39

Gestern – aber war es wirklich erst gestern? – habe ich Orschwir den Bericht gebracht. Ich habe die Seiten genommen und bin zu ihm gegangen, quer durch das Dorf. Es war noch früh am Tag, und außer dem Zungfrost bin ich keiner Seele begegnet.

«Zi … Zi … Ziemlich kalt draußen, Brodeck!»

Ich habe ihn kurz gegrüßt und bin weitergegangen.

Ich betrat Orschwirs Bauernhof, sah die Knechte und Schweine, aber niemand beachtete mich. Weder Menschen noch Tiere sahen mich an.

Orschwir saß an seinem großen Tisch, wie bei meinem letzten Besuch am Tag nach dem Ereignis. Aber gestern saß er nicht beim Essen. Er hockte einfach mit verschränkten Händen da und sah nachdenklich aus. Als er mich kommen hörte, blickte er auf und lächelte schwach.

«Da bist du ja, Brodeck, wie geht es dir? Stell dir vor, ich habe dich erwartet … Ich wusste, dass du heute Morgen kommen würdest.»

An einem anderen Tag hätte ich ihn vielleicht gefragt, wie er das wissen könne, aber an diesem Morgen war ich seltsam gleichgültig oder nicht interessiert an den vielen Fragen und Antworten. Orschwir und die anderen hatten ihr Spiel mit mir getrieben, und ich hatte genug davon. Die Maus hatte keine Angst mehr vor der Katze. Sollten sie sich doch ihr eigenes Spiel überlegen, auf mich brauchten sie nicht mehr zu zählen. Ich habe getan, was ich tun musste, ich habe alles erzählt.

Ich legte die Seiten, auf denen ich die Tatsachen notiert hatte, vor dem Bürgermeister auf den Tisch.

«Hier ist der Bericht, den ihr bei mir bestellt habt.»

Zerstreut nahm der Bürgermeister die Seiten in die Hand. Noch nie hatte ich ihn so abwesend, so nachdenklich erlebt. Sogar seine Gesichtszüge schienen weniger grob als sonst. Eine gewisse Traurigkeit machte sein hässliches Gesicht ein bisschen schöner.

«Der Bericht …», sagte er und breitete die Blätter vor sich aus.

«Du sollst ihn sofort lesen, vor meinen Augen. Und sag mir, was du davon hältst. Ich habe Zeit, ich werde warten.»

Orschwir sah mich lächelnd an und sagte nur:

«Wenn du willst, Brodeck, wenn du willst … Auch ich habe Zeit …»

Dann begann der Bürgermeister zu lesen, von Anfang, vom ersten Wort an. Mein Stuhl war bequem, ich lehnte mich behaglich zurück und versuchte, Orschwirs Gesichtsausdruck zu deuten, aber keine Gefühlsregung ließ sich erkennen. Nur manchmal wischte er sich mit seiner großen Hand über die Stirn, rieb sich die Augen, als hätte er nicht geschlafen, oder biss sich auf die Lippen, wobei er offensichtlich nicht bemerkte, wie heftig er zubiss.

Man hörte, wie der große Bauernhof erwachte, hörte Schritte, Schreie, Quieken, Wasser aus Eimern auf den Boden plätschern, Stimmen, quietschende Radachsen. Draußen begann das Leben von Neuem, an einem Tag, der im Großen und Ganzen war wie jeder andere auch, ein Tag, an dem überall auf der Welt Menschen geboren wurden und starben, in einem ewigen Kreislauf.

Orschwir las mehrere Stunden lang. Wie lange genau, kann ich nicht sagen. Ich fühlte mich ruhig. Ich ließ meine Gedanken wandern.

Die Wanduhr schlug. Orschwir hatte den Bericht bis zum Ende durchgelesen. Er räusperte sich dreimal, sammelte die Seiten wieder zusammen, legte sie auf einen ordentlichen Stapel, aus dem kein Blatt herausstand, und sah mich mit großen, müden Augen an.

«Und?», fragte ich.

Er wartete eine Weile, bevor er antwortete. Er stand wortlos auf, begann, langsam um den großen Tisch herumzugehen, und rollte die Seiten zu einer Art kleinem Zepter zusammen.

«Ich bin der Bürgermeister, Brodeck, das weißt du. Aber ich glaube nicht, dass du weißt, was das für mich bedeutet. Du schreibst gut, Brodeck, wir haben uns nicht in dir getäuscht. Du drückst dich gerne in Bildern aus, vielleicht übertreibst du es manchmal ein bisschen, aber na ja … Also werde auch ich in Bildern mit dir reden. Die Hirten auf den Hochweiden hast du ja schon oft beobachtet, du kennst sie. Ob sie die Tiere, die man ihnen anvertraut, lieben oder nicht, ist nicht bekannt. Und übrigens geht es weder mich noch sie etwas an, ob sie die Tiere lieben. Man überlässt die Tiere dem Hirten. Er muss für sie Gras, frisches Wasser und windgeschützte Stellen finden. Er muss sie vor Gefahren schützen, er muss sie fernhalten von den steilen Abhängen, von Felsen, auf denen sie ausrutschen und sich die Knochen brechen könnten, von Pflanzen, die sie vergiften oder ihre Bäuche aufblähen könnten, von Raubtieren und Raubvögeln, die das schwächste Glied der Herde angreifen könnten, und natürlich vor den Wölfen, die sich manchmal in der Nähe der Herden herumtreiben. Ein guter Hirte weiß das alles und tut alles, ob er nun die Tiere liebt oder nicht. Und die Tiere, wirst du jetzt denken, lieben die denn den Hirten? Aber das frage ich dich.»

