25
Sie kamen eine Stunde nach Anbruch der Morgendämmerung. Er döste, auf seinem harten Stuhl sitzend, die mit Handschellen gefesselten Hände auf dem Schoß, Joseph Ray ihm gegenüber, wach und wachsam. Den größten Teil der Nacht hatte er damit verbracht, über Dynamit nachzudenken. Altes Dynamit, übrig geblieben von einem aufgegebenen Bergwerksbetrieb. Er stellte sich vor, eine Stange Dynamit in der Hand zu halten. Spürte das Gewicht. Schätzte das Volumen des Hohlraums hinter Hollys Wänden ab. Malte sich aus, dass dieser Hohlraum mit altem Dynamit vollgepackt war. Altem, verrottendem Dynamit, das angefangen hatte, sein Nitroglycerin auszuschwitzen, instabil zu werden. Vielleicht eine Tonne instabiles altes Dynamit rings um sie zwischen den Wänden, noch nicht so instabil, dass es auf eine zufällige Bewegung hin explodieren würde, aber schon instabil genug, um beim Aufprall einer vom Ziel abgekommenen Artilleriegranate zu explodieren. Oder einer Kugel, die ihr Ziel verfehlt hatte. Oder sogar einem heftigen Schlag mit einem Hammer.
Dann war draußen das Scharren von Füßen zu hören, als eine Abteilung Männer vor der Hütte zum Stehen kam. Die Tür wurde aufgerissen, und Reacher drehte den Kopf herum und sah sechs Wachen. Der Anführer des kleinen Trupps kam hereingestampft und zog ihn am Arm in die Höhe. Er wurde hinausgezerrt, in die helle Morgensonne, und sah sich fünf Männern gegenüber, die sich in einer Reihe aufgestellt hatten, Karabiner in der Armbeuge. Tarnanzüge, Bärte. Er stand da und kniff die Augen gegen das grelle Licht zusammen. Die sechs Männer und er formierten sich und marschierten quer über die Lichtung auf einen schmalen Weg zu, der von der Sonne weg in den Wald hinein führte.
Nach fünfzig Metern kam eine weitere Lichtung. Eine kleine, rechteckige, von Buschwerk umstandene Fläche. Zwei einfache Sperrholzhütten. Beide ohne Fenster. Die Wachen hielten Reacher an, und der Mann an der Spitze wies mit dem Lauf seines Gewehrs auf die linke der beiden Hütten.
»Kommandohütte«, sagte er.
Dann deutete er nach rechts.
»Strafhütte«, sagte er. »Um die versuchen wir immer einen großen Bogen zu machen.«
Die sechs Männer lachten mit dem sicheren Selbstbewusstsein eines Elitetrupps, und der Anführer klopfte an die Tür der Kommandohütte. Wartete kurz und öffnete sie dann. Reacher wurde hineingestoßen, wobei ein Gewehrlauf, den man ihm ins Kreuz stieß, dem Ganzen Nachdruck verlieh.
Die Hütte war grell beleuchtet. Glühbirnen fügten ihr Licht dem grünen Tageslicht hinzu, das durch bemooste Oberlichte im Dach hereinfiel. Es gab einen schlichten Schreibtisch aus Eichenholz und dazu passende Sessel, große, alte, runde Dinger, wie Reacher sie in Filmen, in Zeitungsredaktionen oder ländlichen Banken gesehen hatte. Irgendwelche Dekorationen, mit Ausnahme von an die Wände genagelten Flaggen und Wimpeln gab es nicht. Hinter dem Schreibtisch hing eine große rote Hakenkreuz-Fahne und an den anderen Wänden hingen Hakenkreuz-Motive in Schwarzweiß. Auf einer Tafel an der Rückwand war mit Nadeln eine großformatige Karte von Montana befestigt. Ein winziger Teil in der Nordwestecke des Staates war schwarz übermalt. Auf dem Boden lagen Bündel von Flugblättern und Handbüchern. Eines davon trug den Titel: Dry It, You’ll Like it. Es sollte darlegen, wie man Lebensmittel konservieren konnte, um damit eine Belagerung zu überstehen. Ein anderes Heft lieferte offensichtlich eine Anleitung für Guerillas, wie man Personenzüge zum Entgleisen brachte. Dann gab es noch einen Bücherschrank aus poliertem Mahagoni, der in seiner Eleganz überhaupt nicht in den Raum passte und mit Büchern voll gepackt war. Der Streifen Tageslicht von der Tür fiel auf die Bücher, so dass man die Titel in goldenen Lettern auf den Leinenrücken lesen konnte. Es handelte sich um Geschichtsbücher über die Kunst der Kriegsführung, Übersetzungen aus dem Deutschen und dem Japanischen. Ein ganzes Regal enthielt ausschließlich Werke über Pearl Harbour. Bücher, die Reacher selbst einmal studiert hatte, an einem anderen Ort und vor langer Zeit.
Er stand unbewegt da. Borken saß hinter dem Schreibtisch. Sein Haar schimmerte im grellen Licht weiß. Die schwarze Uniform wirkte grau. Borken starrte ihn bloß stumm an. Dann winkte er ihn zu einem Sessel. Bedeutete den Wachen, dass sie draußen warten sollten.
Reacher setzte sich schwer hin. Die Müdigkeit nagte an ihm, und das Adrenalin brannte in seinem Magen. Die Wachen trotteten über den Bretterboden und gingen hinaus. Sie schlossen die Tür leise hinter sich. Jetzt bewegte Borken seinen Arm und zog eine Schublade heraus. Holte einen alten Revolver aus der Schublade. Legte ihn auf die Schreibtischplatte.
»Ich habe meine Entscheidung getroffen«, sagte er. »Darüber, ob Sie leben oder sterben sollen.«
Er deutete auf den alten Revolver auf dem Schreibtisch.
»Wissen Sie, was das ist?«, fragte er.
Reacher warf in dem grellen Licht einen Blick auf die Waffe und nickte dann.
»Ein Marshal Colt«, sagte er.
