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Ich hasse Diodème nicht und nehme ihm sein Verhalten nicht übel. Während ich seinen Brief las, stellte ich mir vor, wie er selbst gelitten haben muss. Ich dachte weniger an mein eigenes Leid. Ich habe dank des Briefs auch manches verstanden, etwa, warum er sich während meiner Abwesenheit so rührend um Fédorine und Emélia gekümmert hat, warum er sie jeden Tag besuchte und ihnen half und warum seine Fürsorge noch rührender wurde, nachdem Emélia verstummt war. Und ich habe auch verstanden, warum er, als ich aus dem Lager zurückkam, mich erst sprachlos ansah und dann vor Glück schrie, mich umarmte, mit mir tanzte und mich lachend immer wieder herumwirbelte, bis mir schwindelig wurde. Ich war zurück, und er durfte endlich wieder leben.
«Brodeck, mein ganzes Leben lang habe ich versucht, ein Mann zu sein, aber es ist mir nicht immer gelungen. Nicht Gottes Vergebung suche ich, sondern ich will, dass Du mir vergibst. Du wirst diesen Brief finden. Ich weiß, dass Du den Schreibtisch, in dem ich ihn verstecke, behalten wirst, wenn ich diese Welt verlassen habe. Ich weiß es, weil Du so oft von diesem Schreibtisch sprichst, ein Schreibtisch, an dem man, sagst Du immer, sicher gut schreiben könne, denn ich schreibe ja so viel. Früher oder später wirst Du also den Brief finden und wirst alles erfahren. Alles. Du wirst auch erfahren, was mit Emélia geschehen ist. Ich habe Nachforschungen angestellt. Das war ich Dir schuldig. Jetzt weiß ich, wer die Täter waren. Es waren nicht nur Soldaten, auch Leute aus dem Dorf sind dabei gewesen. Ihre Namen stehen auf der Rückseite dieses Blattes. Jeder Irrtum ist ausgeschlossen. Und vergib mir, Brodeck, vergib mir, ich bitte Dich …»
Das Ende des Briefes habe ich mehrmals gelesen, stolperte immer über die letzten Worte und brachte nicht fertig, was Diodème mir vorschlug. Ich konnte das Blatt nicht umdrehen und die Namen lesen. Namen von Männern, die ich sicher kannte, unser Dorf ist ja so klein. Ich wusste, dass Emélia und Poupchette nur wenige Meter von mir entfernt schliefen. Meine Emélia und meine süße Poupchette.
Plötzlich muss ich an den Anderen denken. Ihm hatte ich die Geschichte erzählt.
Das war zwei Wochen nachdem ich ihn am Lingen-Stein getroffen hatte, wo er die Landschaft betrachtete und zeichnete. Ich kehrte gerade von einer langen Wanderung zurück, auf der ich die Wege überprüft hatte, die von einer Hochweide zur anderen führen. Früh am Morgen war ich aufgebrochen und weit gewandert. Ich war hungrig und durstig und froh, wieder im Dorf zu sein. Da lief ich ihm über den Weg, er kam gerade aus Solzners Stall, wo er seinem Esel und seinem Pferd einen Besuch abgestattet hatte. Wir grüßten uns, und ich war schon an ihm vorbeigegangen, als ich ihn sagen hörte:
«Würden Sie heute vielleicht meine Einladung annehmen, die ich vor einiger Zeit ausgesprochen habe?»
Ich wollte ihm schon antworten, ich sei zu müde und wolle schnell nach Hause zu meiner Frau und meiner Tochter, aber als ich sah, wie er freundlich lächelnd auf meine Antwort wartete, da sagte ich auch schon das Gegenteil. Er schien sich zu freuen und lud mich ein, ihn zu begleiten.
Als wir das Gasthaus betraten, wischte Schloss gerade den Boden. Kein Gast war da. Der Wirt wollte mich schon fragen, was ich wünsche, besann sich aber anders, als er sah, dass ich in Begleitung des Anderen gekommen war, hinter dem ich die Treppe hinaufstieg. Er stützte sich auf seinen Schrubber und musterte mich eigenartig, dann nahm er, als wäre er wütend, den Henkel des Eimers und schüttete was noch an Wasser darin war, ungeduldig über den Holzboden.
