62
Als Ryan Jenner am Samstagnachmittag von seinem Besuch der O’Keefes zurückkehrte, betrat er mit einigem Bangen die Wohnung und fürchtete, Alice habe aus irgendeinem Grund ihren Aufenthalt verlängert. Aber sie war tatsächlich fort. Der Zettel, den sie auf dem Beistelltisch im Wohnzimmer hinterlassen hatte, bestärkte ihn darin, sich genügend Zeit zu lassen, um sich nach einer eigenen Miet- oder Eigentumswohnung umzusehen. Es drängte nicht, nur weil sie diese Wohnung noch ein wenig länger miteinander teilen würden.
Alice schloss ihre Mitteilung mit den Worten: »Ich werde dich vermissen. Es war eine nette Zeit.« Unterzeichnet war der Zettel mit: »Alles Liebe, A.«
Mit einem verzweifelten Seufzen sah er sich um. In der Woche ihres Aufenthalts hatte Alice einige Möbel verrückt. Zwei Clubsessel vor der Couch standen sich nun direkt gegenüber. Sie hatte die schweren Vorhänge mit geknüpften Kordeln in der Farbe des Vorhangstoffes zurückgeschlagen, so dass der Raum sehr viel heller wirkte. Die Bücher im Regal um den Kamin waren neu geordnet, sie standen nun in Reih und Glied und waren nicht mehr wahllos hineingestopft. Der gesamte Raum trug Alices Handschrift. Er fühlte sich nicht ganz wohl darin.
Er ging in sein Zimmer und musste zu seiner Verärgerung feststellen, dass auf den Nachtkästchen neue Leselampen standen und auf dem Bett eine hübsche Tagesdecke mit beige-braunem Muster sowie dazu passende Kissen lagen. Auf der Ankleide fand er einen weiteren Zettel. »Wie konntest du mit diesen Lampen bloß lesen? Meine Großmutter hatte auch so eine schwere Steppdecke. Ich habe mir die Freiheit genommen, sie wegzupacken, damit sie hoffentlich nie wieder gefunden wird.« Der Zettel war nicht unterschrieben, es fand sich nur eine Selbstkarikatur von ihr.
Sie ist also auch eine Künstlerin, dachte sich Ryan. Ich will hier weg.
Nach dem langen Tag, an dem er sich nach einer neuen Wohnung umgesehen hatte, und der Fahrt nach Mamaroneck war ihm nicht mehr danach, noch einmal die Wohnung zu verlassen. Also nur Käse und was sich sonst im Kühlschrank findet, beschloss er. Er ging in die Küche und öffnete den Kühlschrank. An eine Lasagne-Kasserolle war die Anweisung geheftet: »Etwa vierzig Minuten bei 180 Grad erwärmen.« Eine kleinere Schüssel daneben enthielt einen Endiviensalat. Der Zettel daran wies auf ein frisch gemachtes Knoblauchdressing hin.
Na, ob sich Alice auch mit so viel Feuereifer auf andere Typen stürzt?, fragte er sich. Jemand müsste ihr einmal sagen, dass sie sich ein wenig zügeln sollte.
Aber einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul, dachte er sich. Ich habe Hunger, und Alice ist eine gute Köchin. Er befolgte die Anweisungen, wärmte die Lasagne auf und ließ sich dann mit einigen Zeitungen zum Essen nieder.
Im Wagen auf dem Weg nach Mamaroneck hatte er im Radio gehört, dass nachts mit dem ersten Frost zu rechnen sei. Als er seine zweite Tasse Kaffee ins Wohnzimmer trug, fröstelte ihn in dem hohen Raum. Es musste draußen spürbar kälter geworden sein.
Eines der wenigen Zugeständnisse der alten Wohnung an die Moderne war ein Gaskamin. Ryan betätigte den Schalter, und hinter dem Glasschirm züngelten die Flammen hoch. Seine Gedanken schweiften zu seinem Besuch bei den O’Keefes.