Borken nickte ebenfalls.
»Darauf können Sie Ihren Arsch verwetten«, sagte er. »Ein Marshal Colt, Modell 1873, original, so wie man ihn damals an die Kavallerie ausgegeben hat. Das ist meine persönliche Waffe.«
Er hob sie mit der rechten Hand von der Schreibtischplatte auf und schloss die Finger um den Kolben.
»Wissen Sie, was dieser Colt verschießt?«, fragte er.
Reacher nickte wieder.
»Fünfundvierziger«, sagte er. »Sechs Schüsse.«
»Stimmt«, nickte Borken. »Sechs Fünfundvierziger, zweihundertfünfzig Meter pro Sekunde aus einem achtzehn Zentimeter langen Lauf. Wissen Sie, was solche Kugeln bei Ihnen anrichten können?«
Reacher zuckte die Schultern.
»Das kommt darauf an, ob sie mich treffen«, sagte er.
Borken sah ihn ausdruckslos an. Dann grinste er. Seine feuchten Lippen kräuselten sich nach oben, und seine dicken Backen drückten ihm beinahe die Augen zu.
»Die würden Sie treffen«, sagte er. »Wenn ich schieße, würden Sie getroffen.«
Wieder zuckte Reacher die Schultern.
»Von dort, wo Sie sitzen, vielleicht«, sagte er.
»Von überall«, meinte Borken. »Von hier, aus fünfzig Metern Distanz. Wenn ich schieße, dann würde ich Sie treffen.«
»Heben Sie die rechte Hand«, sagte Reacher.
Wieder wurde Borkens Blick ausdruckslos. Dann legte er die Waffe hin und hob seine riesige weiße Hand, so als wolle er einem entfernten Bekannten zuwinken oder einen Eid leisten.
»Bullshit«, sagte Reacher.
»Bullshit?«, wiederholte Borken.
»Ganz sicher«, erklärte Reacher. »Dieser Revolver ist einigermaßen genau, aber nicht gerade die beste Waffe auf der ganzen Welt. Um einen Mann auf fünfzig Meter Distanz damit zu treffen, müssten Sie wie ein Verrückter üben. Und das tun Sie nicht.«
»Das tue ich nicht?«, sagte Borken.
»Nein, das tun Sie nicht«, erklärte Reacher. »Schauen Sie sich das verdammte Ding doch an. Es wurde 1870 konstruiert, stimmt’s? Haben Sie sich alte Fotografien angesehen? Die Leute waren damals viel kleiner. Drahtige kleine Kerls, gerade aus Europa eingewandert und seit Generationen am Verhungern. Kleine Leute, kleine Hände. Schauen Sie sich doch den Kolben von dem Ding an. Stark gekrümmt, viel zu klein für Sie. Wenn Sie das Ding nehmen, sieht Ihre Hand dagegen wie eine Staude Bananen aus. Und dieser Kolben ist aus hundertzwanzig Jahre altem Nussbaumholz. Hart wie Stein. Die Hinterseite des Kolbens und das Rahmenende unter dem Hammer würden Ihnen einen mächtigen Rückstoß versetzen. Hätten Sie diese Waffe oft benutzt, wäre eine dicke Hornhaut zwischen Daumen und Zeigefinger entstanden, so dick, dass ich das von hier aus sehen könnte. Nichts davon zu erkennen, also sagen Sie mir nicht, dass Sie mit diesem Colt oft geübt haben, und sagen Sie mir nicht, dass Sie, ohne damit zu üben, mit diesem Ding ein Scharfschütze sind.«
Borken musterte ihn scharf. Dann lächelte er wieder. Seine feuchten Lippen öffneten sich, und seine Augen schoben sich zu Schlitzen zusammen. Er zog die gegenüberliegende Schublade auf und entnahm ihr eine andere Pistole. Es war eine Sig-Sauer 9 mm. Vielleicht fünf Jahre alt. Viel benutzt, aber gepflegt. Ein großer, massiver Griff für eine große Hand.
»Ich habe gelogen«, sagte er. »Das ist meine persönliche Waffe. Und jetzt weiß ich etwas. Ich weiß, dass ich die richtige Entscheidung getroffen habe.«
Er hielt inne, um Reacher damit Gelegenheit zu geben, ihn nach seiner Entscheidung zu fragen. Reacher blieb stumm. Presste die Lippen zusammen. Er würde diesen Mann nach gar nichts fragen, selbst wenn das der letzte Satz wäre, den er in seinem Leben sprechen könnte.
»Wir nehmen das, was wir hier tun, sehr ernst«, sagte Borken zu ihm. »Völlig ernst. Wir treiben hier keine Spielchen. Und Sie haben völlig recht im Hinblick auf das, was hier abläuft.«
Er hielt wieder inne, damit Reacher ihn fragen konnte, was hier ablief. Reacher sagte nichts. Saß bloß da und starrte ins Leere.
»Amerika hat eine despotische Regierung«, sagte Borken. »Eine Diktatur, die vom Ausland aus, von unseren Feinden gesteuert wird. Unser gegenwärtiger Präsident ist Mitglied einer Weltregierung, die insgeheim das Leben von uns allen kontrolliert. Das System der Bundesstaaten schafft bloß eine Nebelwand für totale Kontrolle. Die haben vor, uns zu entwaffnen und zu versklaven. Es hat bereits angefangen. Darüber sollten wir uns völlig im Klaren sein.«
Er machte eine Pause. Griff wieder nach dem alten Revolver. Reacher sah, dass er überprüfte, wie ihm der Kolben in der Hand lag. Spürte das Charisma, das von dem Mann ausstrahlte. Fühlte sich gezwungen, der weichen, hypnotischen Stimme zuzuhören.