Im Zimmer des Anderen roch es stark nach Weihrauch und Rosenwasser. In einer Ecke sah ich seine geöffneten Koffer. Viele Bücher in Einbänden mit Goldprägung waren darin zu sehen und dazwischen Stoffe, Seide, Samt, Brokat, Gaze, von denen er einige auch über den farblosen, rissigen Putz an die Wände gehängt hatte, was dem Raum etwas Orientalisches gab, wie ein Nomadenlager. Neben den Koffern standen zwei große Zeichenmappen, die viele Bögen enthalten mussten, so ausgebeult, wie sie aussahen. Aber sie waren sorgfältig verschnürt. Auf dem kleinen Tisch, der ihm auch als Schreibtisch diente, lagen alte, kolorierte Landkarten ausgebreitet, die, wie ich sehen konnte, nicht unsere Gegend abbildeten, sondern mir unbekannte Gebirgszüge und Flussläufe. Daneben erkannte ich außerdem einen großen kupfernen Kompass, ein Fernrohr, einen Zirkel und ein weiteres Messinstrument, das an einen winzigen Theodoliten erinnerte, sowie sein kleines Notizbuch.
Der Andere bot mir den einzigen Sessel an, den es in seinem Zimmer gab und den er zunächst von einem Stapel Bücher, anscheinend Bände eines Lexikons, frei räumen musste. Dann entnahm er einer Schatulle aus Ebenholz zwei zerbrechliche Teetassen, bemalt mit knienden Prinzessinnen und Kriegern, die aussahen wie Chinesen oder Hindus, und stellte sie auf die passenden Untertassen. Auf dem Nachttisch stand ein großer versilberter Samowar, dessen Ausguss an einen Schwanenhals erinnerte. Der Andere nahm den Samowar, goss kochendes Wasser in die Tassen und gab dann einige schwarzbraune getrocknete Blätter hinein, die sich anmutig wie Blüten entfalteten, einen Augenblick auf der Wasseroberfläche trieben und dann langsam auf den Boden der Tasse sanken. Ich bestaunte das Schauspiel wie einen Zaubertrick, und da merkte ich, dass mein Gastgeber mich belustigt beobachtet hatte.
«Kleiner Aufwand, große Wirkung … Schon mit einfacheren Tricks kann man ganze Völker zum Narren halten», sagte er und reichte mir eine der Tassen. Dann setzte er sich mir gegenüber auf den Schreibtischstuhl, der so klein war, dass sein dickes Hinterteil gar nicht darauf zu passen schien. Er hob die Tasse zum Mund, blies vorsichtig hinein und trank mit offensichtlichem Behagen mehrere kleine Schlucke. Dann setzte er die Tasse wieder ab, stand auf, wühlte in einem der großen Koffer und kam mit einem Folio-Band zurück, dessen abgegriffener Buchdeckel davon zeugte, dass er oft gelesen worden war. Von all den goldschimmernden und glitzernden Büchern, die ich in dem Koffer erkennen konnte, war dies übrigens das unscheinbarste. Der Andere reichte es mir.
«Sehen Sie es nur an, ich bin sicher, dass es Sie interessiert.»
Ich schlug das Buch auf und traute meinen Augen nicht. Dies war das Liber florae montanarum des Bruders Abigaël Sturens, gedruckt 1702 in Müns, illustriert mit Hunderten kolorierten Stichen. In sämtlichen Bibliotheken der Hauptstadt hatte ich vergeblich danach gesucht. Angeblich gab es nur vier Exemplare davon. Es wurde zu horrenden Preisen gehandelt, und viele reiche Gelehrte hätten ein Vermögen ausgegeben, um es in ihren Besitz zu bringen. Der wissenschaftliche Wert war unschätzbar, weil es die ganze Blumenwelt der Berge auflistete, sogar die seltensten und seltsamsten Arten, die längst ausgestorben waren.
Offenbar bemerkte der Andere meine Freude, die ich ja auch nicht vor ihm zu verbergen suchte.
«Bitte sehr, sehen Sie es sich nur an, bitte, bitte …»
Also nahm ich das Buch, einem Kind gleich, dem man ein wunderbares Spielzeug in die Hand gibt, und begann, darin zu blättern.
Ich hatte das Gefühl, als ob ich einen Schatz gefunden hätte. Die Tabellen des Bruder Sturens waren außerordentlich genau, und die Anmerkungen zu jeder Blume, jeder Pflanze gaben nicht nur das gesamte damals bekannte Wissen wieder, sondern enthielten auch noch viele weitere Details, die nirgendwo anders zu finden waren.
