5

Orschwir saß in der Küche, am Kopfende des vier Meter langen Tisches, der aus dem Stamm einer mehrere hundert Jahre alten Eiche geschnitzt worden war, diese majestätischen Bäume, die im Wald von Tännaringen wachsen. Neben ihm stand eine junge Magd, die ich nicht kannte. Sie musste etwa sechzehn Jahre alt sein, ihr Gesicht war hübsch und rund wie das Gesicht der Heiligen Jungfrau auf alten Gemälden. Sie war blass, doch ihre Wangen schimmerten rosa wie eine Pfingstrose. Ihre Bewegungen waren so spärlich, dass sie fast aussah wie eine lebensgroße Puppe. Erst später habe ich erfahren, dass sie blind ist. Denn merkwürdigerweise schienen ihre Augen, obwohl sie etwas starr blickten, alles zu sehen. Das Mädchen bewegte sich mühelos durch den Raum, ohne die Möbel auch nur zu streifen. Sie war eine entfernte Verwandte, die die Orschwirs bei sich aufgenommen hatten. Sie kam aus Nehsaxen, ihre Eltern waren gestorben, ihr Elternhaus war zerstört und ihr Land beschlagnahmt worden. Man nannte sie die Keinauge.

Orschwir schickte sie mit einem leisen Pfiff weg, und sie entfernte sich lautlos. Dann winkte er mich heran und bat mich, mich zu setzen. Jetzt, am frühen Morgen, war er etwas weniger hässlich als sonst, als hätte der Schlaf seine Haut geglättet. Er war noch in Unterkleidung. Um seine Taille lag ein Ledergürtel und wartete auf die dazugehörige Hose, über die Schultern hatte er einen Paletot aus Ziegenhaar geworfen, und auf dem Kopf trug er bereits seine Mütze aus Otterfell. Vor ihm auf dem Teller dampften gebratene Eier und Speck. Orschwir aß bedächtig und schnitt sich ab und zu ein Stück Graubrot ab.

Er schenkte mir ein Glas Wein ein, sah mich ohne ein Zeichen der Verwunderung an und sagte nur: «Na, wie geht’s?» Er wartete aber meine Antwort gar nicht ab, sondern schnitt hingebungsvoll gleichmäßige Stücke von der letzten dicken Speckscheibe, die durch das Braten fast durchsichtig geworden war. Das Fett lief über den Teller wie Wachstränen an einer Kerze heruntertropfen. Ich beobachtete ihn oder vielmehr sein Messer, das Messer, das er an diesem Morgen zum Essen gebrauchte, als wäre es die natürlichste Sache der Welt, und das er am Abend zuvor in den Körper des Anderen gestochen hatte.

Meine Gedanken auszusprechen ist mir immer schon schwergefallen. Lieber schreibe ich, denn so habe ich das Gefühl, als könnte ich die Wörter zähmen. Sie fräßen mir wie junge Vögel aus der Hand, und ich könnte mit ihnen alles machen, was ich will. Spreche ich sie aber aus, entkommen sie mir. Der Krieg hat mich noch schweigsamer gemacht. Im Lager habe ich erlebt, was Worte anrichten können. Vorher habe ich übrigens noch viel gelesen, vor allem Gedichte. Professor Nösel hatte mich während meines Studiums auf den Geschmack gebracht, und ich behielt mir diese schöne Gewohnheit bei. Wenn ich zu meinen Erkundungsgängen aufbrach, vergaß ich nie, mir einen Gedichtband einzustecken. Wenn sich dann vor mir die gewaltigen Berge auftaten, wenn ich die steil hinauf wachsenden Wälder und das Schachbrettmuster der Wiesen vor mir sah, über denen der unermessliche Himmel zu wachen schien, las ich mir selbst einige Verse vor und las sie noch einmal, wenn ich spürte, dass sie in mir so etwas wie ein angenehmes Summen erzeugten, das Echo einer unbekannten Stimme tief in meinem Inneren, deren Worte ich nicht aussprechen konnte.

Nach meiner Rückkehr aus dem Lager habe ich alle meine Gedichtbände in den Ofen geworfen und verbrannt. Ich sah zu, wie die Flammen Wörter, Sätze und Seiten verzehrten. Der Rauch, der aus den Gedichten aufstieg, war nicht vornehmer oder anmutiger als jeder andere Rauch. Er war nichts Besonderes. Später habe ich erfahren, dass Nösel, wie viele Professoren oder andere Männer, deren Beruf es war, die Welt zu erkennen und zu erklären, bei einer der ersten Razzien verhaftet worden war. Wenig später ist er gestorben, in einem Lager ähnlich dem meinen und hundert anderen Lagern, die wie giftige Blumen fast überall hinter der Grenze aus dem Boden geschossen waren. Die Gedichte haben ihm nicht geholfen, ja, vielleicht ist er sogar ihretwegen gestorben. Die vielen tausend Verse auf Latein, Griechisch oder in anderen Sprachen, die er als seinen größten Schatz im Gedächtnis bewahrte, waren ihm am Ende zu nichts nütze. Wahrscheinlich hat er sich, anders als ich, nicht wie ein Hund behandeln lassen. Ja, so wird es wohl gewesen sein. In der Dichtkunst kommen keine Hunde vor; sie will nichts von Hunden wissen.