»Dazu setzt die Regierung hauptsächlich zwei Methoden ein«, sagte Borken. »Die erste davon ist der Versuch, die Zivilbevölkerung zu entwaffnen. Der zweite Verfassungszusatz garantiert uns das Recht, Waffen zu tragen, aber den werden sie bald abschaffen. Die Waffengesetze, das ganze Geschrei von wegen Verbrechen, Morden, Rauschgiftkriegen – das zielt alles darauf ab, Leute wie uns zu entwaffnen. Und wenn wir einmal entwaffnet sind, können sie mit uns machen, was sie wollen, stimmt’s? Deshalb hat man diesen Zusatz ja in die Verfassung aufgenommen. Diese Jungs damals waren nicht dumm. Sie wussten, dass das einzige, womit man eine Regierung unter Kontrolle halten kann, die Bereitschaft und die Fähigkeit der Menschen ist, die Regierenden niederzuschießen.«
Wieder machte Borken eine Pause. Reacher starrte auf das Hakenkreuz hinter seinem Kopf.
»Die zweite Methode ist, dass sie die kleinen Geschäftsleute ausquetschen«, sagte Borken. »Das ist meine ganz persönliche Theorie. Man hört sie in der Bewegung nicht sehr oft. Aber ich bin dahintergekommen. Und mit dieser Erkenntnis habe ich vor allen anderen einen Vorsprung.«
Borken wartete, aber Reacher blieb immer noch stumm. Sah ihn nicht an.
»Es liegt doch auf der Hand, oder?«, meinte Borken. »Weltregierung bedeutet im Grunde genommen eine kommunistische Regierungsform. Die wollen keine starke mittelständische Wirtschaft. Aber das ist es, was Amerika groß gemacht hat. Millionen von Menschen, die alle hart für sich selbst gearbeitet und sich ihren Lebensunterhalt verdient haben. Zu viele, um sie einfach zu ermorden, wenn die Zeit dafür da ist. Also muss man ihre Zahl schon vorher verringern. Und deshalb hat die Bundesregierung Anweisung bekommen, den Mittelstand unter Druck zu setzen. Sie haben alle möglichen Vorschriften und Regeln aufgestellt, alle möglichen Gesetze und Steuern. Sie manipulieren die Märkte, sie zwingen die kleinen Geschäftsleute auf die Knie, und dann weisen sie die Banken an, ihnen attraktive Darlehen anzubieten, und sobald die Tinte auf den Darlehensverträgen trocken ist, jagen sie den Zins in die Höhe und manipulieren den Markt weiter, bis der arme Teufel zahlungsunfähig wird. Dann nehmen sie ihm sein Geschäft weg, und das ist dann wieder einer weniger für die Gaskammern, wenn die Zeit dafür kommt.«
Reacher sah ihn an. Sagte nichts.
»Glauben Sie mir«, sagte Borken. »Die lösen ihr Leichenbeseitigungsproblem einfach im voraus. Wenn sie den Mittelstand jetzt beseitigen, brauchen sie später nicht so viele Konzentrationslager.«
Reacher starrte bloß Borkens Augen an. So, als würde er in ein grelles Licht sehen. Die dicken roten Lippen lächelten ein nachsichtiges Lächeln.
»Ich habe Ihnen gesagt, dass wir den anderen weit voraus sind«, sagte er. »Wir haben das kommen sehen. Wozu gäbe es denn sonst eine Bundesnotenbank? Die ist der Schlüssel zu der ganzen Geschichte. Amerika war im Grunde genommen eine Nation, die auf Wirtschaft begründet war, stimmt’s? Wenn man die Wirtschaft kontrolliert, kontrolliert man alles. Wie kontrolliert man die Wirtschaft? Man kontrolliert die Banken. Wie kontrolliert man die Banken? Man errichtet eine beschissene Bundesnotenbank. Federal Reserve Bank – schon bei dem Namen wird mir schlecht! Man sagt den Banken, was sie zu tun haben. Das ist der Schlüssel. Die Weltregierung kontrolliert alles durch die Bundesnotenbank, die Fed. Ich habe das selbst erlebt.«
Seine Augen waren jetzt geweitet, glänzten ohne Farbe.
»Ich habe mitangesehen, wie sie das mit meinem eigenen Vater gemacht haben!«, schrie er. »Möge seine arme Seele in Frieden ruhen. Die Fed hat ihn in den Bankrott getrieben.«
Reacher riss seinen Blick von dem anderen los. Zuckte die Schultern in Richtung auf die von Borken abgewandte Wand. Sagte nichts. Er versuchte sich an die Reihenfolge der Titel in Borkens Mahagonibücherschrank zu erinnern. Kriegführung vom antiken China über das Italien der Renaissance bis hin zu Pearl Harbor. Er konzentrierte sich darauf, die Titel von links nach rechts aufzuzählen, und versuchte damit, Borkens hypnotischem Blick zu entgehen.
»Wir nehmen das hier sehr ernst«, sagte Borken jetzt schon zum zweitenmal. »Vielleicht halten Sie mich für eine Art Despot oder Kultführer oder was für ein Etikett auch sonst die Welt mir anhängen möchte. Aber das bin ich nicht. Ich bin ein guter Führer, das werde ich nicht leugnen, sogar ein hervorragender Führer. Ich werde Ihnen auch nicht widersprechen, wenn Sie mir Intelligenz und eine gute Auffassungsgabe zubilligen. Aber das brauche ich gar nicht. Meine Leute benötigen keine Aufmunterung. Sie benötigen nicht viel Führung. Sie brauchen Anleitung und sie brauchen Disziplin, aber lassen Sie sich davon nicht täuschen. Ich zwinge niemanden. Machen Sie ja nicht den Fehler, den Willen der Menschen zu unterschätzen. Und ignorieren Sie ihren Wunsch nicht, die Dinge zum Besseren hin zu ändern.«
Reacher sagte nichts. Er konzentrierte sich immer noch auf die Bücher, ließ die Ereignisse des Dezember 1941 aus japanischer Sicht an seinem inneren Auge vorbeiziehen.
»Wissen Sie, wir sind hier keine Kriminellen«, sagte Borken. »Wenn eine Regierung ihre Aufgabe nicht mehr erfüllt, dann sind es immer die besten Leute im Lande, die sich gegen sie stellen. Oder meinen Sie etwa, wir sollten uns einfach alle wie Schafe verhalten?«
Reacher riskierte einen Blick auf ihn. Riskierte es zu sprechen.