Das Erstaunlichste an dem Werk aber war die Genauigkeit sowie die außerordentliche Schönheit der Abbildungen, die den Kommentar begleiteten. Mutter Pitz’ Herbarien stellten für mich eine kostbare Quelle dar, die mir oft half, meine Berichte zu vervollständigen oder Fehler zu berichtigen. Aber die Blumen, die ich darin fand, hatten ihre Farbe und ihre Anmut eingebüßt. Man musste Phantasie und Gedächtnis bemühen, damit diese entschlafene, vertrocknete Welt wieder zu dem wurde, was sie einst gewesen war, lebendig, geschmeidig und farbenfroh. Hier aber, in diesem Liber florae, bekam man den Eindruck, jemandem mit diabolischem Talent und von außergewöhnlicher Intelligenz sei es gelungen, die Wahrheit der Blumen zu erfassen. Durch die verstörende Genauigkeit der Zeichenstriche und Schattierungen sah es aus, als wären sie erst vor wenigen Sekunden gepflückt worden: Märzenbecher, Frauenschuh, Tüpfel-Enzian, Faltenstirniger Eisenhut, Huflattich, Feuerlilie, Straußglockenblume, Sichelblättrige Wolfsmilch, Echte Edelraute, Schneefrauenmantel, Schachblume, Gold-Fingerkraut, Weiße Silberwurz, Scharfer Mauerpfeffer, Schwarzchristwurzel, Mannsschild und Troddelblume.
Den Anderen hatte ich ganz vergessen. Ich hatte auch vergessen, wo ich mich befand. Aber plötzlich hörte das Schwindelgefühl auf. Ich hatte umgeblättert, und da erschien vor meinen Augen, zart wie Marienfäden und winzig, mit fransigen, blassrosa geränderten Blütenblättern, die wie kleine, aufmerksame Hände schützend die kronenförmig angeordneten goldgelben Staubgefäße umschlossen: der Schluchtenenzian.
Wahrscheinlich habe ich tatsächlich einen kurzen Schrei ausgestoßen. Da, in diesem alten, prächtigen Buch auf meinen Knien, war das Bild dieser Blume, und so war bewiesen, dass es sie wirklich gab. Ich sah das Gesicht des Studenten Kelmar vor mir. Es war, als blickte er mir über die Schulter. Kelmar, der mir so viel von dieser Blume erzählt und mir das Versprechen abgenommen hatte, sie zu finden.
«Interessant, nicht wahr?»
Die Stimme des Anderen riss mich aus meinen Gedanken.
«Diese Blume suche ich schon so lange …», hörte ich mich antworten, mit einer Stimme, die mir ganz fremd vorkam.
Mit seinem feinen Lächeln sah der Andere mich an, ein Lächeln, das typisch für ihn war und das nicht von dieser Welt schien. Er trank seine Teetasse aus, setzte sie ab und sagte dann, beinahe beiläufig:
«Nicht immer gibt es die Dinge wirklich, die man in Büchern findet. Manchmal lügen die Bücher, meinen Sie nicht auch?»
«Ich lese kaum mehr.»
Zwischen uns entstand ein Moment des Schweigens, das keiner unterbrechen wollte. Ich hatte das Buch zugeschlagen und drückte es noch immer an mich. Ich dachte an Kelmar, dachte an den Waggon, sah wieder vor mir, wie es gewesen war, als wir aus dem Waggon herauskamen. Ich hörte die Schreie unserer Leidensgenossen, die Schreie der Aufseher und das Kläffen der Hunde. Und dann sah ich Emélias schönes stummes Gesicht und ihren Mund, der das ewig gleiche Lied sang. Ich spürte den gütigen Blick des Anderen, und da geschah es, ganz von allein. Ich fing an, ihm von Emélia zu erzählen. Warum habe ich ihm von ihr erzählt? Warum habe ich diesem Mann, den ich überhaupt nicht kannte, von Dingen erzählt, die ich niemandem sonst anvertraut hatte? Wahrscheinlich war dieses Bedürfnis, alles, was mir das Herz schwermachte, endlich einmal auszusprechen, viel drängender gewesen, als ich mir selbst eingestanden hatte. Hätte ich mich vielleicht dem Pfarrer Peiper anvertraut, wenn er sich selbst treu geblieben und nicht im Krieg zu einer besoffenen Vogelscheuche geworden wäre? Wieder bin ich mir nicht ganz sicher.
Das Lächeln des Anderen war nicht von dieser Welt, denn er selbst war nicht von dieser Welt. Er war nicht Teil unserer Geschichte, er gehörte zu keiner Geschichte, er war aus dem Nichts aufgetaucht, und heute, da keine Spur mehr von ihm geblieben ist, scheint es, als ob es ihn nie gegeben hätte. Wem, wenn nicht ihm, hätte ich alles erzählen können? Ich habe ihm erzählt, wie es war, als ich verschleppt wurde und Emélia hinter mir auf dem Boden lag, weinte und schrie. Ich habe ihm auch erzählt, dass Frippman gute Laune hatte und dass er nicht verstand, was mit uns geschehen würde, welches Schicksal uns ereilen würde.
