19
Reacher schlang sich die Kette um die Hand und schlich sich aus der Scheune hinaus in das graue Zwielicht, das kurz vor Anbruch der Morgendämmerung herrschte. Er ging zwanzig Schritte weit und blieb stehen. Freiheit. Die Nachtluft rings um ihn war weich und schien unendlich. Nichts engte ihn ein. Aber er hatte keine Ahnung, wo er sich befand. Die Scheune stand ganz allein da, fünfzig Meter von ein paar Farmgebäuden entfernt, die ähnlich alt sein mochten. Es gab da ein Haus und zwei kleine Schuppen und einen neueren offenen Unterstand, in dem ein neuer Pickup parkte. Neben dem Pick-up stand ein Traktor. Und neben dem Traktor, im Mondlicht gespenstisch weiß schimmernd, der Lieferwagen. Reacher ging über den steinigen Weg darauf zu. Die vorderen Türen waren abgesperrt, die hinteren ebenso. Er rannte zur Scheune zurück und durchsuchte die Taschen des toten Fahrers. Nichts außer dem Schlüssel für das Vorhängeschloss der Scheunentür. Keine Schlüssel für den Lieferwagen.
Er rannte zurück, presste die Kette an sich, damit sie nicht klirrte, rannte vorbei an dem Traktorunterstand und sah zu dem Haus hinüber. Ging darum herum. Die vordere Tür war fest versperrt. Die hintere Tür war fest versperrt. Und dahinter war ein Hund. Reacher hörte, wie er sich im Schlaf regte. Er hörte ein leises, schläfriges Knurren und ging weg.
Auf halbem Weg zurück zu dem Pferdestall sah er sich um. Richtete seine Augen auf den undeutlich wahrnehmbaren Horizont und drehte sich in der Dunkelheit ganz um seine Achse. Eine riesige leere Landschaft. Flach, endlos, ohne irgendwelche wahrnehmbaren Besonderheiten. Der feuchte nächtliche Geruch von einer Million wachsender Pflanzen. Ein fahler Streifen Dämmerung im Osten. Er zuckte die Schultern und kehrte wieder in die Scheune zurück. Holly richtete sich auf einem Ellbogen auf und sah ihn fragend an.
»Probleme«, sagte er. »Die Schlüssel für die Handschellen sind im Haus. Und die für den Lieferwagen auch. Und ich kann da nicht hinein, um sie zu holen, weil ein Hund drin ist. Der wird bellen und alle aufwecken. Und in dem Haus sind mehr als nur die beiden anderen. Das ist eine richtige Farm, auf der gearbeitet wird. Es gibt einen Pickup und einen Traktor. In dem Haus könnten vier oder fünf bewaffnete Männer sein. Wenn dieser verdammte Hund bellt, bin ich erledigt. Und es ist schon fast hell.«
»Probleme«, sagte Holly.
»Stimmt.« Er nickte. »Wir kommen nicht an ein Fahrzeug heran, und wir können nicht einfach zu Fuß weggehen, weil Sie angekettet sind und nicht gehen können, und außerdem sind wir ohnehin praktisch eine Million Meilen vom nächsten Ort entfernt.«
»Wo sind wir?«, fragte sie.
Er hob die Schultern.
»Keine Ahnung«, sagte er.
»Ich will es selbst sehen«, sagte sie. »Ich will sehen, was da draußen ist. Ich bin es einfach leid, eingeschlossen zu sein. Kriegen Sie diese Kette nicht runter?«
Reacher zwängte sich hinter sie und sah sich den eisernen Ring in ihrer Wand an. Das Holz sah ein wenig besser aus, als das seine ausgesehen hatte. Dichtere Maserung. Er zerrte an dem Ring und wusste, dass es hoffnungslos war. Sie nickte widerstrebend.
»Wir warten«, sagte sie. »Wir warten auf eine bessere Chance.«
Er eilte zu den mittleren Boxen zurück und überprüfte die Wände, ganz unten, wo es am feuchtesten war und die Wand aus den längsten Brettern bestand. Er klopfte dagegen, trat danach. Wählte eine ganz bestimmte Stelle aus und drückte fest mit seinem Fuß zu. Das Brett gab ein wenig nach, ließ sich auf seinen rostigen Nägeln ein Stück nach außen drücken. Er arbeitete an dem Spalt und löste das nächste Brett und das nächste, bis er schließlich so viel gelockert hatte, um durchkriechen zu können. Dann eilte er wieder in die Mitte der Scheune zurück und häufte das lose Ende seiner Kette auf den Bauch des toten Fahrers. Griff in seine Hosentasche und holte den Schlüssel für das Vorhängeschloss heraus. Hielt ihn mit den Zähnen fest. Beugte sich hinunter und hob die Leiche und die Kette zusammen auf. Trug sie durch die offene Tür nach draußen.