Orschwir wischte seinen Teller mit Brot aus.

«Brodeck, Brodeck … Ich sehe doch genau, dass du nicht viel geschlafen hast», sagte er leise und vorwurfsvoll. «Sieh mal, ich habe schon lange nicht mehr so gut geschlafen, o ja, sehr lange … Vorher habe ich kaum ein Auge zugebracht, aber in dieser Nacht war es, als wäre ich wieder sechs oder sieben Jahre alt. Ich habe meinen Kopf aufs Kissen gelegt, und drei Sekunden später war ich schon eingeschlafen …»

Inzwischen war es hell geworden, und das weiße Tageslicht fiel schräg auf den rot-braunen Fliesenboden in der Küche. Man hörte jetzt auch die Tiere draußen auf dem Hof, Knechte riefen etwas, Wagenachsen quietschten.

«Ich will den Leichnam sehen.» Der Satz war mir einfach so herausgerutscht. Orschwir sah mich erstaunt und zugleich bekümmert an. Seine Miene hatte sich schlagartig verändert. Sein Gesicht verschloss sich wie eine Muschel, auf die man ein wenig Essig träufelt, und plötzlich sah er wieder hässlich aus. Er nahm seine Mütze ab, kratzte sich am Kopf, erhob sich und ging zu einem der Fenster, wo er stehenblieb.

«Wozu soll das gut sein, Brodeck. Hast du im Krieg nicht schon genug Tote gesehen? Sieht nicht einer aus wie der andere? Du sollst berichten, was geschehen ist. Du sollst nichts weglassen, aber auch keine nutzlosen Einzelheiten hinzufügen, die dich vom geraden Weg abbringen und den Leser verwirren oder sogar in die Irre führen könnten; denn vergiss nicht, Brodeck, dein Bericht wird gelesen werden, von Leuten, die in S. sehr hohe Ämter bekleiden, ja, du wirst gelesen werden, auch wenn du das bezweifelst …»

Orschwir hatte sich umgedreht und musterte mich vom Scheitel bis zur Sohle.

«Ich schätze dich, Brodeck, aber ich muss dich warnen, als Bürgermeister und als … Ich bitte dich, komm nicht vom Weg ab. Eile nicht Dingen nach, die es nicht mehr gibt, die es nie gegeben hat.»

Er richtete seinen großen Körper auf, gähnte und streckte die Arme zur Zimmerdecke.

«Komm mit, ich will dir etwas zeigen.»

Er war einen guten Kopf größer als ich. Aus der Küche traten wir in einen verwinkelten, langen Flur, der durch das ganze Haus führte. Es kam mir vor, als würden wir nie mehr aus diesem Flur herauskommen. Ich war wie benommen, orientierungslos. Ich wusste, dass Orschwir ein großes Haus hatte, aber nie hätte ich vermutet, dass es so labyrinthisch war.

Das alte, vielfach umgebaute Gebäude stammte noch aus einer Zeit, als man sich weder um gerade Linien noch um eine logische Anordnung der Zimmer gekümmert hatte. Diodème hatte mir erzählt, die ersten Mauern des Hauses seien vor mehr als vier Jahrhunderten errichtet worden. Er habe in den Archiven eine Urkunde gefunden, aus der hervorging, dass der Kaiser dort im Herbst 1567 eine Rast einlegte, und zwar auf seiner Reise an die Grenze von Kärnten, wo er sich mit dem türkischen Sultan traf. Orschwir vor mir ging so schnell, dass ein Luftzug entstand. Ich blieb dicht hinter ihm, er roch nach Leder, Schlaf, gebratenem Speck, Bart und ungewaschener Haut. Unterwegs begegneten wir keiner Menschenseele. Manchmal stiegen wir ein paar Stufen hinauf oder hinunter. Ich könnte kaum sagen, wie lange wir brauchten, ob einige Minuten oder Stunden, denn in diesem Flur kamen mir mein Raum- und Zeitgefühl abhanden. Endlich blieb Orschwir vor einer dicken Tür stehen, die mit grün angelaufenem Kupfer und viereckigen Nägeln beschlagen war, und öffnete sie. Milchiges Licht blendete mich. Kurz musste ich die Lider schließen, dann schlug ich die Augen wieder auf – und sah.

Wir befanden uns an der Rückseite des Hauses, die ich noch nie gesehen hatte oder höchstens einmal aus weiter Ferne, bei einer meiner Wanderungen über die Höhen. Ich wusste, dass sich dort die Gebäude befanden, die den ganzen Reichtum des Bürgermeisters bargen, den er von seinem Vater und der wiederum von seinem Vater geerbt hatte. Dieser Reichtum war rosig und laut und suhlte sich den lieben langen Tag im Dreck, quiekte und machte einen Höllenlärm.