Noch am selben Abend brachte man uns aus dem Dorf. An den Händen waren wir mit einem langen Strick gefesselt, wir gingen nebeneinander, bewacht von zwei berittenen Soldaten. Auf dem vier Tage dauernden Marsch gaben unsere Wachen uns nur Wasser und die Reste ihrer Mahlzeiten. Aber Frippman ließ sich davon nicht entmutigen. Er erzählte mir immer wieder die gleichen Geschichten, belehrte mich über die beste Zeit der Aussaat, sprach über die Form des Mondes und die Katzen, die ihm, wie er behauptete, auf der Straße hinterherliefen. Das alles in seinem üblichen Kauderwelsch, einer Mischung aus unserem Dialekt und der alten Sprache. Erst in diesen Tagen, die ich in seiner Gesellschaft verbrachte, wurde mir klar, dass er tatsächlich geistig beschränkt war – vorher hatte ich ihn immer für ein bisschen schrullig gehalten. Alles bewunderte er: die Pferde, auf denen unsere Wachen ritten, die gewichsten Stiefel, die in der Sonne funkelnden Uniformknöpfe. Die beiden Soldaten behandelten uns nicht schlecht. Sie zogen uns hinter sich her wie Gepäckstücke, sprachen nicht mit uns, aber sie schlugen uns auch nicht.
Endlich langten wir im halbzerstörten S. an, wo der Schutt auf den Straßen lag und ein unbeschreibliches Drunter und Drüber herrschte. Eine Woche lang wurden wir im Bahnhof zusammengepfercht, zusammen mit anderen Männern, mit Frauen, ganze Familien, mit armen Menschen und solchen, die noch die Symbole ihres Reichtums mit sich herumtrugen und ihre Leidensgenossen von oben herab behandelten. Es waren viele hundert, lauter Fremde. Man nannte uns jetzt übrigens nur noch bei diesem Namen, und so riefen auch die Soldaten nach uns. Wir waren keine einzelnen Menschen mehr, wir trugen alle denselben Namen, der eigentlich keiner war, und es wurde verlangt, dass wir auf ihn hörten. Was uns erwartete, wussten wir nicht. Frippman blieb immer in meiner Nähe. Manchmal klammerte er sich lange mit beiden Händen an meinem Arm fest, wie ein Kind, das sich fürchtet. Ich ließ ihn gewähren. Wenn einem etwas Unbekanntes, Schreckliches bevorsteht, ist man besser zu zweit. Eines Morgens wurden wir in zwei Kolonnen aufgeteilt. Frippman kam in die linke und ich in die rechte.
«Auf Wiedersehen, Brodeck! Bis bald, im Dorf!», rief Frippman mir freudestrahlend zu, während seine Kolonne sich in Marsch setzte. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, und winkte ihm nur kurz zu, damit er nichts von dem Grauen ahnte, das uns, das wusste ich bereits, erwartete. Mit Stockschlägen trieb man uns darauf zu, ihn zuerst und dann mich. Er drehte sich um und ging pfeifend und mit zügigen Schritten davon.
Ich habe Frippman nie mehr gesehen. Er ist nicht ins Dorf zurückgekehrt. Der Straßenwärter Baerenburg hat seinen Namen in das Denkmal gemeißelt und musste ihn, anders als meinen, nicht wieder tilgen.
Emélia und Fédorine blieben allein im Haus zurück. Das ganze Dorf mied sie, als ob sie eine ansteckende Krankheit hätten. Nur Diodème kümmerte sich, wie gesagt, um sie, weil er mein Freund war und weil er sich schämte. Aber immerhin hat er sich um sie gekümmert.
Bei Emélia wurden kaum mehr Aussteuern, Deckchen, Vorhänge und Taschentücher in Auftrag gegeben. Aber auch wenn sie keine Stickarbeiten mehr hatte, blieb sie nicht untätig. Man musste schließlich essen und das Haus heizen. Früher hatte ich ihr gezeigt, welche Schösslinge, Baumrinden, Beeren, Pilze, Kräuter und Wildsalate in den Wäldern und auf den Hochweiden für die Menschen genießbar sind. Fédorine brachte ihr bei, wie man Vögel mit Vogelleim und einer Schnur fängt, wie man Schlingen für Kaninchen legt und Eichhörnchen von den Bäumen herunterlockt und mit einem Stein erschlägt. Sie mussten nicht hungern.
