46
Ryan Jenner gestand sich nur ungern ein, wie enttäuscht er von Monica und deren augenscheinlicher Verärgerung war, dass über sie beide im Krankenhaus getratscht wurde. Auch dass ihre Sprechstundenhilfe die Michael-O’Keefe-Akte ohne persönliche Notiz bei ihm abgeliefert hatte, war eine deutliche Botschaft, dass sie keinen direkten Kontakt mehr mit ihm wollte.
Sie hat sich gestern nicht in ihrer Praxis aufgehalten, um mir die O’Keefe-Krankenakte zu geben, weil sie sich auf der Intensivstation so lange um die kleine Sally Carter hat kümmern müssen, dachte er am Freitagnachmittag nach seiner letzten Operation, als er sich in der Krankenhaus-Cafeteria auf eine Tasse Tee niederließ. Und dann wäre Monica auf dem Heimweg beinahe von einem Bus überfahren worden ...
Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken, wenn er nur daran dachte, dass sie dabei hätte ums Leben kommen können. Eine der OP-Schwestern hatte ihm erzählt, sie habe im Radio die alte Frau gehört, die Zeuge des Geschehens geworden war. »Sie schwört, dass Dr. Farrell absichtlich gestoßen wurde«, hatte die Schwester berichtet. »Ihnen würden die Haare zu Berge stehen, wenn ich Ihnen erzählte, was die alte Frau gesagt hat. Sie war im ersten Moment sicher, dass der Bus Dr. Farrell überfahren hat.«
Mir stehen jetzt schon die Haare zu Berge, dachte Ryan. Monica muss schreckliche Angst gehabt haben. Wie fühlt es sich an, wenn man am Boden liegt und ein Bus über einen hinwegrollt?
Die Schwester erzählte ihm auch, dass Monica verbreiten ließ, es wäre ihrer Meinung nach lediglich ein Unfall gewesen. Was nichts anderes heißen sollte als: Schwamm drüber. Und dann habe ich mich nach ihrem Befinden erkundigt und ihr in Anwesenheit der Schwester gesagt, wie wunderbar sie mit Kindern umgehen kann. Das ging zu weit. Versteht sie es, wenn ich ihr einen Brief zukommen lasse und mich entschuldige?
Versteht sie was?, fragte er sich. Dass ich an ihr interessiert bin? Letzte Woche hat sie einfach toll ausgesehen, als sie bei mir war. Wenn sie die Haare offen trägt, geht sie, ich schwöre es, als Einundzwanzigjährige durch. Und sie war ganz außer sich, weil sie zu spät gekommen ist. Das ist ja das Komische daran, dass sie, als sie mir heute die Krankenakte geschickt hat, nicht ein paar Zeilen dazugelegt und mir mitgeteilt hat, sie sei im Krankenhaus aufgehalten worden. Das passt so gar nicht zu ihr.
Und erneut spürte er die Berührung ihres Arms, als sie dicht gedrängt am Tisch im Thai-Restaurant gesessen hatten, spürte es fast so, als würde sie jetzt ebenfalls neben ihm sitzen. Sie hat sich wohlgefühlt, sagte sich Ryan. Sie hat nicht nur so getan, niemals.
Gibt es jemanden in ihrem Leben, der ihr wichtig ist? Vielleicht wollte sie mich damit nur auf höfliche Art und Weise auf Distanz halten? Aber so leicht gebe ich nicht auf. Ich werde sie anrufen. Wäre sie letzten Abend da gewesen, hätte ich sie zum Essen eingeladen. Genau wie das letzte Mal, als ich mir in ihrer Praxis die O’Keefe-Akte angeschaut habe, auch da hätte ich sie eingeladen, wenn ich mich nicht schon von Alice zum Theater hätte breitschlagen lassen.