Die Schweine waren Orschwirs Goldgrube. Über viele Generationen hinweg war die Familie mit den Schweinen reich geworden. Auf fünfzig Kilometer im Umkreis war er der bedeutendste Schweinezüchter. Jeden Morgen fuhren Wagen vom Hof, transportierten die verängstigt quiekenden oder schon geschlachteten Tiere in die Dörfer, zu den Märkten und Metzgern der Umgegend. Diesen geregelten Ablauf hatte selbst der Krieg nicht durcheinanderbringen können. Denn auch zu Kriegszeiten müssen die Menschen essen, zumindest einige.

Nach Kriegsbeginn blickten wir alle ängstlich nach Osten und spitzten die Ohren, ob die trampelnden Stiefel der Fratergekeime schon zu hören waren. Fratergekeime, so nennen wir die Männer, die uns Tod und Verwüstung brachten, die Männer, die mich wie ein Tier behandelten, Männer wie wir, die ich gut kannte, weil ich zwei Jahre lang in ihrer Hauptstadt studiert hatte, Männer, mit denen wir befreundet waren, weil sie zu den Jahrmärkten regelmäßig in unsere Gegend kamen, Männer, deren Sprache mit unserer so eng verwandt ist, dass wir sie mühelos verstehen können. Als dann schließlich, drei Monate nach Kriegsbeginn, unsere Grenzposten weggefegt wurden wie Papierblumen, die ein Kind wegpustet, war Orschwir kein bisschen beunruhigt. Er züchtete, verkaufte und aß seine Schweine wie eh und je. Seine Tür wurde nicht beschmiert, kein obszönes Zeichen war darauf zu sehen. Zwar waren diese Männer, die durch unsere Straßen marschierten, in gewisser Weise verantwortlich für den unglücklichen Tod seiner beiden Söhne, aber er überließ ihnen ohne Bedenken seine fettesten Schweine und nahm ihr Geld, das sie wahrscheinlich irgendwo gestohlen hatten und nun mit vollen Händen ausgaben.

In dem ersten Stall, den Orschwir mir zeigte, spielten wenige Wochen alte Ferkel auf frischem Stroh. Sie rannten hintereinander her, stupsten sich mit den Rüsseln an und quiekten leise und fröhlich. Orschwir warf ihnen drei Schaufeln Körner hin, und sie stürzten sich auf das Futter.

Im nächsten Stall liefen die halbwüchsigen Schweine hin und her, sie rempelten sich an und suchten Streit. Sie gingen scheinbar grundlos aufeinander los. Die Tiere waren bereits groß und dick, ihre Ohren hingen schlapp herunter, und sie blickten wild und dumpf drein. Ein beißender Geruch stieg mir in die Nase. Sie wälzten sich im Stroh, in ihrem eigenen Kot. Ihr Grunzen war ohrenbetäubend. Mein Kopf schmerzte, ich wollte schnell wieder nach draußen.

Im letzten Stall dösten die ausgewachsenen Schweine vor sich hin. Riesig und bleich lagen sie lang ausgestreckt auf der Seite, in dem zähen schwarzen Matsch, und schnauften mit aufgesperrten Schnauzen. Einige linsten uns träge an, andere wühlten im Boden. Sie sahen aus wie Riesen, die zu Tieren verzaubert worden waren, Wesen, die zu einer grauenhaften Verwandlung verdammt waren.

«Das sind die Lebensalter», murmelte Orschwir. Ich hatte fast vergessen, dass er noch da war, und seine Stimme ließ mich hochschrecken. «Zuerst die Unschuld, dann die stumpfe Bosheit und hier schließlich die Weisheit …», sprach er weiter. Er schwieg einen Augenblick und sprach dann mit zögernder, leiser Stimme weiter: «Siehst du, Brodeck, der Schein trügt, diese Tiere sind wild. Sie sehen aus wie gestrandete Wale, aber sie haben kein Herz und keine Seele und kein Gedächtnis. Für sie zählt nur ihr Bauch, weiter nichts, sie wollen nur das eine: ihre riesigen Bäuche füllen.»

Er hielt inne und sah mich an, ein rätselhaftes Lächeln war auf seinem grobschlächtigen Gesicht zu sehen. In seinem Schnurrbart hingen Brotkrümel, und seine Lippen glänzten noch immer von dem fettigen Speck.

«Sie würden ihre eigenen Brüder fressen, ihr eigenes Fleisch und Blut, das würde sie nicht stören. Sie zermalmen, verschlingen, scheißen und fangen wieder von vorne an. Alles schmeckt ihnen, sie fressen alles, Brodeck, und stellen sich keine Fragen. Sie fressen alles … Verstehst du, was ich meine? Sie lassen nichts übrig, keine Spur, keinen Beweis, nichts. Und sie denken nicht nach, Brodeck. Sie haben kein Schuldbewusstsein. Sie leben jetzt, die Vergangenheit kennen sie nicht. Meinst du nicht, dass sie recht haben?»

Brodecks Bericht
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