Jeden Tag notierte Emélia einige Sätze für mich in ein kleines Heft, das ich nach meiner Rückkehr gefunden habe. Einfache, zärtliche Worte, die von mir, von ihr, von uns beiden erzählten, als könnte ich jeden Moment wiederkommen. Sie schrieb auf, wie sie ihre Tage verbrachte, und begann immer mit den gleichen Worten: «Mein kleiner Brodeck …» Sie schrieb ganz ohne Bitterkeit. Die Fratergekeime erwähnte sie sicher absichtlich mit keinem Wort. Auf diese schöne Art leugnete sie deren Existenz. Ich habe das Heft noch und lese häufig darin. Es ist ein langer, bewegender Bericht über die Tage meiner Abwesenheit. Die Worte bringen Licht in meine Dunkelheit. Ich will die Worte für mich behalten, für mich allein, denn das war Emélias Stimme, bevor sie in der Nacht verschwand.
Orschwir kam nie zu Besuch. Aber einmal ließ er ihnen ein halbes Schwein liefern, das sie eines Morgens vor ihrer Haustür fanden. Peiper kam ein paarmal, aber Fédorine fand es unerträglich, wenn er stundenlang am Ofen sitzen blieb, die Flasche Pflaumengeist austrank, die sie für ihn aus dem Schrank geholt hatte, und immer verworrener daherredete. Eines Abends jagte sie ihn sogar mit dem Besen zur Tür hinaus.
Adolf Buller und seine Truppe hielten immer noch das Dorf besetzt. Eine Woche nachdem man Frippman und mich verhaftet hatte, erlaubte er endlich, dass Cathor beerdigt wurde. Beckenfür, der Mann seiner Schwester, war sein einziger Verwandter, also musste er sich darum kümmern. «Was für eine Sauerei, Brodeck … Kein schöner Anblick … Sein Kopf war doppelt so groß wie früher, schwarze aufgeplatzte Haut und sein Körper, mein Gott, sprechen wir nicht davon …»
Abgesehen davon, dass sie Cathor hingerichtet und uns verschleppt hatten, betrugen die Fratergekeime sich gegenüber der Bevölkerung denkbar korrekt, sodass die beiden Vorkommnisse schnell in Vergessenheit gerieten. Die Leute allerdings taten auch alles dafür, um sie schnellstmöglich zu vergessen. Zu dieser Zeit kehrte Göbbler mit seiner dicken Frau ins Dorf zurück. Er bezog wieder das Haus, das er fünfzehn Jahre zuvor verlassen hatte, und wurde vom ganzen Dorf mit offenen Armen empfangen, vor allem von Orschwir, der mit ihm zusammen bei der Armee gewesen war.
Ich könnte schwören, dass Göbbler Schuld daran hatte, dass die Stimmung im Dorf langsam kippte. Er redete den Leuten ein, es sei doch ein Glück, dass ausgerechnet diese Kompanie das Dorf besetzte. Sie seien nicht feindselig, sondern garantierten ganz im Gegenteil Frieden und Sicherheit und sorgten dafür, dass das Dorf und das Umland von Massakern verschont werde. Allerdings kostete es ihn keine große Mühe, sie alle davon zu überzeugen, dass es in ihrem Interesse sei, wenn Buller und seine Männer so lange wie möglich im Dorf blieben. Hundert Männer wollen essen, trinken und rauchen, sie lassen ihre Wäsche waschen und ausbessern und bringen eine ganze Menge Geld in Umlauf.
Mit dem Einverständnis des ganzen Dorfes und Orschwirs Segen wurde Göbbler eine Art zweiter Bürgermeister. Häufig sah man ihn jetzt im Zelt von Buller, der nach anfänglichem Misstrauen schnell verstand, wie nützlich ihm dieser Mann ohne Rückgrat sein konnte, der seine Nähe suchte, und behandelte ihn von da an fast wie einen Vertrauten. Und seine Frau Bulla machte für die ganze Truppe, die Offiziere und die einfachen Soldaten, die Beine breit.