Eigentlich stellte mir Orschwir keine Frage. Er sah mich nicht an, sondern ging immer weiter um den großen Tisch herum, sprach dabei und trommelte gedankenverloren mit den zusammengerollten Seiten auf die Innenseite seiner Handfläche.

«Wissen die Tiere überhaupt, dass sie einen Hirten haben, der das alles für sie tut? Wissen sie es? Ich glaube nicht. Ich glaube, dass sie sich nur für das interessieren, was sie unter ihren Hufen und vor ihren Mäulern haben, also Gras, Wasser und Stroh zum Schlafen. Das ist alles. Unser Dorf ist klein und hilflos, das weißt du. Das weißt du gut. Fast hätte unser Dorf nicht überlebt. Der Krieg kam über uns wie ein riesiger Mühlstein, der das Korn zerquetscht. Dennoch ist es uns gelungen, einiges zu retten. Es ist nicht alles zerstört worden. Nicht alles. Und mit dem, was übrig blieb, muss das Dorf leben.»

Orschwir war neben dem großen blauen Kachelofen stehengeblieben, der eine ganze Ecke des Raumes ausfüllt. Er bückte sich und nahm ein Scheit von dem ordentlich an der Wand aufgeschichteten Holzstapel. Er öffnete die Feuerungsklappe und steckte das Scheit hinein. Schöne, kurze Flammen tanzten um das Holz. Der Bürgermeister machte die Klappe nicht sofort wieder zu, sondern sah lange in die Flammen. Sie machten ein fröhliches Geräusch, wie die trockenen Blätter an den Ästen der Eichen im Herbstwind rascheln.

«Der Hirte muss immer an morgen denken. Alles, was gestern war, ist vorbei, und was zählt, ist das Leben, das weißt du sehr gut, Brodeck, denn du bist von einem Ort zurückgekehrt, von wo es keine Wiederkehr gibt. Und ich muss dafür sorgen, dass auch die anderen Menschen hier leben und den kommenden Tag ins Auge fassen können.»

Jetzt verstand ich, was er vorhatte.

«Das kannst du nicht tun …», sagte ich.

«Und warum nicht, Brodeck? Ich bin der Hirte, die Herde verlässt sich darauf, dass ich alle Gefahren von ihr fernhalte. Und die Erinnerung ist die schlimmste Gefahr, das brauche ich dir doch nicht zu erzählen, du erinnerst dich doch an alles, du erinnerst dich an zu vieles.»

Orschwir pochte mir mit dem zusammengerollten Bericht zweimal gegen die Brust, vielleicht um mich auf Abstand zu halten, vielleicht aber auch, weil er einen Gedanken in mich einhämmern wollte wie einen Nagel in ein Brett:

«Es ist Zeit zu vergessen, Brodeck. Die Menschen müssen vergessen.»

Dann schob Orschwir den Bericht in den Ofen. Die Seiten gingen im Nu in Flammen auf und entfalteten sich wie die Blütenblätter einer fremdartigen, riesigen, bizarren Blume, die Seiten krümmten sich, glühten auf, wurden schwarz, fielen dann grau zusammen und mischten sich in den brennenden Staub.

«Sieh hin», flüsterte mir Orschwir ins Ohr, «es ist nichts davon übrig, keine Spur. Bist du auch nicht mehr traurig deswegen?»

«Du hast Papier verbrannt, aber nicht meine Gedanken!»

«Da hast du recht, es war nur Papier, aber auf diesem Papier stand alles, was das Dorf vergessen will und auch vergessen wird. Nicht alle sind wie du, Brodeck.»

Als ich nach Hause kam, habe ich Fédorine alles erzählt. Sie hielt Poupchette auf ihrem Schoß. Die Kleine machte Mittagsschlaf. Ihre Wangen schimmerten zart wie die Blütenblätter der Pfirsichbäume in unseren Obstgärten, die ersten, die uns zu Beginn des Frühlings mit ihrem blassen Rosa erfreuen. Wir nennen sie hier Paradiesblumen. Ein merkwürdiger Name, wenn man es recht bedenkt, als ob das Paradies von dieser Welt sein könnte, als ob es überhaupt irgendwo existieren könnte. Emélia saß am Fenster.

«Was hältst du davon, Fédorine?», fragte ich endlich.

Sie antwortete nicht, sondern gab nur ein paar zusammenhanglose, sinnlose Sätze von sich. Nach einer Weile sagte sie dann aber doch:

«Du musst entscheiden, Brodeck, du allein. Wir werden tun, was du sagst.»

Ich sah sie alle drei an, das kleine Mädchen, die Frau und die alte Großmutter. Die eine schlief, als wäre sie noch nicht geboren, die Zweite sang abwesend vor sich hin, und die Dritte sprach mit mir, als wäre sie schon nicht mehr auf dieser Welt.

Also habe ich mit einer Stimme, die seltsam und kaum wie meine eigene klang, gesagt:

«Morgen gehen wir fort.»

Brodecks Bericht
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