16
McGrath brachte Brogan mit und traf sich mit Milosevic am Flughafen Meigs Field in Chicago. Er hatte die vier computergenerierten Fahndungsfotos und das Testbild von Holly Johnson dabei. Für ihn stand außer Zweifel, dass er die volle Unterstützung des Flughafenpersonals bekommen würde. Und die bekam er auch. Drei aufgeputschte FBI-Agenten in Sorge und Angst um einen Kollegen stellen eine schwierige Konstellation dar, auf die man kaum anders als mit totaler Kooperation reagieren kann.
Meigs Field war ein kleiner Privatflughafen direkt am See, an drei Seiten von Wasser umgeben; er gab sich redlich Mühe, im gigantischen Schatten des O’Hare Airport zu Rande zu kommen. Die im Flughafen geführten Aufzeichnungen waren makellos und die Effizienz des ganzen Apparates erstklassig. Nicht in einem Maße, dass es ihnen möglich gewesen wäre, den gesamten Wissensdurst des FBI sozusagen aus dem Stand zu befriedigen, aber immerhin so, dass sie praktisch vor der Nase des härtesten Konkurrenten auf der ganzen Welt funktionieren und ihre Angestellten regelmäßig bezahlen konnten. Auf jeden Fall halfen ihre Aufzeichnungen und die Effizienz ihrer Organisation McGrath. Halfen ihm, binnen dreißig Sekunden zu erkennen, dass er im Begriff war, in eine Sackgasse zu geraten. Das Personal von Meigs Field war überzeugt, weder Holly Johnson noch einen der vier Kidnapper jemals gesehen zu haben. Ganz sicherlich nicht am Montag und ganz sicherlich nicht gegen dreizehn Uhr. In dem Punkt waren sie unerschütterlich. Sie übertrieben es nicht. Sie waren sich ihrer Sache nur sicher, und dies mit der gelassenen Überzeugung von Leuten, die ihre Arbeitszeit damit verbringen, kleine Flugzeuge in den wohl dichtest beflogenen Verkehrsknoten des ganzen Planeten zu schicken.
Es gab also keine verdächtigen Starts von Meigs Field, ganz sicher nicht zwischen Mittag und etwa fünfzehn Uhr. Das war klar. Die Unterlagen wiesen das eindeutig aus. Die drei Agenten verließen den Kontrollturm ebenso schnell wieder, wie sie ihn betreten hatten. Die Angestellten im Tower nickten sich gegenseitig zu und vergaßen die ganze Angelegenheit, noch bevor die FBI-Leute wieder auf dem kleinen Parkplatz in ihren Fahrzeugen Platz genommen hatten.
»Okay, fangen wir von vorne an«, sagte McGrath. »Sie beide kümmern sich um die Situation mit diesem Zahnarzt in Wilmette. Ich habe etwas anderes zu erledigen. Und ich muss Webster anrufen. Ich wette, die gehen dort unten in Washington bereits die Wände hoch.«
Siebzehnhundertundzwei Meilen von Meigs Field entfernt benötigte der junge Mann im Wald Instruktionen. Er war ein guter Agent, gut ausgebildet, aber im Hinblick auf verdeckte Tätigkeit war er neu und relativ unerfahren. Die Nachfrage nach Agenten für den verdeckten Einsatz nahm ständig zu. Das Büro hatte alle Mühe, sämtliche Planstellen zu besetzen. Also wurden Leute wie er eingeteilt. Unerfahrene Leute. Er ging davon aus, dass er so lange klarkommen würde, wie er sich ständig ins Gedächtnis rief, dass er nicht auf jede Frage eine Antwort hatte. Sein Selbstbewusstsein störte das überhaupt nicht. Er war stets bereit, um Anleitung und Hilfe zu bitten. Er war vorsichtig. Und er war Realist. Realist genug, um zu wissen, dass er hier überfordert war. Die Dinge in seiner Nähe entwickelten sich in einem Tempo zum Schlechten hin, dass für ihn zweifelsfrei feststand, dass man mit dem Schlimmsten rechnen musste. Was das sein würde, wusste er nicht. Es war nur so ein Gefühl. Aber er vertraute seinen Gefühlen. Vertraute ihnen so weit, dass er stehen blieb und sich umdrehte, ehe er an seinen ganz speziellen Baum kam. Er atmete tief durch, änderte seinen Entschluss und schlenderte auf dem Weg, auf dem er gekommen war, wieder zurück.