Er trug sie etwa fünfundzwanzig Meter weit. Vom Haus weg. Dann stellte er die Leiche auf die Füße und hielt sie an den Schultern fest, so als würde er mit einer betrunkenen Partnerin tanzen. Beugte sich vor und hievte sich den Toten auf die Schulter. Fing die Kette mit einer Hand auf und lief den Weg hinunter.
Mit schnellen Schritten ging er etwa zwanzig Minuten. Mehr als eine Meile weit. Auf einem Stichweg, der zu einer Straße führte. Bog nach links in die Straße ein, ins freie Gelände. Pferdeland. Links und rechts neben der Straße gab es mit Bretterzäunen umfriedete Pferdekoppeln. Endloses flaches Weideland, kühl und feucht in den letzten Nachtstunden. Hie und da ein paar Bäume, die in der Dunkelheit aufragten. Eine schmale, gerade, unebene Straße.
Er ging in der Mitte der Straße. Und dann entdeckte er einen schmalen Graben, der zwischen der Straße und einer Koppel verlief. Er drehte sich im Kreis, und der tote Fahrer drehte sich wie die Flügel einer Windmühle auf seiner Schulter mit. Nichts war zu sehen. Er war mehr als eine Meile von der Farm entfernt und hätte ebensogut mehr als hundert Meilen von der nächsten entfernt sein können. Er beugte sich nach vorn und ließ die Leiche in den Graben fallen. Sie plumpste in das lange Gras und landete mit dem Gesicht nach unten im Schlamm. Reacher drehte sich um und rannte die Meile zurück zu der Farm. Der Streifen Dämmerung beleuchtete jetzt den ganzen Himmel.
Während er in den Zufahrtsweg einbog, sah er hinter den Fenstern des Farmhauses Licht. Er rannte so schnell er konnte zur Scheune. Schob die schweren Holztore von außen zu. Hob den Querbalken in seine Halterungen und sperrte ihn mit dem Vorhängeschloss ab. Rannte zum Weg zurück und schleuderte den Schlüssel im weiten Bogen ins Feld. Der Mittwochmorgen flammte am Horizont. Er rannte zur anderen Seite der Scheune und fand dort die weggedrückten Bretter. Stieß seine Kette vor sich ins Innere der Scheune. Presste die Schultern durch den Spalt und zwängte sich hinein. Zog die Bretter wieder so gut er konnte nach innen, bis sie glatt mit den anderen abschlossen. Dann trat er in den Mittelgang zwischen den Boxen und stand schwer atmend vornübergebeugt da.
»Erledigt«, sagte er. »Den werden sie nie finden.«
Er hob das blecherne Essgeschirr mit den kalten Suppenresten auf. Suchte in seiner Box nach den heruntergefallenen Schrauben. Sammelte so viele Holzsplitter, wie er finden konnte, auf. Schwenkte sie in der kalten Suppe und presste sie in die ausgefransten Löcher in den Brettern. Dann ging er zu Hollys Box hinüber und stellte dort das Essgeschirr auf den Boden. Behielt den Löffel. Er drückte die Schrauben durch die Löcher in der Verankerung des eisernen Rings, der an seiner Kette hing. Presste sie zwischen den klebrigen Holzsplittern fest. Benutzte den Löffelgriff dazu, sie ins Holz zu drücken. Dann führte er die Kette durch den Ring, bis sie nach unten hing und auf dem Steinboden lag. So war das ganze Gebilde möglichst geringer Belastung ausgesetzt.
Er warf Holly den Löffel hinüber. Sie fing ihn mit einer Hand auf und legte ihn in das Essgeschirr. Dann duckte er sich und lauschte durch die Bretter. Der Hund war draußen. Er konnte ihn schnüffeln hören. Dann kamen Leute. Schritte auf dem Weg. Sie hasteten zu dem Tor der Scheune. Sie versuchten den Querbalken zu bewegen, klapperten damit. Kehrten um. Geschrei war zu hören. Sie riefen einen Namen, riefen ihn immer wieder. Der Spalt rings um die Scheunentür wurde heller, je weiter der Morgen vorrückte. Die Bretter der Scheune ächzten, als die Sonne den Horizont überflutete und sie erwärmte.