Er trank seinen Tee aus und stand auf. Es waren kaum noch Gäste in der Cafeteria. Die Angestellten der Tagesschicht waren im Aufbruch begriffen, und für die Nachtschicht war es noch zu früh für eine Essenspause. Ich würde gern nach Hause, dachte er, aber wahrscheinlich ist Alice immer noch da. Sie hat heute Abend angeblich etwas vor, aber was heißt das? Ich habe keine Lust, mit ihr bei einem Glas Wein zusammenzusitzen und darauf zu warten, dass sie endlich auszieht. Ich weiß nicht, wann morgen ihr Flugzeug geht. Aber sobald ich wach bin, werde ich mich aus dem Staub machen. Ich werde mir irgendeine Entschuldigung einfallen lassen, aber ich werde ganz bestimmt nicht mit ihr am Frühstückstisch sitzen, wo sie immer ihren ausgefallenen Morgenmantel trägt. Als wollte sie mit mir auf traute Zweisamkeit machen.
Na ja, wenn Monica mir gegenübersitzen würde, wäre es etwas anderes ...
Ungeduldig und etwas ratlos verließ Ryan Jenner die Cafeteria und kehrte in sein Büro zurück. Inzwischen waren alle gegangen, die Putzfrau leerte bereits die Mülleimer. Ihr Staubsauger stand mitten im Empfangsbereich.
Das ist doch lächerlich, dachte er, ich kann nicht nach Hause, weil ich nichtzahlender Untermieter in der Wohnung meiner Tante bin, die es sich in den Kopf gesetzt hat, noch jemand anders darin wohnen zu lassen, was mir gehörig auf die Nerven geht. Ein unbeteiligter Beobachter würde das möglicherweise als kolossale Unverfrorenheit meinerseits werten. Aber zumindest weiß ich jetzt, was ich morgen machen werde: Ich werde mich nach einer eigenen Wohnung umsehen.
Die Entscheidung munterte ihn auf. Ich bleibe hier und werfe noch einmal einen Blick auf die O’Keefe-Akte, dachte er sich. Vielleicht habe ich beim ersten Mal etwas übersehen. Ein Gehirntumor verschwindet nicht einfach so. Könnte es sich von Anfang an um eine Fehldiagnose gehandelt haben? Die Öffentlichkeit weiß ja gar nicht, wie oft ernsthaft kranke Menschen als völlig gesund eingestuft und andere wiederum gegen Krankheiten behandelt werden, die sie gar nicht haben. Wir müssten nur offener damit umgehen, dann wäre das Vertrauen der Bevölkerung in die Medizin und die Ärzte auch nicht so erschüttert. Deshalb holen kluge Leute auch eine zweite und dritte Meinung ein, bevor sie sich einer gravierenden Behandlung unterziehen, oder hören auf ihren eigenen Körper, der ihnen sagt, dass etwas nicht stimmt, obwohl der Arzt nichts gefunden hat.
»Ich kann auch später noch staubsaugen, Doktor«, sagte die Putzfrau.
»Das wäre großartig«, erwiderte Ryan. »Ich verspreche, es wird auch nicht zu lange dauern.«
Erleichtert ging er in sein Büro und schloss die Tür. Er setzte sich an den Schreibtisch, zog die O’Keefe-Akte aus der Schublade und merkte, dass sich seine Gedanken um eine ganze bestimmte Frage drehten: War es möglich, dass irgendein Verrückter Monica nachstellte?
Ryan lehnte sich zurück. Es wäre denkbar, entschied er. Das Krankenhaus ist rund um die Uhr von allen möglichen Leuten bevölkert. Einer von denen, vielleicht ein Besucher, hat Monica gesehen und ist seitdem völlig fixiert auf sie. Meine Mutter, die damals als Krankenschwester in einem Krankenhaus in New Jersey arbeitete, hat mir von einer jungen Kollegin erzählt, die ermordet wurde. Ein Typ, der bereits mehrmals wegen Körperverletzung verurteilt worden war, sah bei einem Besuch im Krankenhaus die Schwester, folgte ihr nach Hause und brachte sie um. So etwas kommt vor.
Monica ist die Letzte, die es auf sensationslüsterne Publicity abgesehen hat, aber ist es klug, die Augenzeugin nicht ernst zu nehmen? Ich werde Monica anrufen, beschloss Ryan. Ich muss mit ihr reden. Es ist erst sechs Uhr. Vielleicht ist sie noch in ihrer Praxis.