«Wir hatten uns eben an die Besatzung gewöhnt», hatte Schloss mir bei dem bewussten Gespräch gesagt, als er sich so betrübt an meinen Tisch setzte. «Ihre Anwesenheit war selbstverständlich geworden. Schließlich waren sie doch Menschen wie wir, aus dem gleichen Holz geschnitzt. Wir beschäftigten uns mit den gleichen Dingen und sprachen fast dieselbe Sprache. Am Ende duzten wir uns sogar beinahe mit allen. Viele Soldaten halfen den alten Leuten oder spielten mit den Kindern. Jeden Morgen fegten zehn Soldaten die Straßen, andere pflegten die Wege, hackten Holz, trugen die Misthaufen ab. Das Dorf war noch nie so sauber gewesen! Was soll ich sagen? Wenn sie in mein Gasthaus kamen, reichte ich ihnen etwas zu trinken und spuckte ihnen nicht ins Gesicht! Und außerdem, glaubst du denn, die Leute wollten so enden wie Cathor oder einfach vom Erdboden verschwinden wie du und Frippman?»
Fast zehn Monate blieben die Fratergekeime im Dorf, und bis zum Ende hatte es keine besonderen Vorfälle gegeben. Aber während der letzten Wochen schlug die Stimmung um. Später erfuhr man den Grund dafür. Die Fronten verschoben sich, eine Niederlage drohte. So wie der beißende Rauch eines Frühlingsfeuers vom Wind von einem Moment zum nächsten in eine andere Richtung getrieben wird, so schlug der Sieg sich nun auf die andere Seite. Natürlich wusste im Dorf niemand davon. Solange man sie im Unklaren ließ, so lange waren sie nicht gefährlich. Aber Buller selbst wusste Bescheid. Und mit Vergnügen stelle ich mir sein Gesicht vor, das immer heftiger zuckte, je mehr Briefe ihn erreichten, in denen von Flucht, Zusammenbruch und dem Untergang jenes Großreiches die Rede war, dessen Macht sich über die ganze Welt erstrecken und viele tausend Jahre hatte währen sollen.
Wie treue Hunde spürten die Soldaten die Sorge ihres Befehlshabers und wurden auch immer nervöser. Die Masken fielen. Vor Diodèmes Augen wurde der Metzger Brochiert verprügelt, weil er einen Gefreiten mit seiner Vorliebe für Innereien aufgezogen hatte. Limmat, der sich nicht die Mühe gemacht hatte, zwei vorübergehende Soldaten zu grüßen, wurde rüde angerempelt und verdankte es nur Göbbler, der zufällig vorbeikam, dass er nicht auch noch Stockschläge bezog. Mehrere solcher Vorfälle gaben den Dorfbewohnern zu verstehen, dass das Ungeheuer aus seinem kurzen Schlaf erwachte. Also hielt auch die Angst wieder Einzug und mit ihr zusammen der Wunsch, sie zu bannen.
Ausgerechnet an dem Tag bevor sich die Kompanie aus dem Dorf zurückziehen sollte, entdeckten einige Bewohner des Dorfes, die nachmittags mit dem Schlitten Holz aus dem Borensfall-Wald holen wollten, an der Lichmal-Lichtung unter einer Höhle aus Tannenzweigen drei junge Mädchen, die sich völlig verängstigt aneinanderdrängten. Sie trugen Kleider, die nicht so aussahen wie die Kleidung unserer Bauersmädchen, sie hatten keine Holzpantinen an den Füßen und keine Schnürstiefel, sondern ganz andere, elegante Schuhe. Bei sich hatten sie einen kleinen Koffer und kamen offensichtlich von weit her. Wahrscheinlich waren sie schon mehrere Wochen auf der Flucht und waren, Gott weiß warum, ausgerechnet in diesen Wald geraten, in diese fremde Welt.
Die Bewohner des Dorfes gaben ihnen Essen und Trinken, und die Mädchen stürzten sich darauf, als ob sie seit Tagen nichts bekommen hätten. Dann folgten sie ihnen vertrauensselig ins Dorf. Diodème schreibt, dass die Männer zu diesem Zeitpunkt noch nicht wussten, was sie mit den Mädchen vorhatten. Ich möchte es gerne glauben. Aber auf jeden Fall müssen sie gewusst haben, dass es sich bei ihnen ebenfalls um Fremde handelte und dass jeder Schritt, den sie auf das Dorf zugingen, sie ihrem unabwendbaren Schicksal näher brachte. Göbbler war, wie gesagt, ein wichtiger Mann geworden, der einzige, den Hauptmann Buller akzeptierte. Zu ihm brachten die Männer die drei Mädchen. Plötzlich hatte heftiger Regen eingesetzt, und die drei warteten vor dem Haus, während Göbbler die Männer davon überzeugte, dass die Mädchen den Fratergekeime ausgeliefert werden mussten. Das würde die Soldaten gnädig stimmen und umgänglicher machen.
