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Die Nacht hatte ihren Mantel über das Dorf gebreitet wie ein Fuhrmann, der sein Cape über die restliche Glut im Kamin wirft. Die Schornsteine auf den mit langen Holzschindeln gedeckten Dächern stießen träge blaue Rauchfahnen aus; sie sahen aus wie die schuppigen Rücken von Urtieren aus grauer Vorzeit. Langsam wurde es kalt, es war immer noch recht mild, aber nach dem langen Sommer und der Wärme der ersten Septembertage hatte ich vergessen, was Kälte war. Ich erinnere mich noch, dass ich zum Himmel aufschaute und beim Anblick der vielen Sterne, die sich wie verängstigte Vogeljunge aneinanderdrängten, dachte, dass es wohl bald, von einem Tag auf den anderen, Winter werden würde. Bei uns dauert der Winter lange, nicht enden wollende Monate lang, und in dieser Zeit ist unser weites Tal mit den im Schnee versunkenen Wäldern wie ein Gefängnis.

Als ich das Gasthaus betrat, waren sie alle dort, fast alle Männer unseres Dorfes, und ihre Gesichter waren versteinert und düster, sodass ich augenblicklich ahnte, was geschehen war. Orschwir schloss die Tür hinter mir. Er zitterte leicht. Seine großen blauen Augen sahen mich an, als sähen sie mich zum ersten Mal.

Mein Magen zog sich zusammen, ich hatte das Gefühl, dass mein Herz aussetzte, und ich fragte mit schwacher Stimme, während ich zur Zimmerdecke aufsah, weil ich mir das Zimmer des Anderen sowie ihn selbst vorstellte, mit seinen Koteletten, seinem dünnen Schnurrbart, seinen spärlichen, gekräuselten Haaren, die an den Schläfen abstanden, seinem dicken Kopf, der an ein wohlgenährtes, braves Kind erinnerte, und ich fragte also: «Ihr habt ihn doch wohl nicht …?» Diese Frage, wohl eher eine Klageruf, formten meine Lippen wie von selbst.

Orschwir packte mich an den Schultern, mit seinen Händen, die so breit sind wie die Hufe eines Maultiers. Sein Gesicht war noch violetter als sonst, und an seiner pockennarbigen Nase lief ganz langsam ein winziger, wie Bergkristall glitzernder Schweißtropfen hinunter. Er zitterte noch immer, und sein Zittern übertrug sich auf mich, weil er mich umfasst hielt. «Brodeck … Brodeck …», mehr sagte er nicht. Er ließ von mir ab und ging wieder hinüber zu den anderen Männern, die mich alle anstarrten.

Ich fühlte mich wie eine kleine, verlassene Kaulquappe in einer Frühlingspfütze. Mein Gehirn war wie gelähmt. Ausgerechnet da fiel mir die Butter wieder ein, wegen der ich eigentlich gekommen war. Ich wandte mich also zu Dieter Schloss um, der hinter dem Tresen stand, und sagte: «Ich wollte nur Butter kaufen, ein bisschen Butter, das ist alles …» Er hob gleichgültig die mageren Schultern und rückte den Flanellgürtel über seiner Wampe zurecht, und da, ja, ich glaube, es geschah in diesem Moment, kam Wilhem Vurtenhau, ein Bauer, dessen Gesicht etwas von einem Kaninchen hat und dem sämtliche Ländereien zwischen dem Wald von Steinühe und der Hochebene von Haneck gehören, auf mich zu und sagte: «Du sollst so viel Butter bekommen, wie du willst, Brodeck, aber du wirst die Geschichte erzählen, du wirst unser Chronist sein.» Ich riss die Augen weit auf und fragte mich, woher wohl Vurtenhau, der strohdumm ist und wahrscheinlich nie im Leben ein Buch gelesen hat, dieses Wort «Chronist» kannte – er betonte es allerdings auf der falschen Silbe.

Geschichten erzählen ist ein richtiger Beruf und gewiss nicht meiner, denn ich verfasse höchstens kurze Berichte über das Wachstum der Blumen und der Bäume, über die Jahreszeiten, das Wild, den Wasserstand des Flusses Staubi und über die Regen- und Schneefälle; die Behörde ist sehr weit weg, eine Tagesreise entfernt, und meine Arbeit ist nicht wichtig, keinen interessieren meine Berichte. Ich weiß nicht genau, ob sie ihren Adressaten erreichen und ob sie überhaupt gelesen werden.

Seit dem Krieg arbeitet die Post unzuverlässig, und es wird wohl noch einige Zeit dauern, bis sie wieder richtig funktioniert. Ich bekomme fast kein Geld mehr und habe das Gefühl, dass sie mich vergessen haben, für tot halten oder mich einfach nicht mehr brauchen.

Alfred Wurtzwiller, der Postbeamte, geht einmal alle vierzehn Tage zu Fuß nach S., er liefert Post ab – nur er allein darf das, er hat die Genehmigung – und bringt die Briefe und Pakete von dort mit; manchmal teilt er mir mit, dass er eine Zahlungsanweisung für mich dabeihat, und überreicht mir ein kleines Bündel mit Geldscheinen. Ich bitte ihn um Erklärungen. Er macht eine vage Handbewegung, die ich nicht deuten kann, und aus seinem Mund, der wegen einer großen Hasenscharte ganz zerknautscht aussieht, kommt ein Gestammel, das ich genauso wenig verstehe. Also nehme ich das zerknitterte, von ihm dreimal abgestempelte Dokument und das wenige Geld entgegen. Davon fristen wir unseren Lebensunterhalt.