Monica hat alles richtig gemacht, dachte er. Laut Emily O’Keefe hat sie sofort die richtige Diagnose gestellt und bei ihnen keine falschen Hoffnungen geweckt. Ich habe keinerlei Erklärung für diese MRTs. Die hat wohl keiner. Die ersten Tests zeigen ganz klar, in welch fortgeschrittenem Stadium der Tumor bereits war. Michael haben die MRTs aber so große Angst eingejagt, dass die O’Keefes daraufhin beschlossen haben, keine weiteren Untersuchungen mehr durchführen zu lassen. Jedenfalls hat Michaels Vater das so beschlossen. Seine Mutter hat gesagt, ihr Sohn brauche die MRTs nicht mehr, weil er sich jetzt in der Obhut von Schwester Catherine befinde.
Ein Jahr darauf haben sie Michael wieder zu Monica gebracht, um ihr zu zeigen, wie gut es ihm mittlerweile ging. Monica war sehr überrascht über seinen Zustand. Sie haben einer weiteren MRT zugestimmt, die belegt, dass der Tumor verschwunden war. Die Aufnahmen zeigen ein gesundes Gehirn. Monica war darüber genauso verblüfft, wie ich es gewesen wäre. Michaels Vater wollte es zuerst gar nicht glauben, dann war er vor Freude völlig außer sich. Und Michaels Mutter hat ein Dankgebet an Schwester Catherine gesprochen.
Ich habe den O’Keefes gesagt, dass ich darum bitten werde, im Seligsprechungsverfahren als Zeuge aussagen zu dürfen. Und egal, wie viele Jahre man Michael noch testen wird, er wird nicht mehr an diesem Hirntumor, sondern irgendwann einmal an Altersschwäche sterben. Der Hirntumor ist weg. Am Montag werde ich dort anrufen.
Damit klappte er seinen Laptop auf. Die verfügbaren Wohnungen, die er sich angesehen hatte, entsprachen nicht unbedingt dem, was er sich vorgestellt hatte. Aber es gibt noch andere, dachte er gelassen. Das Problem ist nur, ich will etwas, das sofort frei ist.
Am Sonntagmorgen besichtigte er jene Wohnungen, die für ihn am ehesten infrage zu kommen schienen. Um sechzehn Uhr, kurz bevor er schon aufgeben wollte, fand er genau das, was er gesucht hatte: eine geräumige, geschmackvoll eingerichtete Vier-Zimmer-Wohnung in SoHo mit Blick auf den Hudson. Der Eigentümer, ein Fotograf, der zu einem Auftrag ins Ausland ging, wollte sie für ein halbes Jahr vermieten. »Keine Haustiere, keine Kinder«, sagte er Ryan.
Amüsiert über die Reihenfolge antwortete Ryan: »Ich habe weder das eine noch das andere, hoffe aber, eines Tages beides zu haben. Aber das wird nicht im nächsten halben Jahr geschehen, das garantiere ich Ihnen.«
Zufrieden, bald in seiner eigenen Wohnung zu sein, schlief er am Sonntag tief und fest. Am Montagmorgen war er um sieben Uhr im Krankenhaus. Die geplanten OPs wurden durch einen Notfall allesamt über den Haufen geworfen. Ein junger Jogger war von einem Auto angefahren worden. Der Fahrer des Wagens hatte ihn übersehen, weil er am Steuer eine SMS verfasst hatte. Erst um Viertel nach sechs fand er Zeit, in Monicas Praxis anzurufen.
»Ach, um die Rückgabe der O’Keefe-Krankenakte müssen Sie sich keine Sorgen machen«, versicherte ihm Nan. »Dr. Farrell hat mich schon in Ihr Büro geschickt, um sie abzuholen.«
»Warum hat sie das getan?«, fragte Ryan erstaunt. »Ich wollte sie doch persönlich vorbeibringen. Können Sie mich bitte mit ihr verbinden?«
Das kurze, peinlich berührte Schweigen machte ihm klar, dass Monicas Sprechstundenhilfe angewiesen war, ihm zu sagen, sie sei für ihn nicht zu sprechen.
»Sie ist leider schon weg, Doktor«, erwiderte Nan.
Im Hintergrund konnte er aber deutlich hören, wie sich Monica soeben von einem Patienten verabschiedete. »Wenn Dr. Farrell Sie schon bittet, ihretwegen zu lügen, dann sollte die Frau Doktor auch etwas leiser reden. Richten Sie ihr das bitte aus«, gab er im scharfen Ton zurück und legte auf.