Wie oft entscheidet sich das Schicksal in einem einzigen Moment! Immer wieder habe ich mir gesagt, dass Emélia vielleicht nie aus dem Fenster gesehen hätte, wenn es nicht so stark geregnet hätte. Aber der Regen prasselte auf die Schindeln herunter, und wäre es anders gewesen, hätte Emélia vielleicht die drei durchnässten, zitternden, mageren Mädchen nicht gesehen. Sie wäre nicht zu ihnen hinausgegangen und hätte sie nicht ins Warme gebeten. Sie wäre also nicht bei ihnen gewesen, als die beiden Soldaten kamen, um sie abzuholen. Sie hätte nicht Göbbler ins Gesicht geschrien, er sei ein Ungeheuer, und sie hätte ihn auch nicht geohrfeigt. Die Soldaten hätten sie nicht überwältigt und mit den drei anderen abgeführt. Sie hätte nie in den tiefen, dunklen Abgrund der menschlichen Seele gesehen.
Regen, es war nur der Regen, der auf die Dachziegel und gegen die Scheiben prasselte.
Der Andere hörte mir zu, goss ab und zu etwas heißes Wasser in seine Tasse und gab einige Teeblätter hinein. Beim Sprechen hielt ich das alte Liber florae montanarum im Arm wie einen anderen Menschen. Das gütige Schweigen des Anderen und sein Lächeln ermutigten mich, weiterzusprechen. Es tat mir wohl, dies alles einmal zu erzählen – diesem seltsamen Unbekannten mit der komischen Aufmachung, hier, in diesem Raum, der gar nicht mehr aussah wie ein Hotelzimmer.
Was danach geschah, erzählte ich dem Anderen in wenigen Worten. Es gab nicht mehr viel zu sagen. Buller und seine Leute lösten das Lager auf. Auf dem Marktplatz herrschte fiebrige Betriebsamkeit, wie sie in einer Herde entsteht, wenn ein Gewitter naht. Befehle wurden geschrien, Flaschen in einem Zug geleert und auf dem Boden zerschmettert, fluchende Männer torkelten herum, und das alles vor Bullers Augen, dessen Kopf immer schneller ruckte. Stocksteif stand er unter dem Vordach seines Zeltes. Es war ein Moment der Auflösung, die Fratergekeime hatten noch die Macht, aber sie wussten bereits, dass sie ihnen entgleiten würde. Sie waren gefallene Götter, Herrenmenschen, die schon ahnten, dass man ihnen bald ihre Waffen und Rüstungen wegnehmen würde. Sie wussten, dass sie verloren hatten.
Da plötzlich traten die drei Mädchen und Emélia in Erscheinung. Neben ihnen gingen die Männer aus dem Dorf und die beiden Soldaten. Im Nu wurden die Frauen von den anderen wie von Raubtieren umringt und beschnuppert. Der Kreis zog sich immer enger um sie zusammen, und die besoffenen Männer lachten und schubsten die Frauen zu der Scheune hinüber, beleidigten sie und machten sich in groben Scherzen über sie lustig. Die Scheune gehört Otto Mischenbaum, einem fast hundert Jahre alten Bauern, der keine Nachkommen gezeugt hatte – hab keine Zeit dafür gehabt, sagte er immer – und seinen Lebensabend einsam in seiner Küche hocken blieb.
Sie verschwanden in der Scheune.
Sie waren nicht mehr zu sehen.
Und dann nichts mehr.
Tags darauf lag der Platz verlassen da, überall Glasscherben und Abfall. Die Fratergekeime waren fort. Von ihnen war nur der Geruch nach saurem Wein und ausgekotztem Schnaps geblieben sowie die großen Bierpfützen. Am Morgen nach dieser Nacht, in der die Soldaten und einige Männer aus dem Dorf, von Buller geduldet, die Seelen und Körper der Frauen geschändet hatten, blieben die Türen sämtlicher Häuser fest verschlossen. Noch traute sich keiner nach draußen. Fédorine hämmerte an all diese Türen, sie hämmerte und hämmerte. Bis sie endlich bei der Scheune war.
