73

Susan war noch nie in Peters Wohnung gewesen. Als sie das Wohnzimmer betrat, sah sie sich ausführlich um und sagte dann mit einem flüchtigen Lächeln: »Es gefällt mir, was du daraus gemacht hast. Du hattest schon immer einen guten Geschmack.«

»Mein guter Geschmack in Sachen Inneneinrichtung oder ganz generell ist auf die Frauen in meinem Leben zurückzuführen, auf meine Mutter und auf dich.« Er atmete tief durch und erzählte ihr, was ihm auf der Seele lag, seitdem er Sallys Foto gesehen hatte. »Susan, ich weiß, was du von mir als Vater hältst, aber jetzt bitte ich dich, mir als Anwältin zu helfen. Ich will meine Tochter. Zugegeben, ich habe sie noch nie gesehen. Als Renée und ich uns getrennt haben, habe ich ihr zwei Millionen Dollar gegeben, damit sie sich während ihrer Schwangerschaft die beste medizinische Versorgung leisten kann. Aber dann sollte sie mich in Ruhe lassen. Sie hat mir gesagt, Sally würde von verantwortungsbewussten Leuten adoptiert werden, was mir damals als eine gute Idee erschien.«

Wie kann ich nur so unverfroren sein und glauben, Susan würde mir in dieser Situation helfen?, fragte sich Peter und versuchte für sich zu rechtfertigen, warum er seine Tochter bislang so vernachlässigt hatte. Dennoch fuhr er fort: »Ich hätte meine Tochter immer unterstützt. Du weißt, dass es bei meinem Streit mit Renée nie um Sally gegangen ist. Sondern nur darum, dass sie durch das, was ich ihr erzählt habe, Greg in Schwierigkeiten bringen könnte.«

Susan sah ihren Exmann ruhig an. »Was willst du mir damit sagen, Peter?«

»Ich will Sally. Ich habe ihre Mutter nicht umgebracht. Ich kann den Gedanken nicht ertragen, dass sie in ein Heim abgeschoben wird. Ich bin eines Verbrechens angeklagt, aber nicht verurteilt. Mit welchem Recht verbietet man mir, sie zu besuchen?«

»Peter, ist das dein Ernst? Willst du mir wirklich sagen, dass du Sally nicht nur sehen, sondern das Sorgerecht für sie beantragen willst?«

»Ja, genau.«

»Peter, du wirst dich vor Gericht wegen Mordes verantworten müssen. Kein Richter der Welt wird dir in der jetzigen Situation das Sorgerecht zusprechen. Und ich bezweifle sogar, dass man dir gestatten wird, sie unter Aufsicht zu besuchen. Schließlich hast du dein Kind noch nie gesehen.«

»Ich will nicht, dass mein Kind in ein Heim kommt. Susan, es muss Mittel und Wege geben, um das zu verhindern. Schau dir bloß das Bild an. Sie sieht so verloren aus.« Er hatte Tränen in den Augen, wie ihm erst jetzt bewusst wurde. »Ich werde ein gutes Kindermädchen finden und den Richter anflehen, mir meine Tochter zu geben. Bis es zum Prozess kommt, kann gut und gern mehr als ein Jahr vergehen. Du weißt, wie langsam die Mühlen der Justiz mahlen. Ich bin noch nie mit dem Gesetz in Konflikt gekommen, noch nicht einmal als Jugendlicher. Susan ...«

»Einen Moment, einen Moment«, sagte sie leise. »Peter, es gibt noch eine andere Lösung, und eine, die vor Gericht mit ziemlicher Sicherheit akzeptiert werden wird. Ich werde das Sorgerecht für Sally beantragen.«

Peter starrte sie nur an. »Du willst Sally?«

»Ja. Sie ist das süßeste kleine Mädchen, das man sich nur vorstellen kann, und es tut einem in der Seele weh, wenn man sieht, wie sehr sie sich nach Zuneigung sehnt. Und, Peter, sie ist ein kluges Mädchen. Ihre Babysitter müssen ihr vorgelesen haben, denn sie hat einzelne Gegenstände in den Büchern benennen können, die ich ihr mitgebracht habe.«

»Wie oft hast du sie gesehen, Susan?«

»Zweimal. Die Schwester hat mir erlaubt, sie aus ihrem Bett zu heben und in den Arm zu nehmen. Das Zeitungsfoto wird ihr in keiner Weise gerecht. Sie ist ein wunderschönes Kind. Und dir wie aus dem Gesicht geschnitten.«