«Wir erwarten keinen Roman von dir.» Jetzt hat Rudi Gott, der Hufschmied, gesprochen. Obwohl er so hässlich ist – ein Pferdehuf hat ihm die Nase zerschmettert und den linken Wangenknochen eingedrückt –, ist er mit einer wunderschönen Frau verheiratet. Sie heißt Gerde und stellt sich immer vor der Schmiede in Positur, als wartete sie auf den Maler, der einmal ihr Porträt malen wird. «Du wirst erzählen, was geschehen ist, das ist alles. Wie in deinen anderen Berichten.» Mit der rechten Hand umklammerte Gott seinen Schmiedehammer, seine Schultern waren nackt, und er trug seine lederne Schürze. Er stand neben dem Kamin, sodass das Feuer sein Gesicht erhitzte und der Stahl seines Werkzeugs glänzte wie eine gut geschliffene Sensenklinge. «Einverstanden», sagte ich, «ich werde alles erzählen, ich werde es versuchen, versprochen, ich versuche es, aber ich werde Ich sagen, wie in meinen Berichten, anders kann ich es nicht. Und ich warne euch, ‹ich› bedeutet immer alle, alle hier, versteht ihr? Wenn ich ‹ich› sage, meine ich damit das ganze Dorf und alle Weiler ringsum, also uns, verstanden?»

Ein Rumoren ging durch das Gasthaus, ein wohliges Brummen, wie Lasttiere es von sich geben, wenn ihnen das Geschirr etwas gelockert wird, und dann sagten sie: «Einverstanden. Mach es, wie du willst, aber gib acht, du darfst nichts weglassen, du musst alles erzählen. Wirklich alles, damit jeder, der den Bericht liest, alles versteht und auf uns keine Schuld fällt.»

Wer soll das lesen, habe ich gedacht. Und vielleicht wird der Leser verstehen, aber verzeihen ist noch etwas ganz anderes; jedoch wagte ich nicht, diesen Gedanken auszusprechen. Nachdem ich also zugestimmt hatte, war ihre Erleichterung zu spüren, sie lockerten die Fäuste und nahmen die Hände aus den Taschen. Es kam mir so vor, als würden die Statuen wieder zu Menschen. Ich holte tief Luft. Ich war um Haaresbreite davongekommen. Was sie mit mir gemacht hätten – das wollte ich lieber nicht wissen.

Das alles geschah zu Beginn des Herbstes. Der Krieg war seit einem Jahr vorbei. Auf den Hängen wuchsen blasslila Herbstzeitlosen, und am Morgen lag auf den Granitgipfeln der Prinzhorni, die unser Tal im Osten abschließen, oft der erste puderige weiße Schnee, der bis Mittag geschmolzen war. Fast auf den Tag genau drei Monate waren vergangen, seit der geheimnisvolle Andere bei uns eingetroffen war, mit seinen großen Koffern, seinen bunten Kleidern, seinem Pferd und seinem Esel. «Er heißt Monsieur Socrate», hatte er gesagt und auf den Esel gedeutet, «und das hier ist Mademoiselle Julie. Bitte begrüßen Sie Mademoiselle Julie.» Das schöne Pferd, ein Brauner, senkte zweimal den Kopf, woraufhin drei Frauen, die zufällig dabeistanden, erschrocken zurückwichen und sich hastig bekreuzigten. Noch immer habe ich den Klang seiner leisen Stimme im Ohr, als er uns seine beiden Tiere vorstellte, als wären es Menschen, und wir sprachlos danebenstanden.

Schloss stellte Gläser, Becher, Tassen und Wein für alle heraus. Ich musste auch etwas trinken. Wie zum Schwur. Mit Grauen stellte ich mir das Gesicht des Anderen vor und das Zimmer, in dem er jetzt wohl lag, ein Zimmer, das ich ein wenig kannte, weil ich auf seine Einladung hin einmal dort gewesen war. Er hatte einige rätselhafte, vieldeutige Worte gesprochen und mir seinen seltsamen schwarzen Tee angeboten, einen Tee, wie ich ihn bis dahin nie gekostet hatte. Überall lagen dicke Bücher herum, mit Titeln, die ich nicht verstand, einige in fremden Schriften und Sprachen verfasst, fremde, klappernde, klimpernde Worte, stellte ich mir vor. Manche Bücher hatten einen goldverzierten Einband, andere hingegen waren völlig zerlesen und zerfleddert. Außerdem sah ich in seinem Zimmer ein chinesisches Porzellanservice, das er in einer mit Nägeln beschlagenen Schatulle aus Leder aufbewahrte, ein Schachspiel aus Knochen und Ebenholz, einen Spazierstock mit geschliffenem Kristallknauf und noch viele andere Dinge, die in seinen Koffern verstaut waren. Er lächelte breit, ein Lächeln, das ihm oft die Worte ersetzte, mit denen er sparsam umging. Seine Augen waren rund, von einem schönen Jadegrün und standen leicht hervor, wodurch sein Blick eindringlich wurde. Er sprach wenig, meist hörte er zu.

Ich habe daran gedacht, was diese Männer, die ich seit Jahren kenne, getan hatten. Sie waren keine Ungeheuer, sondern Bauern, Handwerker, Landarbeiter, Waldarbeiter, kleine Angestellte, kurz, Menschen wie Sie und ich. Ich stellte mein Glas ab, nahm die Butter, die Dieter Schloss mir reichte, ein dickes, in knisterndes Wachspapier eingeschlagenes Stück, verließ das Gasthaus und rannte nach Hause.

So schnell bin ich noch nie gerannt.

Noch nie im Leben.

Brodecks Bericht
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