»Sie sind ziemlich wählerisch«, sagte er. »Ich meine, wählerisch in dem Punkt, wer sich hier aufhalten darf und wer nicht.«
Borken zuckte die Schultern. »Gleich und gleich«, sagte er. »So ist es doch in der Natur, oder? Den schwarzen Menschen gehört ganz Afrika. Den weißen Menschen gehört dieses Land.«
»Und was ist mit jüdischen Zahnärzten?«, fragte Reacher. »Was haben die für ein Land?«
Borken zuckte wieder die Schultern.
»Das war ein operativer Irrtum«, sagte er. »Loder hätte warten sollen, bis er weg war. Aber Fehler gibt es immer.«
»Er hätte auch warten sollen, bis ich weg war«, sagte Reacher.
Borken nickte.
»Da bin ich Ihrer Ansicht«, erwiderte er. »Für Sie wäre das besser gewesen. Aber die haben nicht gewartet, und deshalb sind Sie jetzt hier bei uns.«
»Bloß weil ich weiß bin?«, fragte Reacher.
»Darüber sollten Sie sich nicht lustig machen«, erwiderte Borken. »Uns Weißen sind viel zu wenig Rechte geblieben.«
Reacher starrte ihn an. Ließ den Blick durch den grell erleuchteten, von Hass erfüllten Raum wandern. Fröstelte.
»Ich habe die Tyrannei studiert«, sagte Borken. »Und wie man sie bekämpft. Die erste Regel ist, dass man eine feste Entscheidung trifft, die Entscheidung, in Freiheit zu leben oder zu sterben, und sich daran hält. In Freiheit leben oder sterben. Die zweite Regel ist, dass man sich nicht wie ein Schaf verhält. Man trägt den Kopf hoch und leistet den Tyrannen Widerstand. Man studiert ihr System und lernt es hassen. Und dann handelt man. Aber wie handelt man? Der tapfere Mann wehrt sich. Er schlägt zurück, stimmt’s?«
Reacher zuckte die Schultern. Sagte nichts.
»Der tapfere Mann schlägt zurück«, wiederholte Borken. »Aber ein Mann, der zugleich tapfer und klug ist, handelt anders. Er schlägt zuerst zurück. Im Vorhinein. Er teilt die ersten Schläge aus. Er gibt ihnen das, was sie nicht erwarten, wann und wo sie es nicht erwarten. Und das ist es, was wir hier tun. Wir schlagen im Vorhinein zurück. Das ist deren Krieg, aber wir werden die ersten Schläge landen. Wir werden ihnen etwas bieten, was sie nicht erwarten. Wir werden ihre Pläne stören.«
Reacher sah wieder zu dem Bücherschrank hinüber. Fünftausend Seiten Klassiker, die alle dasselbe aussagten: Tu nicht das, was sie von dir erwarten.
»Sehen Sie sich die Karte an«, sagte Borken.
Reacher schob seine in Handschellen steckenden Hände vor und arbeitete sich mühsam aus dem Stuhl hoch. Ging zu der Karte von Montana an der Wand. Er fand Yorke in der oberen linken Ecke, innerhalb der schwarz markierten Fläche. Er sah sich den Maßstab an und warf dann einen Blick auf die Farbtabelle, die die Höhenunterschiede kennzeichnete. Der Fluss, von dem Joseph Ray gesprochen hatte, lag dreißig Meilen im Westen auf der anderen Seite einer hohen Bergkette. Ein dicker blauer Strich senkrecht auf der Landkarte. Im Norden waren gewaltige braune Berge zu sehen, bis hinauf nach Kanada. Die einzige Straße durch Yorke führte nach Norden und endete in einem verlassenen Bergwerk. Ein paar eher zufällig wirkende Wege führten durch dichtes Waldland nach Osten. Im Süden verschmolzen die Konturlinien ineinander und zeigten eine riesige, von Osten nach Westen verlaufende Schlucht.
»Sehen Sie sich dieses Terrain an, Reacher«, sagte Borken leise. »Was sagt es Ihnen?«
Reacher sah es an. Es sagte ihm, dass er nicht heraus konnte. Nicht zu Fuß, nicht mit Holly. Wochen anstrengenden Fußmarsches nach Osten und Norden. Natürliche Sperren im Westen und Süden. Das Terrain stellte ein besseres Gefängnis dar, als Stacheldrahtzäune oder Minenfelder das hätten bewirken können. Er war einmal in Sibirien gewesen, nach Glasnost, um dort Berichten hinsichtlich koreanischer Vermisster nachzugehen. Die Gulags waren völlig offen gewesen. Kein Stacheldraht, keine Schlagbäume. Er hatte seine Gastgeber gefragt: ›Aber wo sind die Zäune?‹ Und die Russen hatten auf die meilenweiten Schneefelder gezeigt und gesagt: ›Das sind die Zäune. Die kämen nirgendwo hin.‹ Er sah wieder auf die Karte. Das Terrain war der Zaun, das Terrain war der Schlagbaum. Dort herauszukommen würde ein Fahrzeug erfordern. Und eine ganze Menge Glück.
»Die kommen hier nicht rein«, sagte Borken. »Wir sind uneinnehmbar. Man kann uns nicht aufhalten. Und man darf uns auch nicht aufhalten. Das wäre eine Katastrophe von wahrhaft historischen Ausmaßen. Stellen Sie sich vor, die Rotröcke hätten 1776 die amerikanische Revolution aufgehalten.«
Reacher sah sich in dem kleinen, mit Brettern verkleideten Raum um und fröstelte.
»Das ist nicht die amerikanische Revolution«, sagte er.
»Nein?«, fragte Borken. »Wo ist der Unterschied? Die Menschen damals wollten Freiheit von einer tyrannischen Regierung. Und das wollen wir auch.«
»Aber ihr seid Mörder«, sagte Reacher.
