17

Esther Chambers hatte ein schlimmes Wochenende hinter sich. Der Besuch von Thomas Desmond und seinem Kollegen von der Börsenaufsicht hatte sie völlig aufgewühlt. Die beiden hatten am Mittwochabend in der Lobby auf sie gewartet, und nach Desmonds Aufforderung hatte sie die beiden Beamten in ihre Wohnung gebeten.

Dort, in ihren eigenen vier Wänden, wurde ihr eröffnet, dass ihr Chef schon seit geraumer Weile von der Börsenaufsicht überwacht werde und eine Anklage wegen Insiderhandels zu erwarten sei.

Außerdem erzählte ihr Desmond, dass man auch ihre Finanzen eingehend geprüft habe, sie aber in keiner Weise über ihre Verhältnisse lebe und man daher überzeugt sei, dass sie in keine illegalen Aktivitäten verstrickt war. Sie unterbreiteten ihr den Vorschlag, mit ihnen zusammenzuarbeiten und ihnen Informationen über Gregs Transaktionen zu liefern. Sie sicherten ihr äußerste Vertraulichkeit zu und gaben zu verstehen, dass sie mit hoher Wahrscheinlichkeit vor Gericht würde aussagen müssen.

»Ich kann einfach nicht glauben, dass sich Greg Gannon auf irgendwelche Insidergeschäfte eingelassen hat«, hatte sie Desmond gesagt. »Warum sollte er? Die Investmentgesellschaft war in den letzten Jahren immer sehr erfolgreich, und als Vorsitzender der Gannon-Stiftung bezieht er ein hohes Gehalt.«

»Es geht nicht darum, wie viel er hat, sondern wie viel er will«, erwiderte Desmond. »Wir hatten schon mit Multimillionären zu tun, die ihr rechtmäßig erworbenes Geld nie und nimmer hätten ausgeben können. Und trotzdem haben sie betrogen. Manche machen es, weil es ihnen ein Gefühl der Macht verleiht. Letztlich aber verlieren die meisten, bevor sie gefasst werden, den Kopf.«

Sie verlieren den Kopf. Diese Worte überzeugten Esther, dass an den Vorwürfen etwas dran sein musste. Greg Gannon macht in letzter Zeit tatsächlich einen konfusen Eindruck, dachte sie.

Desmond allerdings war alles andere als erfreut zu hören, dass sie gerade die Kündigung eingereicht hatte. Er wollte sie bereits bitten, sie wieder zurückzuziehen, überlegte es sich dann aber anders. »Nein, das wäre keine gute Idee. Im Moment wird er wohl niemandem so richtig vertrauen. Wenn Sie unerwartet Ihre Meinung ändern, könnte er es als Hinweis auffassen, dass wir mit Ihnen Kontakt aufgenommen haben. Sie sagten, Sie haben ihm angeboten, noch einen Monat zu bleiben?«

»Ja.«

»Dann wird er sich wohl darauf einlassen. Er steckt nämlich in großen Schwierigkeiten. Einer der letzten Tipps über eine Unternehmensfusion ist in letzter Minute geplatzt. Einer seiner Hedgefonds hat dabei eine Viertelmillion Dollar verloren. Er dürfte kaum Interesse daran haben, jetzt jemand Neues einzuarbeiten.«

Und genauso ist es nun auch gekommen, dachte Esther sich am Montagmorgen. Als Greg am Donnerstagmorgen ihr Schreiben vorfand, kam er umgehend zu ihr. »Esther, es überrascht mich nicht, dass Sie in Rente gehen wollen. Fünfunddreißig Jahre in einer Stelle ist eine sehr, sehr lange Zeit. Aber ich wäre froh, wenn Sie noch mindestens einen Monat bei uns bleiben würden und die Bewerbungsgespräche mit Ihrer Nachfolgerin führen und sie einarbeiten.« Er hielt inne. »Oder ihn«, fügte er noch hinzu.

»Ich weiß, wir sind hier für beides offen. Ich werde einen zuverlässigen Nachfolger finden, versprochen«, sagte Esther.

