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Er ist auf dem Kriegspfad, dachte sich Esther Chambers, als Greg Gannon am Mittwoch nach dem Mittagessen grußlos ihr Büro durchquerte. Was ist nur los? Sie sah ihm nach, als er die Akte zur Hand nahm, die sie vorbereitet hatte, und in seinem Büro verschwand. Kurz darauf stand er wieder vor ihrem Schreibtisch. »Ich habe keine Zeit, das alles durchzugehen«, blaffte er. »Ich kann mich darauf verlassen, dass alles in Ordnung ist?«
Am liebsten hätte sie zurückgeblafft: Ist es denn in fünfunddreißig Jahren einmal nicht in Ordnung gewesen? Aber sie biss sich auf die Lippen und sagte ruhig: »Ich habe alles doppelt geprüft, Sir.«
Mit wachsendem Groll sah sie ihn zur gläsernen Doppeltür marschieren, die zum Gang und zum Konferenzraum der Gannon-Stiftung führte.
Er macht sich Sorgen, dachte Esther. Aber worüber? Seine Fonds entwickeln sich prächtig, trotzdem hat er die meiste Zeit miese Laune. Ich bin es leid, dachte sie erschöpft, es wird immer schlimmer. Und mit einem Anflug von Zorn dachte sie daran, als Greg fünfundzwanzig Jahre zuvor – sein Vater war zu diesem Zeitpunkt erst ein paar Jahre unter der Erde – verkündet hatte, die Büros der Investmentgesellschaft und der Stiftung in großzügigere Räumlichkeiten an der Park Avenue zu verlegen. Dabei hatte er ihr auch mitgeteilt, dass sie ihn des äußeren Eindrucks wegen von nun an nicht mehr bloß »Greg« nennen sollte, sondern »Mr. Gannon«.
Mittlerweile residierten sie in noch großzügigeren Räumlichkeiten im Time Warner Center am Columbus Circle. »Dad, ja, der war für die kleinen Leute ein Held, aber billige Kundschaft hat bei mir nichts mehr verloren«, hatte er damals gehöhnt.
Na, es war ja auch kein Fehler, sich nur noch zahlungskräftige Kunden zu suchen, dachte Esther. Trotzdem hätte er sich nicht so abfällig über seinen eigenen Vater äußern müssen. Mag ja sein, dass er erfolgreich ist, aber es sieht mir nicht danach aus, als hätte er sich mit seinen Herrenhäusern und seiner Luxusgattin auch das Glück erkauft. Die ersten Worte, die diese Frau in ihrem Leben wahrscheinlich gesagt hat, lauteten »Ich will«. Seine Söhne reden mit ihm gar nicht mehr, so wie er ihre Mutter behandelt hat, und bei der Vorstandssitzung streitet er sich jetzt wahrscheinlich mit seinem Bruder.
»Ich bin sie beide leid«, entfuhr es ihr unwillkürlich. Sie sah sich um, aber natürlich war außer ihr niemand im Büro. Trotzdem wurde sie rot. Irgendwann werde ich noch laut aussprechen, was mir so durch den Kopf geht, und das wäre gar nicht klug, ermahnte sie sich. Warum bin ich überhaupt noch hier? Ich könnte es mir doch leisten, in den Ruhestand zu gehen. Wenn ich die Wohnung verkaufe, könnte ich mir ein Haus in Vermont zulegen, statt im Sommer immer nur eines für ein paar Wochen zu mieten. Die Jungs fahren gern Ski und Snowboard, Manchester ist eine schöne Stadt mit tollen Skigebieten ganz in der Nähe ...
Sie musste lächeln, als sie an die Enkel ihrer Schwester dachte, die bereits im Teenageralter waren und die sie liebte, als wären es ihre eigenen Kinder. Ein besserer Zeitpunkt kommt nie wieder, dachte sie sich und drehte sich auf ihrem Schreibtischstuhl zum Computer hin. Ihr Lächeln wurde noch breiter, als sie ein neues Dokument erstellte, es »Bye-bye Gannons« nannte und zu tippen anfing: Sehr geehrter Mr. Gannon, nach fünfunddreißig Jahren ist es wohl an der Zeit ...
Der letzte Absatz lautete folgendermaßen: Ich bin gern bereit, meinen potenziellen Nachfolger einen Monat lang einzuarbeiten, es sei denn, Sie wünschen, dass ich früher gehe.
Esther unterschrieb den Brief, hatte dabei das Gefühl, als wäre ihr eine schwere Last von den Schultern genommen, steckte ihn in einen Umschlag und legte ihn um siebzehn Uhr auf Greg Gannons Schreibtisch. Nach Vorstandssitzungen warf er gern noch einen Blick auf die in der Zwischenzeit eingegangenen Nachrichten, und sie wollte ihm die Möglichkeit einräumen, eine Nacht über ihre Kündigung zu schlafen. Er hat etwas gegen Veränderungen, außer er ist der Auslöser dafür, dachte sie, und ich will mich nicht von ihm dazu drängen oder überreden lassen, länger als einen Monat zu blieben.
Die Rezeptionistin telefonierte gerade. Esther winkte ihr zum Abschied zu, fuhr mit dem Aufzug in die Lobby und überlegte, ob sie noch etwas aus dem Gourmet-Supermarkt im Erdgeschoss mitnehmen sollte. Für heute Abend brauche ich nichts, beschloss sie. Ich mache mich gleich auf den Heimweg.
Zu Fuß ging sie den Broadway hoch zu ihrem Apartmentgebäude gegenüber dem Lincoln Center und genoss die kalte Luft und den auffrischenden Wind. Manchen ist der Winter in Vermont zu hart, aber ich mag die kalte Witterung, dachte sie. Die Großstadt wird mir fehlen, aber das lässt sich nun mal nicht ändern.
Als sie sich an der Rezeption ihres Apartmentgebäudes die Post holen wollte, sagte ihr der Empfangschef: »Zwei Herren warten auf Sie, Miss Chambers.«
Erstaunt sah sie zur Sitzgruppe im Lobbybereich. Ein dunkelhaariger, adrett gekleideter Mann kam bereits auf sie zu. Mit leiser Stimme, damit der Empfangschef ihn nicht hörte, sagte er: »Miss Chambers, ich bin Thomas Desmond von der Börsenaufsicht. Mein Kollege und ich würden uns gern mit Ihnen unterhalten.« Er reichte ihr seine Karte. »Wenn möglich in Ihrer Wohnung, es geht um sehr vertrauliche Dinge.«