»Das waren die 1776 auch«, sagte Borken. »Die haben Menschen getötet. Das etablierte System hat das auch als Mord bezeichnet.«
»Ihr seid Rassisten«, sagte Reacher.
»Genau wie 1776«, meinte Borken. »Jefferson und seine Sklaven? Die wussten, dass Schwarze minderwertig sind. Damals verhielten sie sich genauso wie wir jetzt. Aber dann sind sie die neuen Rotröcke geworden. Langsam, über die Jahre hinweg. Und uns kommt es jetzt zu, dafür zu sorgen, dass es wieder so wird, wie es hätte bleiben sollen. In Freiheit leben oder sterben, Reacher. Das ist ein edles Ziel. Das war es immer, finden Sie nicht?«
Er beugte sich vor, und seine Leibesfülle presste sich gegen den Schreibtisch. Beide Hände streckte er hoch in die Luft, und seine farblosen Augen glänzten.
»Aber 1776 hat man Fehler gemacht«, sagte er. »Ich habe die Geschichte studiert. Der Krieg hätte vermieden werden können, wären beide Seiten vernünftig gewesen. Und man sollte immer den Krieg vermeiden, glauben Sie nicht auch?«
Reacher zuckte die Schultern.
»Nicht unbedingt«, sagte er.
»Nun, Sie werden uns helfen, ihn zu vermeiden«, sagte Borken. »Das ist meine Entscheidung. Sie werden mein Abgesandter sein.«
»Ihr was?«, fragte Reacher.
»Sie sind unabhängig«, erklärte Borken. »Keiner von uns. Ohne persönliche Motive. Ein Amerikaner wie die, ein aufrechter Bürger, ohne Strafregister. Ein intelligenter Mann mit guter Auffassungsgabe. Ihnen entgeht nicht so leicht etwas. Man wird auf Sie hören.«
»Ihr was?«, fragte Reacher noch einmal.
»Wir sind hier organisiert«, erklärte Borken. »Wir sind darauf vorbereitet, eine Nation zu sein. Das müssen Sie verstehen. Wir haben eine Armee, wir haben einen Staatsschatz, wir haben finanzielle Reserven, wir haben Gesetze, wir haben Demokratie. Ich werde Ihnen all das heute zeigen. Ich werde Ihnen eine Gemeinschaft zeigen, die auf die Unabhängigkeit vorbereitet ist, die darauf vorbereitet ist, in Freiheit zu leben oder zu sterben, und die nur noch ein Tag von diesem Ziel trennt. Und dann werde ich Sie nach Süden schicken, in die Vereinigten Staaten. Sie werden denen sagen, dass unsere Position stark und deren Position hoffnungslos ist.«
Reacher starrte ihn bloß wortlos an.
»Und Sie können denen von Holly erzählen«, fuhr Borken ruhig fort. »Holly in ihrem speziellen kleinen Raum. Sie können denen von meiner geheimen Waffe erzählen. Meiner Versicherungspolice.«
»Sie sind verrückt«, sagte Reacher.
In der Hütte wurde es still. Stiller als still.
»Warum?«, flüsterte Borken. »Warum bin ich verrückt? Warum genau?«
»Sie denken nicht logisch«, sagte Reacher. »Ist Ihnen nicht klar, dass Holly überhaupt nicht zählt? Der Präsident wird Johnson schneller ersetzen, als Sie mit den Augen zwinkern können. Die werden Sie zerdrücken wie ein Insekt, und Holly wird einfach ein weiteres Opfer sein. Sie sollten sie mit mir zusammen zurückschicken.«
Borken schüttelte sein mächtiges Haupt, er wirkte glücklich und selbstsicher.
»Nein«, sagte er. »Das wird nicht geschehen. Holly ist mehr als bloß die Tochter ihres Vaters. Hat sie Ihnen das nicht gesagt?«
Reacher starrte ihn an, und Borken sah auf die Uhr.
»Wir müssen jetzt gehen«, sagte er. »Es ist Zeit, dass Sie unsere Gesetze in Funktion erleben.«
Holly hörte die leisen Schritte vor ihrer Tür und glitt von ihrem Bett. Das Schloss öffnete sich mit einem Klicken, und der junge Soldat mit der Narbe auf der Stirn trat ins Zimmer. Er hielt sich einen Finger an die Lippen, und Holly nickte. Sie hinkte zum Bad und ließ die Dusche laut in die leere Wanne plätschern. Der junge Soldat folgte ihr und schloss die Tür hinter sich.
»Wir können das nur einmal am Tag machen«, flüsterte Holly. »Sie werden argwöhnisch, wenn sie die Dusche zu oft hören.«
Der junge Mann nickte.
»Wir verschwinden heute Nacht«, sagte er. »Am Morgen geht es nicht. Wir müssen alle an der Verhandlung gegen Loder teilnehmen. Ich komme, kurz nachdem es dunkel geworden ist, mit einem Jeep. Wir fliehen in der Dunkelheit. Nach Süden. Riskant, aber wir werden es schaffen.«
»Nicht ohne Reacher«, erklärte Holly.
Der junge Mann schüttelte den Kopf.
»Das kann ich nicht versprechen«, sagte er. »Er ist jetzt gerade bei Borken. Weiß der Himmel, was mit ihm geschehen wird.«
»Ich gehe, und er geht«, erklärte Holly.
Der junge Mann sah sie an, er war sichtlich nervös.
»Okay«, sagte er. »Ich werde es versuchen.«
Er öffnete die Badtür und schlich hinaus. Holly blickte ihm nach und stellte die Dusche ab. Starrte auf die Tür, nachdem sie sich hinter ihm geschlossen hatte.
Er schlug einen Bogen nach Norden und Westen und arbeitete sich dann durch den Wald auf demselben Weg wieder zurück, auf dem er gekommen war. Der Posten, den Fowler fünf Meter abseits vom Weg zwischen den Bäumen versteckt hatte, sah ihn nicht. Wohl aber der, der sich im Unterholz verborgen hielt. Es war nur ein kurzer Blick, aber er reichte dem Posten aus, die Tarnuniform zu erkennen. Dann war es schon zu spät, um auch das Gesicht zu identifizieren. Der Posten zuckte die Schultern und dachte dann gründlich nach. Kam zu dem Schluss, dass er das, was er gesehen hatte, besser für sich behielt. Besser, es zu ignorieren, als zu melden, dass er den Mann nicht hatte identifizieren können.