Als sie in seine von Sorgen erfüllte Miene sah, wurde Esther ganz wehmütig. Sie sah wieder den ehrgeizigen jungen Mann vor sich, der nur eine Woche nach seinem Universitätsabschluss in die Gesellschaft seines Vaters eingetreten war. Ihr Mitgefühl aber hielt nicht lange an. Wenn er wirklich betrügerische Machenschaften verfolgt, dann nur, weil er den Hals nicht voll genug kriegen kann – er hat doch schon so viel –, und setzt damit auch noch das sauer verdiente Geld anderer Leute aufs Spiel, dachte sie zornig.

Thomas Desmond hatte sie gebeten, ihm eine Liste mit Gregs Terminen zu besorgen. »Wir müssen wissen, mit wem er sich zu Geschäftsessen trifft«, hatte Desmond gesagt. »Ich bezweifle, ob sich die alle in seinem offiziellen Terminkalender finden lassen. Wir wissen, dass nicht alle Anrufe über die Geschäftsleitung laufen. Alle, von denen wir vermuten, dass sie ihn mit Tipps über bevorstehende Fusionen versorgen, haben wir angezapft, aber sämtliche Gespräche zu unseren übrigen Zielpersonen führt Gannon über ein Prepaid-Handy. Glücklicherweise sind nicht alle, die ihm Tipps geben, klug genug, um Telefone zu benutzen, die wir nicht zurückverfolgen können.«

»Stimmt, viele von Gregs Anrufen laufen nicht über mich«, hatte Esther bestätigt. »Natürlich hat er ein Handy, ich begleiche die Rechnung dafür, aber da gibt es nichts Auffälliges. Es kommt jedoch häufig vor, dass ich einen geschäftlichen Anruf zu ihm durchstelle, und er nimmt ihn nicht an. Angeblich führt er dann Privatgespräche mit der Familie oder Freunden. Aber das passiert so oft, dass er das alles gar nicht auf seinem Geschäftshandy abwickeln kann.«

Nachdem sie nun also Thomas Desmond versprochen hatte, ihn mit Informationen über Greg Gannons geschäftliche Aktivitäten zu versorgen, inklusive seiner Geschäftsessen, sagte sie: »Mr. Gannon, ich habe hier einen Termin notiert, Mittagessen mit Arthur Saling. Soll ich einen Tisch für Sie reservieren?«

»Nein, Saling will sich mit mir in seinem Club treffen. Er ist ein potenzieller neuer Kunde, ein wichtiger noch dazu. Drücken Sie mir also die Daumen.« Gannon wollte sich schon abwenden, um in sein Büro zu gehen. »Ach ja, Esther, stellen Sie bitte keine Anrufe durch, bis ich Ihnen Bescheid gebe.«

»Natürlich, Mr. Gannon.«

Der restliche Morgen verlief recht ereignislos. Dann kam ein Anruf vom Greenwich Village Hospital. Der Leiter der Bau- und Planungsabteilung war am Apparat. Ihr war schnell klar, warum er es an seiner sonst üblichen Herzlichkeit fehlen ließ. »Esther, hier ist Justin Banks vom Greenwich Village Hospital. Sie werden sicherlich verstehen, dass es uns ein dringendes Anliegen ist, möglichst bald mit der Grundsteinlegung für die neue Gannon-Kinderstation zu beginnen. Die von der Stiftung zugesagten Gelder sind mittlerweile ein halbes Jahr überfällig. Offen gesagt, wir können kaum noch warten.«

Großer Gott, dachte Esther, Greg hat diese Zusage vor fast zwei Jahren gegeben. Warum hat er seitdem nicht gezahlt? Sorgfältig wählte sie ihre Worte: »Lassen Sie mich erst einen Blick auf die Unterlagen werfen«, sagte sie so ruhig wie möglich.

»Esther, das reicht nicht.« Er wurde lauter. »Man erzählt sich, die Gannon-Stiftung verkündet Zuschüsse, die sie gar nicht oder zumindest erst dann erfüllen will, wenn der infrage kommende Betrag so reduziert ist, dass dem ursprünglichen Zweck damit überhaupt nicht mehr gedient ist. Ich und mehrere meiner Kollegen bestehen auf ein persönliches Treffen mit Mr. Gannon und allen aus dem Verwaltungsrat. Wir wollen ihnen klarmachen, dass sie das den Kindern nicht antun können – den Kindern, die wir jetzt und hoffentlich auch in Zukunft noch behandeln können.«

Flieh in die dunkle Nacht
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