Die Schritte rannten zur Scheune zurück. Das Vorhängeschloss klapperte, und die Kette wurde entfernt. Der Querbalken fiel auf den Boden. Das Tor öffnete sich ächzend. Loder trat ein. Er hielt die Glock in der Hand, und man konnte die Anspannung in seinem Gesicht erkennen. Er stand jetzt in der Toröffnung. Seine Augen huschten zwischen Reacher und Holly hin und her. Jetzt kam zu der Anspannung in seinen Zügen noch Zorn. Ein kaltes Leuchten in seinen Augen. Der nervöse Typ tauchte hinter ihm auf. Stevie. Er hielt die Schrotflinte des Fahrers in der Hand. Lächelte. Zwängte sich an Loder vorbei und rannte über die Kopfstein-gepflasterte Fläche zwischen den Boxen. Dann hob er die Schrotflinte und richtete sie auf Reacher. Loder schickte sich an, ihm zu folgen. Stevie schob den Schaftgriff der Pumpgun vor und zurück – eine Patrone in den Lauf. Reacher trat ein Stück nach links, sodass er den Eisenring verdeckte.
»Was gibt’s denn für ein Problem?«, fragte er.
»Dich, du Arschloch«, sagte Loder. »Die Lage hat sich geändert. Uns fehlt ein Mann. Und damit bist du einer zu viel.«
Reacher war bereits zum Boden unterwegs, als Stevie abdrückte. Er landete flach auf dem harten Kopfsteinpflaster und schleuderte sich nach vorn, als die Schrotflinte krachte und die Box in Stücke flog. Feuchte Holzsplitter und der Gestank von Schießpulver erfüllten die Luft. Das Brett mit dem Eisenring fiel aus der zerfetzten Wand, und die Kette klirrte zu Boden. Reacher rollte sich zur Seite und blickte auf. Stevie hob die Schrotflinte und repetierte. Richtete den Lauf nach unten und zielte erneut.
»Halt!«, schrie Holly.
Stevie sah zu ihr hinüber. Es wäre unmöglich gewesen, das nicht zu tun.
»Seien Sie doch kein verdammter Narr!«, brüllte sie. »Was zum Teufel soll das? Dazu haben Sie keine Zeit!«
Loder drehte sich zu ihr herum.
»Er ist abgehauen, oder?«, sagte sie. »Ihr Fahrer? Ist es das, was passiert ist? Er ist abgehauen und weggerannt, stimmt’s? Und deshalb müssen Sie jetzt los. Sie haben für das hier keine Zeit.«
Loder starrte sie an.
»Im Augenblick sind Sie noch im Vorteil«, sagte Holly eindringlich. »Aber wenn Sie den Mann hier erschießen, dann haben Sie in einer halben Stunde die hiesigen Bullen auf Ihrer Fährte. Sie müssen los.«
Reacher blickte keuchend zu ihr auf. Sie war großartig, zog die ganze Aufmerksamkeit der beiden auf sich. Sie rettete ihm das Leben.
»Zwei von uns und zwei von Ihnen«, sagte sie eindringlich. »Damit werden Sie doch fertig, oder?«
Stille trat ein. Staub und Pulverdampf hingen in der Luft. Dann trat Loder einen Schritt zurück und richtete seine Automatik auf sie beide. Reacher beobachtete die Enttäuschung in Stevies Gesicht. Er stand langsam auf und zog die Kette aus dem Durcheinander von zerfetzten Brettern. Der Eisenring fiel aus dem Brett und klirrte zu Boden.
»Die Schlampe hat recht«, sagte Loder. »Damit kommen wir klar.«
Er nickte Stevie zu. Stevie rannte zum Tor, und Loder drehte sich um, zog den Schlüssel heraus und schloss Hollys Handschelle auf. Ließ die Handschelle auf die Matratze fallen.
»Okay, Arschloch, ganz schnell«, sagte Loder. »Ehe ich es mir anders überlege.«
Reacher schlang die Kette um seine Hand. Beugte sich vor und hob Holly auf, hielt sie unter den Knien und unter den Schultern. Sie hörten, wie der Motor des Lieferwagens ansprang. Hastig schleppte er Holly zum Lieferwagen. Legte sie drinnen auf den Boden. Kletterte hinter ihr hinein. Loder knallte die Türen zu und schloss sie in Finsternis ein.