Also konnte der junge Mann mit der Narbe die ganze Strecke zurückrennen und war, zwei Minuten bevor er seinen Kommandanten zu der Anhörung des Tribunals begleiten sollte, wieder in seiner Hütte.
Bei Tageslicht sah das Gerichtsgebäude am südöstlichen Rand der verlassenen Ortschaft Yorke genauso aus wie hundert andere Gerichtsgebäude, die Reacher überall in ländlichen Gegenden Amerikas gesehen hatte. Zu Anfang des Jahrhunderts erbaut. Groß, weiß, Säulen, Verzierungen. Genug massive Solidität, um allen klar zu machen, dass es hier um ernste Dinge ging, aber doch genügend Leichtigkeit in den Details, um den Anschein eines hübschen Gebäudes zu erwecken. Er sah eine anmutige Dachkuppel, die über dem Gebäude zu schweben schien, mit einer schönen Uhr darin, wahrscheinlich von Spenden einer Generation finanziert, die schon lange nicht mehr lebte. Mehr oder weniger ein Gerichtsgebäude wie hundert andere, nur dass das Dach etwas steiler geneigt und massiver gebaut war. Wahrscheinlich musste das im Norden von Montana so sein. Schließlich würde dieses Dach den ganzen Winter über Hunderte Tonnen Schnee tragen müssen.
Aber dies war der dritte Morgen im Juli, und auf dem Dach lag kein Schnee. Reacher war es warm; er war eine Meile in der fahlen nördlichen Sonne zu Fuß gegangen. Borken war allein vorausgeeilt, und Reacher war von denselben sechs Elitewachen durch den Wald eskortiert worden. Immer noch in Handschellen. Sie marschierten mit ihm die Treppe hinauf und ins Innere des Gebäudes. Der Raum im Erdgeschoss war riesengroß, von Säulen unterbrochen, die das Obergeschoss trugen, und mit breiten, glatten Brettern vertäfelt, die man aus riesigen Fichten geschnitten hatte. Das Holz war vom Alter und der Politur dunkel, und die Vertäfelung wirkte streng und schlicht.
Jeder Sitzplatz war besetzt, jede Bank voll. Der ganze Raum glich einem Meer von Tarnfarbe. Männer und Frauen. Sie saßen alle aufrecht und starr da, die Karabiner exakt ausgerichtet, senkrecht zwischen den Knien. Warteten. Ein paar Kinder, stumm und konfus. Reacher wurde vor der Menge hereingeführt und zu einem Tisch ganz vorn in der Nähe der Richterbank gebracht. Fowler saß dort. Stevie neben ihm. Er deutete auf einen Stuhl. Reacher setzte sich. Die Wachen stellten sich hinter ihn. Eine Minute später öffneten sich die Doppeltüren, und Beau Borken schritt zur Richterbank. Der alte Boden ächzte unter seinem Gewicht. Alle im Raum Anwesenden, mit Ausnahme von Reacher, erhoben sich. Sie standen auf und salutierten, als ob sie ein für Reacher nicht hörbares Stichwort vernommen hätten. Borken trug immer noch seine schwarze Uniform mit Gürtel und Stiefeln. Er hatte sich ein großes Halfter für seine Sig-Sauer umgeschnallt und hielt ein dünnes, ledergebundenes Buch in der Hand. Er kam mit sechs bewaffneten Männern in lockerer Formation herein, die vor der Richterbank Position bezogen, dann in Habachthaltung dastanden und mit glasigen Blicken vor sich hin starrten.
Die Leute setzten sich wieder. Reacher blickte zur Decke auf und teilte sie mit den Augen in vier Sektoren ein. Erarbeitete sich, wo die Südostecke war. Wieder öffneten sich die Türen, und die Menge hielt den Atem an. Loder wurde in den Raum gestoßen. Er war von sechs Wachen umgeben. Sie stießen ihn zu dem Tisch gegenüber dem von Fowler. Dem Tisch des Beklagten. Die Wachen standen hinter ihm und drückten ihn mit ihren Händen auf seinen beiden Schultern auf den Stuhl. Sein Gesicht war weiß vor Angst und mit Blut verkrustet. Seine Nase war gebrochen und seine Lippen geplatzt. Borken starrte zu ihm hinüber. Ließ sich schwer in den Richtersessel sinken und legte seine großen Hände mit den Handflächen nach unten auf die Bank. Sah sich in dem schweigenden Saal um und sprach.
»Wir alle wissen, weshalb wir hier sind«, sagte er.
Holly konnte spüren, dass sich in dem Raum unter ihr eine große Menschenmenge aufhielt. Sie konnte die leisen Geräusche einer größeren Anzahl von Leuten, die sich stillhielten, mehr spüren als hören. Aber sie hörte nicht auf zu arbeiten. Es gab keinen Anlass zu glauben, dass das Vorhaben ihres Kontaktmannes vom FBI scheitern würde, aber sie wollte trotzdem den Tag mit Vorbereitungen verbringen. Für alle Fälle.
Ihre Suche nach einem Werkzeug hatte sie zu dem geführt, das sie mitgebracht hatte. Ihre Krücke aus Metall. Sie bestand aus einem Aluminiumrohr von etwa zwei Zentimeter Durchmesser und hatte einen Handgriff und eine Ellbogenstütze. Das Rohr war zu dick und das Metall zu weich, als dass man es als Brechstange hätte einsetzen können. Aber wenn sie den Gummipuffer unten abnahm, wäre es vielleicht möglich, das offene Rohr so zu bearbeiten, dass es als eine Art Schraubenschlüssel dienen konnte. Vielleicht konnte sie das Rohr um die Schrauben herum, die das Bett zusammenhielten, in die entsprechende Form drücken. Dann könnte sie das Rohr im rechten Winkel abknicken und es vielleicht wie eine Art Montiereisen benutzen.
