bereitet, Menschen zu kidnappen, zu foltern und zu töten. Die Wertvorstellungen, die für uns selbstverständlich sind, sind im Gehirn dieses Killers völlig verzerrt.«
Garcia rieb sich die Nasenwurzel, als versuchte er, heraufziehende Kopfschmerzen zu verscheuchen. »Jeden Abend, wenn ich ins Bett gehe und die Augen zumache, sehe ich sie. Jenny Farnborough, die mich mit diesen unmenschlichen Augen ansieht. Sie will etwas sagen, aber sie hat keine Stimme. Ich sehe George Slater, wie er an das Lenkrad gefesselt ist, seine Haut aufplatzt wie Luftpolsterfolie, und wie er Blut auf mich spuckt. Sein letzter Atemzug, sein letzter Hilfeschrei, und ich kann nichts tun«, sagte Garcia und wandte dabei den Blick ab. »Ich kann den Todesgeruch in diesem alten Holzhaus riechen und den fauligen Gestank aus Georges Auto.«
Hunter wusste, was Garcia durchmachte.
»Anna bekommt allmählich Angst vor mir. Die ganze Nacht wälze ich mich im Bett herum. Anscheinend rede ich inzwischen schon im Schlaf … das heißt, die wenigen Male, wo ich es überhaupt schaffe einzuschlafen.«
»Hast du ihr von dem Fall erzählt?«
»Nein, so dumm bin ich nicht. Aber sie kriegt es trotzdem mit. Sie ist sehr clever, und sie kennt mich genau. Ihr kann ich nichts vormachen.« Er blickte Hunter mit einem blassen Lächeln an. »Du musst sie mal kennenlernen. Du würdest sie mögen.«
»Ganz bestimmt würde ich das.«
»Wir haben uns in der Highschool kennengelernt. Sie hat mir die Nase gebrochen.«
»Sie hat was? Du nimmst mich auf den Arm.«
Garcia sah Hunter schmunzelnd an und schüttelte den Kopf. »Ich war in so einer Gang … wir waren alle Idioten, ganz klar. Haben große Sprüche gekloppt und gemeine Kommentare über sämtliche hübschen Mädchen abgelassen. Einmal brachte ich sogar ihre beste Freundin zum Weinen. Eines Tages saß ich in der Schulbibliothek und lernte für die Abschlussprüfungen. Anna saß an dem Tisch direkt mir gegenüber. Wir warfen uns wiederholt Blicke zu, lächelten uns an, und schließlich stand sie auf und kam zu mir. Ohne ein Wort zu sagen, holte sie mit dem dicken Wälzer aus, den sie in der Hand hatte. 500 Seiten schwer war das Ding. Sie traf mich damit mitten ins Gesicht. Überall war Blut. Danach war ich ihr richtig verfallen. Ich ließ nicht mehr locker, bis sie bereit war, mit mir zu gehen.«
»Sie gefällt mir jetzt schon«, sagte Hunter lachend.
»Du musst mal zu uns zum Essen kommen.«
Hunter spürte die unterschwellige Angst seines Partners. »Als ich an den Tatort des allerersten Kruzifix-Mordes kam, hat es nicht mal eine halbe Minute gedauert, bis ich mich übergeben musste«, erzählte Hunter leise. »Nach jahrelanger Erfahrung als Detective dachte ich, ich könnte alles verkraften, was mir diese Stadt auftischt … aber ich hatte mich geirrt. Praktisch sofort fingen die Alpträume an, und sie haben seither nicht mehr aufgehört.«
»Nicht einmal, als du glaubtest, sie hätten den Killer?«
Hunter schüttelte den Kopf. »Einen Mörder zu fangen lindert den Schmerz, aber es löscht nicht aus, was man gesehen hat.«
Eine unbehagliche Stille trat ein.
»Bei diesem ersten Kruzifix-Mord war ein junger Officer als Erster am Tatort, ganz frisch im Polizeidienst, knapp zwei Monate oder so«, erinnerte sich Hunter. »Er konnte damit nicht umgehen. Nach ein paar Monaten beim Psychologen quittierte er den Dienst.«
»Wie gehst du damit um?«, fragte Garcia.
»Von Tag zu Tag, von Alptraum zu Alptraum. Ich denke nie über den nächsten Tag hinaus«, erwiderte er mit traurigem Blick.