»Du willst mein Kind?«

»Peter, du scheinst vergessen zu haben, dass ich in den zwanzig Jahren unserer Ehe nichts lieber gewollt hätte als Kinder. Daran hat sich nichts geändert. Kristina Johnson, die Babysitterin, die Sally wahrscheinlich das Leben gerettet hat, ist zufällig zu Besuch gekommen, als ich bei Sally war. Die Kleine hängt sehr an Kristina, das ist nicht zu übersehen. Sie hat sie richtig angestrahlt. Kristina würde sich sehr gern um Sally kümmern, wenn ich im Büro bin. Und an Räumlichkeiten fehlt es auch nicht. Wie du weißt, hat die Wohnung drei Schlafzimmer.«

Wir haben die Wohnung gekauft, als wir erst zwei Jahre verheiratet waren, dachte Peter. Susan war schwanger, und wir glaubten, wir bräuchten etwas Größeres. Dann hatte sie drei Fehlgeburten. Es hat ihr das Herz gebrochen, aber sie hat immer gesagt, wir hätten ja noch uns. Also sind wir in der größeren Wohnung geblieben.

Und dann habe ich sie verlassen.

»Du meinst, du könntest das Sorgerecht sofort erwirken, damit sie nicht in ein Heim muss?«, fragte er mit zittriger Stimme.

»Ich werde einen Dringlichkeitsantrag stellen, noch bevor Sally aus dem Krankenhaus entlassen wird. Warum sollte ich abgewiesen werden? Mit sechsundvierzig bin ich noch nicht zu alt. Mein Ruf ist makellos. Ich habe genügend Platz. Als deine Exfrau falle ich in den Personenkreis der betroffenen Verwandten. Und ich will sie. Von der ersten Sekunde an habe ich gewusst, dass sie mir allen Kummer nehmen würde, den der Verlust der anderen ausgelöst hat.«

Mit plötzlich feuchten Augen sah sie zu Peter. »Du bist ihr Vater. Dir wird wahrscheinlich ein gewisses Mitspracherecht zugebilligt werden. Lässt du mich Sally haben?«

»Sprichst du von Adoption oder dem Sorgerecht, solange mein Fall in der Schwebe ist?«

»Von beidem. Wenn ich sie nehme, will ich sie nicht mehr verlieren.«

»Susan, ich habe nichts dagegen, aber nur, wenn ich Sally besuchen und am Leben meiner Tochter teilnehmen darf. Ich will sie auch nicht mehr verlieren.«

Sie nahmen sich an den Händen. Ohne Susan loszulassen, sagte Peter: »Die Erinnerung an jene Nacht kommt allmählich wieder. Ich habe noch niemandem davon erzählt, weil ich Greg nicht gefährden möchte, aber ich weiß nicht, ob ich stark genug bin, den Rest meines Lebens im Gefängnis zu verbringen, selbst wenn es für meinen Bruder wäre.«

»Peter, wovon sprichst du?«

»Gregs Wagen war auf der Straße gegenüber der Bar geparkt. Renée hat ihn gekannt. Wenn er ihr angeboten hätte, sie nach Hause zu fahren, wäre sie bei ihm eingestiegen.«

»Greg hat gewusst, dass sie dich erpresst, oder?«

»Natürlich. Er war bei dem Stiftungstreffen anwesend, bei dem ich um das Darlehen über eine Million Dollar nachgefragt habe. Aber er hat geglaubt, es ginge nur darum, dass sie den Klatschkolumnisten verraten könnte, dass ich Sallys Vater bin. Das hat ihn nicht sonderlich berührt. ›Na und?‹, so war seine Einstellung dazu. Ich habe ihm nicht erzählt, dass es um wesentlich mehr geht.«

»Warum hätte er dann vor der Bar warten sollen?«, fragte Susan.

»Ich war ganz verzweifelt wegen des Geldes. Nachdem er mich abblitzen ließ, habe ich Pamela angerufen und ihr gesagt, dass Renée auch Gregs Insidergeschäfte offenlegen könnte. Ich habe gewusst, dass Pamela mir das Geld geben könnte. Greg hat eine Menge auf ihren Namen zur Seite gelegt. Sie muss es ihm erzählt haben, und vielleicht hat er daraufhin die Nerven verloren.« Er hielt inne. »Susan, ich denke, mein Bruder hat Renée umgebracht.«

»Du musst das der Polizei sagen.«

Peter schüttelte den Kopf. »Wie kann ich ihn fallenlassen? «, fragte er niedergeschlagen. »Das kann ich doch nicht tun!«

»Wieso nicht?«, fragte Susan. »Aber es ist deine Entscheidung, mit der du leben musst, Peter. Ich muss zurück ins Büro. Wir sehen uns später.«

Flieh in die dunkle Nacht
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