Aber zuerst musste sie den dicken Lack von den Schrauben abkratzen. Er war glatt und verklebte die Schrauben förmlich mit dem Rahmen. Sie benutzte den Rand der Ellbogenstütze, um die oberen Schichten abzuschaben. Dann scharrte sie an den Nahtstellen, bis sie das blanke Metall sehen konnte. Jetzt hatte sie vor, mit einem in heißem Wasser getränkten Handtuch zwischen dem Badezimmer und der Bettstelle hin und her zu hinken. Sie würde das Handtuch gegen die Schrauben pressen, damit die von dem Wasser ausgehende Hitze das Metall ausdehnen und damit den restlichen Lack aufreißen konnte. Anschließend würde sich vielleicht das weiche Aluminium der Krücke als stark genug erweisen, um die von ihr geplante Aufgabe zu erfüllen.
»Fahrlässige Gefährdung des Einsatzes«, sagte Beau Borken.
Er sprach leise, mit hypnotischer Stimme. Im Raum herrschte Stille. Die Wachen vor der Richterbank blickten starr nach vorn. Die Wache am Ende starrte Reacher an. Es handelte sich um den jüngeren Mann mit dem gestutzten Bart und der Narbe auf der Stirn, den Reacher in der vergangenen Nacht als Wache bei Loder gesehen hatte. Er starrte Reacher neugierig an.
Borken hob das dünne, ledergebundene Buch und schwang es langsam von links nach rechts, als wäre es eine Art Scheinwerfer und als wollte er den ganzen Raum in sein helles Licht tauchen.
»Die Verfassung der Vereinigten Staaten«, sagte er. »Jämmerlich missbraucht und doch die bedeutendste politische Abhandlung, die Menschen je verfasst haben. Das Vorbild unserer eigenen Verfassung.«
Er blätterte in dem Buch. Das Rascheln von Papier hallte laut durch den schweigenden Saal. Dann begann er zu lesen.
»Die Bill of Rights«, sagte er. »Der fünfte Verfassungszusatz führt aus, dass keine Person für ein Kapitalverbrechen zur Rechenschaft gezogen werden darf, ohne dass vor einer Anklagejury zuerst gegen diese Person Anklage erhoben worden ist, mit Ausnahme von Fällen, die sich in Zeiten öffentlicher Gefahr in einer Miliz ergeben. Der Verfassungszusatz schreibt vor, dass keine Person ohne ordentlichen Spruch eines Gerichts ihres Lebens oder ihrer Freiheit beraubt werden darf. Der sechste Verfassungszusatz legt fest, dass der Angeklagte das Recht auf ein schnelles öffentliches Verfahren vor einem lokalen Geschworenenkollegium haben soll. Er besagt ferner, dass der Angeklagte Anspruch auf Beistand durch einen Berater hat.«
Borken hielt wieder inne. Sah sich im Saal um. Hielt das Buch in die Höhe.
»Dieses Buch sagt uns, was zu tun ist«, erklärte er. »Wir brauchen also Geschworene. Es heißt hier nicht, wie viele. Ich denke, drei Männer sollten reichen. Freiwillige?«
Zahlreiche Hände hoben sich. Borken deutete willkürlich hierhin und dorthin, worauf drei Männer über den Bretterboden auf ihn zugingen. Sie stellten ihre Gewehre ab und nahmen auf der Geschworenenbank Platz. Borken drehte sich auf seinem Sessel herum und sprach zu ihnen.
»Gentlemen«, sagte er. »Dies ist eine Milizangelegenheit und dies ist eine Zeit öffentlicher Gefahr. Sind wir uns darüber einig?«
Die soeben ernannten Geschworenen nickten alle, und Borken wandte sich von ihnen ab und blickte von der Richterbank auf Loder hinunter, der allein an seinem Tisch saß.
»Hattest du Beistand?«, fragte er.
»Du bietest mir einen Rechtsanwalt an?«, fragte Loder.
Er redete gequetscht durch die Nase. Borken schüttelte den Kopf.
»Hier gibt es keine Rechtsanwälte«, sagte er. »Rechtsanwälte sind genau das, was dem restlichen Amerika den Untergang gebracht hat. Wir werden hier keine Rechtsanwälte dulden. Wir wollen sie auch nicht. In der Bill of Rights steht nichts von Rechtsanwälten. Dort heißt es Beistand. Beistand bedeutet Rat. So steht es in meinem Wörterbuch. Hattest du Rat? Willst du einen haben?«
»Hast du einen?«, fragte Loder.
Borken nickte und lächelte. Ein eisiges Lächeln.
»Bekenne dich schuldig«, sagte er.
Loder schüttelte bloß den Kopf und senkte den Blick.
»Okay«, sagte Borken. »Du hast Beistand gehabt, aber du plädierst auf nicht schuldig?«
Loder nickte. Borken blickte wieder auf sein Buch. Blätterte darin zurück.
»Die Unabhängigkeitserklärung«, sagte er. »›Es ist das Recht des Volkes, die alte Regierung zu verändern oder abzuschaffen und in solcher Weise eine neue Regierung einzusetzen, wie es ihm für seine Sicherheit und sein Glück zweckmäßig erscheint.‹«
Er hielt inne und ließ den Blick über die im Raum versammelten Menschen schweifen.
»Ihr versteht alle, was das bedeutet?«, fragte er. »Die alten Gesetze gelten nicht mehr. Wir haben jetzt neue Gesetze. Eine neue Art und Weise, die Dinge zu erledigen. Wir korrigieren zweihundert Jahre voller Fehler. Wir kehren zu dem Punkt zurück, wo wir die ganze Zeit hätten sein sollen. Dies ist das erste Gerichtsverfahren unter einem völlig neuen System. Einem besseren System. Einem System mit einem wesentlich stärkeren Anspruch auf Legitimität. Wir haben das Recht, das zu tun, und was wir tun, ist rechtens.«
Unter den Zuhörern kam leises Murmeln auf. Reacher konnte keine Missbilligung heraushören. Sie waren alle hypnotisiert. Schwelgten im Widerschein Borkens wie Reptilien in der heißen Mittagssonne. Borken nickte Fowler zu. Fowler erhob sich neben Reacher und wandte sich der Geschworenenbank zu.