Er wählte die Nummer und hoffte, dass sie selbst drangehen oder ihre Sprechstundenhilfe ihn durchstellen würde. Als sich der Anrufbeantworter einschaltete, legte er auf. Ich habe ihre Handynummer, dachte er, aber angenommen, sie ist mit jemandem verabredet? Ich werde bis Montag warten, wenn sie in ihrer Praxis zu erreichen ist. Äußerst enttäuscht, ihre Stimme nicht gehört zu haben, schlug er die O’Keefe-Akte auf.
Zwei Stunden später saß er immer noch an seinem Schreibtisch und ging Monicas Berichte über die frühen Symptome durch, Schwindelgefühle und Übelkeit, die bei Michael bereits im Alter von vier Jahren aufgetreten waren. Dazu die von ihr durchgeführten Tests, die MRT-Ergebnisse des Krankenhauses in Cincinnati, die Monicas Diagnose eines Hirntumors im fortgeschrittenen Stadium eindeutig bestätigten. Dann hatte seine Mutter alle weiteren Behandlungen abgelehnt, und Monate später, als sie sich einen Termin bei Monica geben ließ, zeigte die nächste MRT einen völlig unauffälligen Befund. Es war erstaunlich. Ein Wunder?
Es gibt dafür keine medizinische Erklärung, dachte Ryan. Michael O’Keefe sollte mittlerweile tot sein. Stattdessen ist er laut dieses Berichts ein gesundes Kind und spielt in einem Baseball-Team.
Er wusste, was er tun würde. Am Montagmorgen würde er das bischöfliche Ordinariat in Metuchen, New Jersey, anrufen und bezeugen, dass Michaels Genesung nach jetzigem medizinischem Wissen nicht zu erklären sei.
Er lehnte sich in seinem Schreibtischsessel zurück und dachte an den Tag, an dem er als Fünfzehnjähriger am Bett seiner kleinen, an einem tödlichen Hirntumor erkrankten Schwester gesessen hatte. Das war der Tag, an dem ich gewusst habe, dass ich in meinem Leben Menschen mit Gehirnverletzungen heilen möchte, dachte er. Aber es wird immer welche geben, denen wir nach menschlichen Maßstäben nicht mehr helfen können. Michael O’Keefe gehörte anscheinend zu ihnen.
Das Mindeste, was ich tun kann, ist zu bezeugen, dass hier ein Wunder geschehen ist. Bei Gott, ich wünschte, wir hätten damals schon von Schwester Catherine gewusst. Vielleicht hätte sie unsere Gebete ebenfalls erhört, und Liza wäre vielleicht noch unter uns. Sie wäre jetzt dreiundzwanzig Jahre alt ...
Mit dem bedrückenden Bild des kleinen weißen, mit Blumen bedeckten Sargs der vierjährigen Liza vor Augen verließ er sein Büro und das Krankenhaus. Er ging an die Ecke und wartete, während der Fourteenth-Street-Bus an ihm vorbeidonnerte. Der Gedanke, dass Monica beinahe von diesem Bus überfahren worden wäre, jagte ihm einen Schauer über den Rücken.
Und dann erinnerte er sich, so lebhaft, als würde Monica in diesem Augenblick vor ihm stehen, dass sie ihm erzählt hatte, sie habe in der Highschool die Emily in Unsere kleine Stadt gespielt. Ich habe ihr gesagt, dass ich immer noch einen Kloß im Hals bekomme, wenn ich an die letzte Szene denke, in der sich George, Emilys Mann, auf ihr Grab wirft.
Warum sehe ich Monica als Emily vor mir?, fragte sich Ryan. Warum beschleichen mich, wenn ich an sie denke, so schreckliche Vorahnungen? Warum habe ich Angst, dass Monica ihre Rolle in dem Theaterstück auch in der Wirklichkeit durchleben könnte?
Genauso habe ich mich auch damals gefühlt, als ich an Lizas Bett gekniet und gewusst habe, dass ihre Zeit abgelaufen war und ich nichts dagegen tun konnte ...