Webster hatte McGraths Anruf erwartet. Das war klar. McGrath wurde sofort mit ihm verbunden, als hätte der Direktor bloß in seiner großen Bürosuite gesessen und herbeigesehnt, dass das Telefon klingelte.
»Fortschritte, Mack?«, fragte Webster.
»Ein wenig«, erklärte McGrath. »Wir wissen genau, was abgelaufen ist. Wir haben das alles von einer Videoaufzeichnung aus einer Sicherheitskamera in einer chemischen Reinigung. Sie ist um zehn nach zwölf hineingegangen und um Viertel nach zwölf wieder rausgekommen. Es waren vier Leute. Drei auf der Straße, einer in einem Wagen. Sie haben sie geschnappt.«
»Und was dann?«, fragte Webster.
»Sie benutzten eine gestohlene Limousine«, sagte McGrath. »Anscheinend haben sie den Besitzer getötet, um an den Wagen zu kommen. Dann haben sie Holly fünf Meilen nach Süden gebracht und die Limousine abgefackelt. Mit dem Besitzer im Kofferraum. Sie haben ihn bei lebendigem Leib verbrannt. Er war Zahnarzt, Name Rubin. Was sie mit Holly gemacht haben, wissen wir noch nicht.«
In Washington blieb Harland Webster eine ganze Weile stumm.
»Lohnt es sich, die Gegend abzusuchen?«, fragte er schließlich.
Jetzt war McGrath damit an der Reihe, eine Weile stumm zu bleiben. Er war sich nicht sicher, was hinter der Frage steckte. Meinte Webster, dass sie nach einem Versteck oder nach einer weiteren Leiche suchen sollten?
»Mein Bauch sagt mir, nein«, erwiderte er. »Die müssen wissen, dass wir die Gegend absuchen könnten. Mein Gefühl sagt mir, dass die sie woanders hingebracht haben. Vielleicht weit weg.«
Wieder blieb die Leitung stumm. McGrath konnte Webster nachdenken hören.
»Ja, das sehe ich wohl auch so«, meinte Webster schließlich. »Die haben sie weggeschafft. Aber wie genau? Auf der Straße? In der Luft?«
»In der Luft nicht«, sagte McGrath. »Wir haben gestern die Linienflüge überprüft. Und jetzt waren wir gerade auf einem Privatflugplatz. Nichts dergleichen.«
»Und was ist mit einem Hubschrauber?«, fragte Webster. »Rein und raus, ganz geheim?«
»Nicht in Chicago, Chief«, widersprach McGrath. »Nicht so dicht bei O’Hare. Die Jungs dort haben mehr Radarschüsseln als die ganze Army. Wenn es irgendwelche unautorisierten Hubschrauberflüge gegeben hätte, rein wie raus, dann würden wir das wissen.«
»Okay«, sagte Webster. »Aber wir müssen diese Geschichte unter Kontrolle bekommen. Entführung und Mord, Mack, ich habe da gar kein gutes Gefühl. Sie gehen also von einem zweiten gestohlenen Fahrzeug aus? Ein Rendezvous mit der gestohlenen Limousine?«
»Ja, wahrscheinlich«, sagte McGrath. »Das überprüfen wir gerade.«
»Eine Ahnung, was das für Leute sind?«
»Nein«, erklärte McGrath. »Wir haben ziemlich gute Bilder von dem Videoband. Computeraufbereitet. Wir laden sie Ihnen gleich runter. Vier Männer, weiß, alle zwischen dreißig und vierzig, drei von ihnen recht ähnlich, Durchschnittstypen, gepflegt, kurzes Haar. Der vierte ist ziemlich groß, dem Computer nach vielleicht einen Meter dreiundneunzig. Ich nehme an, dass er der Anführer ist. Er war derjenige, der sie als erster gepackt hat.«
»Haben Sie schon eine Idee, was das Motiv sein könnte?«, fragte Webster.
»Nein, nicht die leiseste Ahnung«, sagte McGrath.
Wieder herrschte Stille in der Leitung.
»Okay«, meinte Webster dann. »Sie passen auf, dass nichts bekannt wird?«
»Ich gebe mir alle Mühe«, sagte McGrath. »Wir sind bloß zu dritt.
»Wen haben Sie eingeschaltet?«, wollte Webster wissen.
»Brogan und Milosevic«, erklärte McGrath.
»Sind die gut?«, fragte Webster.
McGrath gab einen Grunzlaut von sich. Würde er sie ausgewählt haben, wenn sie das nicht wären?
