10

Ich bin noch immer im Schuppen und kann mich kaum beruhigen, denn vor etwa einer halben Stunde habe ich ein merkwürdiges Geräusch, eine Art Kratzen, in der Nähe der Tür gehört. Ich habe das Tippen unterbrochen und gelauscht. Nichts. Das Geräusch war nicht mehr da. Lange hielt ich den Atem an, denn ich war sicher, etwas gehört zu haben. Und tatsächlich hatte ich nicht geträumt, denn wenig später war es wieder da, jetzt aber nicht mehr an der Tür, sondern etwas schien sich langsam und kriechend an der Wand des Schuppens entlangzubewegen. Ich löschte die Kerze, zog das Papier aus der Maschine, schob es unter mein Hemd und kauerte mich in eine Ecke des Raums hinter die Werkzeuge, neben eine alte Lattenkiste mit Kohl und weißen Rüben. Das Geräusch war immer noch da, kroch langsam weiter.

Das ging lange so. Manchmal setzte das Geräusch aus und fing dann wieder an. Einmal um den Schuppen herum. Während ich lauschte, wie es mich umkreiste, hatte ich das Gefühl, in einem unsichtbaren Schraubstock gefangen zu sein, den eine ebenso unsichtbare Hand langsam zudrehte.

Das Geräusch hatte einmal die Runde gemacht und war jetzt wieder hinter der Tür. Ich sah, wie die Klinke vollkommen lautlos nach unten gedrückt wurde. Fédorines Märchen fielen mir ein, Märchen mit sprechenden Gegenständen, Schlössern, die in einer Nacht ganze Täler und Berge überqueren, Königinnen, die tausend Jahre lang schlafen, Bäumen, die sich in schöne Prinzen verwandeln, Wurzeln, die sich aus dem Boden erheben, Kehlen umschlingen und sich zuziehen, und Quellen, die Wunden und Kummer heilen können.

Ebenso lautlos hatte die Tür sich einen Spaltbreit geöffnet. Ich versuchte, mich noch kleiner zusammenzukauern und ganz im Dunkel zu verschwinden. Immer noch sah ich nichts. Ich hörte meinen Herzschlag nicht mehr, ja, es war, als ob mein Herz aufgehört hätte zu schlagen und ebenfalls abwartete, was geschehen würde. Da sah ich eine Hand, und die Tür wurde aufgestoßen. Göbblers Hühnerkopf erschien in dem Türspalt. Von der Seite sah er aus wie die Scherenschnitte von Zwergen oder Ungeheuern aus rußgeschwärztem Papier, die die Straßenhändler der Hauptstadt am Rand des Marktes auf dem Albergeplatz verkaufen.

Der Wind, der zur Tür hereinwehte, roch nach überfrorenem Schnee. Göbbler war reglos stehengeblieben und versuchte, in der Dunkelheit etwas zu erkennen. Ich hatte mich nicht bewegt. Ich wusste, dass er mich da, wo ich kauerte, nicht sehen konnte. Ich konnte ihn auch nicht sehen, aber ich konnte ihn riechen, sein Geruch nach Federvieh und Stall war unverkennbar.

«Noch nicht im Bett, Brodeck? Sagst du nichts? Ich weiß, dass du hier bist, ich habe das Licht unter der Tür gesehen, bevor du die Kerze ausgeblasen hast, und ich habe die Schreibmaschine gehört …»

In der Dunkelheit bekam seine Stimme einen sonderbaren Klang.

«Ich passe auf, Brodeck … Nimm dich in Acht.»

Die Tür schloss sich wieder, und Göbblers Silhouette verschwand. Einige Sekunden lang hörte ich noch seine Schritte und sah in Gedanken seine schweren, eingefetteten Lederstiefel vor mir, deren verdreckte Sohlen braune Kotspuren auf der feinen Schneedecke hinterließen.

Ich blieb noch eine ganze Weile bewegungslos in der Ecke sitzen, atmete ganz flach und sprach meinem Herzen gut zu, damit es sich beruhigte. Ich sprach mit ihm wie mit einem scheuen Tier.