«Ich bin hineingegangen, Brodeck.» Jetzt erzählt die alte Fédorine und füttert mich dabei mit einem Löffel. Meine Hände sind wund. Meine Lippen, meine zerschlagenen Zähne schmerzen und schneiden mir ins Zahnfleisch. Ich bin gerade erst nach Hause zurückgekehrt, nachdem ich fast zwei Jahre außerhalb der Welt zugebracht habe. Ich bin dem Lager entronnen, über Straßen und Wege gewandert und bin wieder da. Aber noch bin ich halb tot und schwach. Vor einigen Tagen habe ich die Tür meines Hauses geöffnet. Ich sah Fédorine. Sie ließ, als sie mich bemerkte, den großen Keramikteller fallen, den sie gerade abtrocknete. Die Scherben mit dem roten Blumenmuster stoben in alle vier Ecken des Raumes. Ich sah Emélia. Sie war schöner denn je, ja, wirklich noch schöner, als ich sie in Erinnerung hatte. Ich sah Emélia, die am Ofen saß und mich nicht ansah, sie reagierte nicht auf das laute Klirren, nicht auf meine Stimme, die sie rief, nicht auf meine Hand, die ich ihr auf die Schulter legte. Sie sang immer weiter ihr Lied vor sich hin, und mein Magen zog sich zusammen: Schöner Prinz so lieb, zu weit fortgegangen. Es war das Lied unserer jungen Liebe. Und als ich freudig wieder und wieder ihren Namen sagte, als ich ihr über Wange und Haar streichelte, da merkte ich, dass ihre Augen mich nicht wahrnahmen, und ich verstand, dass sie mich nicht hörte, verstand, dass Emélia mit ihrem wunderschönen Gesicht zwar hier vor mir saß, ihre Seele aber an einen anderen Ort gezogen war. Ich wusste nicht, wohin, aber ich würde, das schwor ich mir, den Weg dorthin finden und sie mit nach Hause nehmen. Da hörte ich eine zarte Stimme, die ich nicht kannte, eine leise Kinderstimme, die aus unserem Schlafzimmer kam. Sie plapperte, wie ein fröhlicher, wilder Wasserfall. Es war ein lustiges Lallen, das der Sprache der Engel ganz ähnlich sein muss.
«Ich bin in die Scheune hineingegangen, Brodeck, ja, das habe ich getan. Ich bin hineingegangen. Es war totenstill und dunkel. Auf dem Boden lagen die Mädchen, kleine, reglose Körper, dicht aneinandergedrängt. Ich habe mich neben sie gekniet. Ich habe schon zu viele Tote gesehen. Da lagen die drei Mädchen, sie waren noch so jung, keine zwanzig Jahre alt, mit weit aufgerissenen Augen. Ich habe ihnen die Lider zugedrückt. Und da lag auch Emélia. Sie atmete noch, wenn auch ganz schwach. Sie hatten gedacht, sie sei tot, aber sie wollte noch nicht sterben, Brodeck, sie wollte nicht, weil sie wusste, dass du eines Tages zurückkehren würdest, sie hat es gewusst, Brodeck … Ich ging zu ihr und legte ihr Gesicht an meinen Bauch, und da begann sie dieses Lied zu singen, und seitdem hat sie nicht mehr damit aufgehört … Ich wiegte sie, wiegte sie lange …»
Der Samowar war leer. Ich legte das Liber florae vorsichtig neben mich. Draußen war es jetzt fast dunkel. Der Andere hatte das Fenster einen Spalt geöffnet. Der Duft von warmem Harz und Humus strömte ins Zimmer. Ich hatte lange gesprochen, wahrscheinlich stundenlang, aber er hatte mich nicht unterbrochen. Ich wollte mich schon dafür entschuldigen, dass ich ihm mein Herz ausgeschüttet hatte, da ertönte hinter mir ein Glockenspiel. Es kam aus einer merkwürdigen Wanduhr, nicht viel größer als eine Taschenuhr, wie sie früher in Kutschen hingen. Bis zu diesem Moment war sie mir nicht aufgefallen. Die dünnen goldenen Zeiger zeigten acht Uhr. Das Gehäuse war aus Ebenholz und Gold und die Ziffern, vor einem elfenbeinfarbenen Grund, waren aus blauem Email. Unter die Achse der Zeiger hatte der Uhrmacher, Benedikt Fürstenfelder, dessen Name am unteren Rand des Rahmens eingraviert war, in geneigter und verschlungener Schrift einen Sinnspruch geschrieben: Alle verwunden, eine tödtet.
Während ich aufstand, sagte ich nachdenklich diesen Spruch. Auch der Andere hatte sich erhoben. Ich hatte viel geredet, vielleicht zu viel. Es war Zeit, nach Hause zu gehen. Es tue mir leid, er solle nicht glauben, dass … Um mich zu unterbrechen, hob er schnell seine kurzfingrige Hand, die aussah wie die Hand einer molligen Frau:
«Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen», sagte er fast unhörbar und hauchend, «ich weiß, dass Erzählen eine gute Medizin ist.»