»Beide kennen Holly recht gut«, sagte er. »Die sind schon in Ordnung.«
»Heulsusen?«, fragte Webster. »Oder richtig solide, wie die Leute früher mal waren?«
»Ich habe noch nie gehört, dass einer von den beiden sich beklagt hätte«, sagte McGrath. »Über gar nichts. Sie machen ihre Arbeit und sind da, wenn man sie braucht. Sie meckern nicht einmal über ihr Gehalt.«
Webster lachte.
»Können wir sie klonen?«, fragte er.
Die kleine Witzelei hing nur ein paar Sekunden in der Luft. Aber McGrath wusste zu schätzen, dass der Direktor sich bemühte, ihm auf diese Weise sein Vertrauen zu zeigen.
»Und wie geht es Ihnen dort unten?«, fragte er.
»In welcher Hinsicht, Mack?« Webster war wieder ganz ernst.
»Der Alte«, sagte McGrath. »Macht er Ihnen Schwierigkeiten?«
»Welcher Alte, Mack?«, fragte Webster.
»Der General«, meinte McGrath.
»Bis jetzt noch nicht«, sagte Webster. »Er hat heute morgen angerufen, aber er war höflich. So läuft das immer. Eltern sind gewöhnlich die ersten ein, zwei Tage ziemlich ruhig. Nervös werden sie erst später. General Johnson wird sich da auch nicht anders verhalten. Er mag ja ein großes Tier sein, aber tief im Innersten sind die Leute alle gleich, oder nicht?«
»Aber sicher«, sagte McGrath. »Er soll mich anrufen, wenn er einen Bericht aus erster Hand haben möchte. Vielleicht tut ihm das gut.«
»Okay, Mack, vielen Dank«, sagte Webster. »Aber ich glaube, diese Sache mit dem Zahnarzt sollten wir für den Augenblick für uns behalten. Das lässt die ganze Geschichte bloß in einem noch schlimmeren Licht erscheinen. Schicken Sie mir einstweilen, was Sie haben. Ich werde unsere Leute darauf ansetzen. Und keine Sorge! Wir kriegen sie zurück. Das Büro sorgt für seine Leute, stimmt’s? Da geht nie etwas schief.«
Die beiden FBI-Veteranen ließen die Lüge in Schweigen ausklingen und legten gleichzeitig die Hörer auf.
Der junge Mann kam aus dem Wald geschlendert und stand plötzlich dem Kommandanten gegenüber. Er war klug genug, zackig zu salutieren und nervös zu wirken, zeigte aber nur die Art von Nervosität, wie sie die unteren Dienstgrade alle vor dem Kommandanten an den Tag legten. Nichts, was Argwohn erweckt hätte. Er stand einfach da und wartete darauf, angesprochen zu werden.
»Ich habe einen Auftrag für Sie«, sagte der Kommandant. »Sie sind doch jung, wie? Kennen sich mit dem ganzen Technikscheiß aus?«
Der Mann nickte vorsichtig.
»Gewöhnlich komme ich mit dem Zeug klar, Sir«, sagte er.
Der Kommandant nickte ebenfalls.
»Wir haben ein neues Spielzeug«, sagte er. »Einen Scanner für Radiofrequenzen. Ich will eine Überwachung installieren.«
Der junge Mann spürte, wie ihm das Blut in den Adern gerann.
»Warum das, Sir?«, fragte er. »Denken Sie, jemand benutzt einen Funksender?«
»Könnte sein«, sagte der Kommandant. »Ich vertraue niemandem und verdächtige jeden. Ich kann gar nicht vorsichtig genug sein. Nicht in diesem Augenblick. Muss mich um Details kümmern. Es heißt ja immer, dass Genie zu haben bedeutet, Details wichtig zu nehmen.«
Der junge Mann schluckte und nickte.
»Bauen Sie das Ding also auf«, sagte der Kommandant. »Machen Sie mir einen Einsatzplan. Zwei Schichten, sechzehn Stunden täglich, okay? Im Augenblick brauchen wir unbedingt ständige Wachsamkeit.«
Der Kommandant wandte sich ab. Der junge Mann nickte und atmete erst jetzt aus. Sah unwillkürlich in die Richtung, wo sein ganz spezieller Baum stand, und war froh, dass er seinen Gefühlen vertraut hatte.