»Jetzt, schätze ich, stehe ich in Ihrer Schuld«, sagte Reacher leise.
Holly tat das mit einer Handbewegung ab. Einer verlegenen kleinen Geste. Reacher starrte sie an. Er mochte sie. Mochte ihr Gesicht. Während er sie ansah, erinnerte er sich daran, wie weiß und angeekelt ihr Gesicht gewesen war, als der Fahrer ihr zugesetzt hatte. Sah die glatte Rundung ihrer Brüste unter seinem schmierig geifernden Blick. Dann wechselte das Bild zu Stevie, lächelnd und auf ihn schießend, er an die Wand gekettet. Und dann hörte er Loder sagen: Die Situation hat sich geändert.
Alles hatte sich geändert. Er hatte sich geändert. Er lag da und spürte die kalte Wut in sich, mahlend wie Zahnräder. Kalte, unversöhnliche Wut. Unkontrollierbar. Sie hatten einen Fehler gemacht. Sie hatten ihn vom Zuschauer zu einem Feind verwandelt. Ein schlimmer Fehler. Sie hatten die verbotene Tür aufgestoßen, nicht wissend, was da herausplatzen konnte. Er lag da und fühlte sich wie eine tickende Bombe, die von den Kerlen tief ins Herz ihres Territoriums getragen wurde. Er spürte die Aufwallung von Wut in sich, genoss sie, staute sie in sich auf.
Jetzt lag in dem Lieferwagen nur noch eine Matratze. Sie war nicht einmal einen Meter breit. Und Stevie war ein unruhiger Fahrer. Reacher und Holly lagen dicht aneinander gedrückt auf der Matratze. An Reachers linkem Handgelenk hing immer noch die Handschelle und die Kette. Sein rechter Arm lag über Hollys Schultern. Er hielt sie an sich gedrückt. Fester als es eigentlich notwendig war.
»Wie weit noch?«, fragte sie.
»Wir werden vor Einbruch der Nacht dort sein«, antwortete er leise. »Die haben Ihre Kette nicht mitgebracht. Also ist keine Übernachtung mehr geplant.«
Sie blieb eine Weile stumm.
»Ich weiß nicht, ob ich darüber froh bin oder nicht«, sagte sie. »Ich hasse diesen Lieferwagen, aber ich weiß wirklich nicht, ob ich irgendwo ankommen möchte.«
Reacher nickte.
»Es reduziert unsere Chancen«, sagte er. »Eine alte Erfahrung sagt, dass man entkommen muss, solange man unterwegs ist. Nachher wird es viel schwieriger.«
Die Bewegung des Lieferwagens deutete darauf hin, dass sie sich auf einer Fernstraße befanden. Aber entweder hatte das Terrain sich geändert, oder Stevie kam nicht mit dem Lieferwagen zu Rande, oder beides, denn sie schwankten ständig heftig. Der Mann setzte zu spät zu Biegungen an und riss das Fahrzeug hin und her, als ob er Mühe hätte, die Spur zu halten. Holly wurde gegen Reacher geworfen. Er zog sie näher an sich heran und hielt sie fest. Sie kuschelte sich instinktiv an ihn. Er merkte, wie sie kurz zögerte, als ob ihr klar geworden wäre, dass sie ohne nachzudenken gehandelt hatte, und dann spürte er, wie sie beschloss, sich nicht wieder von ihm zu lösen.
»Wie ist Ihnen zumute?«, fragte sie ihn. »Sie haben einen Menschen getötet.«
Es dauerte eine Weile, bis er antwortete.
»Er war nicht der Erste«, sagte er. »Und ich habe gerade beschlossen, dass er auch nicht der letzte sein wird.«
Sie drehte den Kopf herum, um etwas zu sagen, und tat es im gleichen Augenblick wie er. Der Lieferwagen schleuderte heftig nach links. Ihre Lippen waren nicht einmal einen Zentimeter voneinander entfernt. Wieder schwankte der Lieferwagen. Sie küssten sich. Zuerst leicht und tastend. Reacher spürte die neuen weichen Lippen auf den seinen und den fremdartigen neuen Geschmack, den Geruch, das Gefühl. Dann wurde der Kuss härter, fordernder. Jetzt polterte der Lieferwagen durch eine Folge scharfer Kurven, und sie vergaßen das Küssen völlig und hielten einander bloß fest, versuchten, nicht von der Matratze auf den harten Metallboden geworfen zu werden.