»Die Fakten sind folgende«, erklärte Fowler. »Der Kommandant hat Loder auf einen Einsatz von großer Wichtigkeit hinsichtlich der Zukunft von uns allen ausgesandt. Loder hat schlecht gearbeitet. Er war nur fünf Tage weg, hat aber fünf schwerwiegende Fehler gemacht. Fehler, die das ganze Unternehmen hätten zu Fall bringen können. Insbesondere hat er eine Spur hinterlassen, indem er zwei Fahrzeuge verbrannt hat. Dann hat er Fehler im Timing gemacht und auf diese Weise zwei Zivilisten hineingezogen. Und schließlich hat er zugelassen, dass Peter Bell desertieren konnte. Fünf schwere Fehler.«
Jetzt verstummte Fowler und stand da, als warte er. Reacher starrte ihn eindringlich an.
»Ich rufe einen Zeugen auf«, sagte Fowler. »Stevie Stewart.«
Little Stevie stand schnell auf, und Fowler bedeutete ihm mit einer Kopfbewegung, er solle zu dem alten Zeugenstand neben der Richterbank und ein Stück unter ihr hinübergehen. Borken beugte sich hinunter und reichte ihm ein schwarzes Buch. Reacher konnte nicht erkennen, was das für ein Buch war, aber eine Bibel war es nicht. Es sei denn, man hätte angefangen, Bibeln herzustellen, die ein Hakenkreuz auf dem Einband trugen.
»Du schwörst, die Wahrheit zu sagen?«, fragte Borken.
Stevie nickte.
»Ja, das schwöre ich, Sir«, sagte er, legte das Buch weg und wandte sich Fowler zu, wartete auf die erste Frage.
»Die fünf Fehler, die ich erwähnt habe?«, sagte Fowler. »Hast du gesehen, wie Loder sie gemacht hat?«
Stevie nickte wieder.
»Er hat sie gemacht«, sagte er.
»Hat er die Verantwortung für sie übernommen?«, fragte Fowler.
»Sicher hat er das«, sagte Stevie. »Er hat die ganze Zeit, die wir weg waren, den großen Boss gespielt.«
Fowler bedeutete Stevie mit einer Kopfbewegung, dass er wieder zum Tisch zurückkehren könne. Im Gerichtssaal herrschte Stille. Borken lächelte den Geschworenen wissend zu und sah dann auf Loder hinunter.
»Hast du etwas zu deiner Verteidigung vorzubringen?«, fragte er leise.
So wie er das sagte, musste es jedem absurd vorkommen, dass irgendjemand sich eine Verteidigung gegen solche Vorwürfe ausdenken könnte. Im Gerichtssaal blieb es still. Mucksmäuschenstill. Borken beobachtete die Menge. Jedes einzelne Augenpaar starrte wie gebannt auf Loders Hinterkopf.
»Etwas zu sagen?«, fragte Borken ihn erneut.
Loder starrte vor sich hin. Gab keine Antwort. Borken wandte sich zur Geschworenenbank und sah die drei Männer auf den alten, abgewetzten Bänken an. Sein Blick war eine einzige Frage. Die drei Männer steckten einen Augenblick lang die Köpfe zusammen und flüsterten miteinander. Dann stand der Mann ganz links auf.
»Schuldig, Sir«, sagte er. »Eindeutig schuldig.«
Borken nickte befriedigt.
»Danke, Gentlemen«, sagte er.
Ein Raunen ging durch die Menge. Er drehte sich um und brachte es mit einem einzigen Blick zum Verstummen.
»Von mir wird erwartet, dass ich ein Urteil spreche«, sagte er. »Wie viele von Ihnen wissen, ist Loder ein alter Bekannter von mir. Wir kennen uns schon lange. Wir waren schon als Kinder Freunde. Und Freundschaft bedeutet mir sehr viel.«
Er hielt inne und blickte auf Loder hinab.
»Aber andere Dinge bedeuten noch mehr«, sagte er. »Die Erfüllung von Pflichten bedeutet mehr. Meine Verantwortung für diese junge Nation bedeutet mehr. Manchmal ist es notwendig, staatsmännische Entscheidungen über alle anderen Werte zu stellen, die einem lieb und teuer sind.«
Die Menge war stumm. Hielt den Atem an. Borken saß eine Weile unbewegt da. Dann blickte er über Loders Kopf hinweg zu den Wachen, die hinter ihm standen, und machte eine leichte Kopfbewegung. Die Wachen packten Loder an den Ellbogen und rissen ihn in die Höhe. Sie nahmen ihn in die Mitte und drängten ihn aus dem Saal. Borken stand auf und sah in die Menge. Dann drehte er sich um, ging zur Tür und war verschwunden. Die Leute im Zuhörerraum erhoben sich schlurfend und eilten hinter ihm her.
Reacher beobachtete, wie die Wachen Loder zu einer Fahnenstange auf dem Rasenstück vor dem Gerichtsgebäude führten. Borken schritt hinter ihnen her. Die Wachen hatten jetzt die Fahnenstange erreicht und stießen Loder mit dem Gesicht nach vorn dagegen. Sie hielten seine Handgelenke fest und zogen daran, so dass er, gegen die Stange gepresst, mit dem Gesicht an dem weiß getünchten Holz dastand. Borken kam jetzt hinter ihm näher. Zog die Sig-Sauer aus dem Halfter. Legte klickend den Sicherungsflügel um. Spannte den Hahn. Presste den Lauf an Loders Hinterkopf und drückte ab. Es gab eine Explosion von rosa Blut, und das Brüllen des Schusses hallte von den Bergen wider.