Milosevic fuhr Brogan in seinem neuen Truck nach Norden. Sie machten einen kleinen Umweg und hielten am Postamt von Wilmette an, damit Brogan seine beiden Unterhaltsschecks absenden konnte. Dann machten sie sich auf die Suche nach der Praxis des toten Zahnarztes. Auf dem Parkplatz hinter dem Gebäude erwartete sie ein uniformierter Polizist vom örtlichen Revier. Er schien kein schlechtes Gewissen zu haben, dass er die Meldung der Ehefrau des toten Zahnarztes nicht weitergegeben hatte. Milosevic setzte ihn ein wenig unter Druck, so als ob der Polizist persönlich für Holly Johnsons Entführung verantwortlich wäre.
»Eine Menge Ehemänner verschwinden«, meinte der Beamte. »Das passiert ständig. Das hier ist schließlich Wilmette, oder? Die Männer hier sind genauso wie überall, bloß dass sie hier genügend Geld haben, um auch tun zu können, wonach ihnen ist. Was soll ich da sagen?«
Milosevic ließ sich davon nicht besänftigen. Der Polizist hatte noch zwei weitere Fehler gemacht. Zum einen hatte er angenommen, das FBI sei wegen dem Mord an dem Zahnarzt in seinem Revier aufgekreuzt. Zum zweiten schien ihm wichtiger zu sein, in dieser Geschichte seinen eigenen Hintern zu retten, und weniger wichtig, dass vier Killer Holly Johnson auf offener Straße entführt hatten. Milosevic fing an, der Geduldsfaden zu reißen. Aber dann sagte der Mann etwas, was einiges gutmachte.
»Was ist nur in die Leute gefahren?«, sagte er. »Verbrennen ständig Autos! Irgendso ein Arschloch hat draußen am See ein Auto verbrannt. Wir mussten es wegschaffen. Die Anwohner dort haben sich beschwert.«
»Wo genau?«, fragte ihn Milosevic.
Der Polizist zuckte die Schultern. Er wollte ganz präzise antworten.
»Diese Abfahrt am Ufer«, sagte er. »An der Sheridan Road, unmittelbar vor dem Washington Park. Ich habe so etwas noch nie gesehen, jedenfalls nicht in Wilmette.«
Milosevic und Brogan fuhren hin, um sich selbst ein Bild zu machen. Sie folgten dem Polizisten in seinem chromblitzenden Streifenwagen, und er führte sie zu der Stelle. Es war kein Personenwagen. Es war ein Pick-up, ein zehn Jahre alter Dodge. Keine Nummernschilder. Mit Benzin übergossen und praktisch völlig ausgebrannt.
»Das ist gestern passiert«, sagte der Polizist. »Heute morgen gegen halb acht entdeckt. Wir haben ’ne Menge Anrufe von Leuten auf dem Weg zur Arbeit bekommen.«
Er ging um das Wrack des Pick-up herum und musterte es gründlich.
»Nicht aus der Gegend«, sagte er. »Vermute ich wenigstens.«
»Warum nicht?«, fragte ihn Milosevic.
»Die Kiste hier ist zehn Jahre alt, stimmt’s?« meinte der Mann. »In der Gegend hier gibt es wenige Pick-ups, aber wenn, dann sind das Spielsachen, verstehen Sie? Große Achtzylinder mit viel Chrom? Eine alte Kiste wie die hier würde sich keiner in seine Einfahrt stellen wollen.«
»Was ist mit Gärtnern?«, fragte Brogan. »Poolpfleger und dergleichen?«
»Warum sollten die ihren Pick-up verbrennen?«, meinte der Cop. »Wenn die einen neuen brauchen, dann geben sie doch den alten in Zahlung, oder? Niemand verbrennt Firmeninventar, oder?«
Milosevic dachte darüber nach und nickte dann.
»Okay«, sagte er. »Wir übernehmen das. Bundesermittlung. Wir schicken so bald es geht einen LKW, um das Wrack hier abzuholen. Und bis dahin bewachen Sie es, okay? Und zwar ordentlich, bitte ich mir aus. Lassen Sie niemand ran!«
»Warum?«, fragte der Polizist.
Milosevic sah ihn an, als wäre er schwachsinnig.
»Das ist der Truck der Gangster«, sagte er. »Sie haben ihn hier beseitigt und den Lexus für den Überfall gestohlen.«
Der Polizist warf einen Blick auf Milosevic’ erregtes Gesicht und sah dann zu dem verbrannten Truck hinüber. Einen Augenblick lang fragte er sich, ob wohl vier Männer auf der Bank des Dodge Platz finden konnten. Aber er sagte nichts. Er wollte sich nicht noch einmal lächerlich machen. Er nickte bloß.