Draußen wehte der Wind noch heftiger. Die Wände des Schuppens wackelten leicht. Ich fror. Und plötzlich wurde aus meiner Angst Wut: Was wollte dieser Geflügelhändler von mir, und was hatte er sich da einzumischen? Ich kontrollierte ihn doch auch nicht oder bespitzelte seine dicke Frau! Mit welchem Recht drang er bei mir ein, ohne anzuklopfen, und sprach irgendwelche Drohungen aus? Er hatte mit den anderen zusammen etwas Grauenhaftes getan, und jetzt spielte er sich als Richter auf. Immerhin war ich unschuldig. Ich war der einzige Unschuldige …

Der einzige.

Ja, ich war der einzige.

Da wurde mir plötzlich klar, dass diese Worte wie eine Drohung klangen. Denn im Grunde läuft es auf das Gleiche hinaus: ob man als Unschuldiger unter Schuldigen oder als Schuldiger unter Unschuldigen lebte. Jetzt fragte ich mich auch zum ersten Mal, warum an jenem besagten Abend, dem Abend des Ereignisses, alle Männer des Dorfes im Gasthaus Schloss gewesen waren – alle Männer außer mir. Darüber hatte ich vorher nicht nachgedacht. Ich hatte nicht darüber nachgedacht, weil ich in meiner Naivität bis dahin geglaubt hatte, ich hätte eben einfach Glück gehabt, dass ich nicht da gewesen war. So habe ich mir keine weiteren Fragen gestellt. Aber war es nicht unwahrscheinlich, dass sie alle zufällig zur selben Zeit den Entschluss gefasst haben sollten, einen Schoppen Wein oder einen Krug Bier zu trinken? Nein, sie waren alle dort gewesen, weil sie sich verabredet hatten. Und mich hatten sie nicht dazugebeten. Warum nicht?

Wieder zitterte ich. Ich tappe im Dunkeln, sitze hier in dem finsteren Schuppen und weiß keine Antwort. Und plötzlich erinnere ich mich an den Tag meiner Rückkehr, an den Tag, als ich nach meinem endlosen Marsch aus dem Lager zurückkam und zum ersten Mal seit langer Zeit unser Dorf wiedersah.

Die Gesichter der Menschen, denen ich damals begegnet war, sah ich wieder vor mir: zuerst, am Ortseingang, die beiden Glacker-Schwestern, die ältere, die aussieht wie ein Gartenschläfer, und die jüngere, deren Augen ganz verquollen sind, weil sie so fett ist. Dann in der Kelterhausgasse der Schmied Gott mit seinen rotbehaarten Armen; dann Mutter Fülltach vor ihrem Café an der Ecke der Unteralgasse; dann Ketzenwir, der am Biederbrunnen eine kranke Kuh hinter sich herzog; Otto Mielk, der sich, seinen dicken Bauch mit den Händen stützend, unter dem Vordach der Markthalle mit dem Förster Prossa unterhielt und, als er meine geisterhafte Erscheinung erblickte, den Mund aufriss, sodass ihm seine kleine, krumme Zigarre aus dem Mund fiel; dann die Dorfbewohner, die aus ihren Häusern kamen wie Tote aus den Gräbern, mich wortlos umringten und bis zu meinem Haus begleiteten, und vor allem jene anderen, die sich in ihre Häuser zurückzogen und schnell ihre Türen schlossen, als brächte ich Unglück, Hass und Rache mit, schlechte Gefühle, die ich wie kalte Asche auf den Straßen verstreuen würde.

Hätte ich das Talent des Anderen, dann könnte ich diese Gesichter mit Farbe und Pinsel malen, ihre Augen vor allem. Ich habe in ihren Augen damals nichts anderes sehen können als Erstaunen. Aber jetzt weiß ich es besser, denn hinter den Blicken verbarg sich mehr, so wie in den Tümpeln, die sich im Sommer in den Torfmooren auf der großen Lichtung im Trauerprinz-Wald bilden, gefräßige Tierchen lauern, die mit ihren winzigen Mäulern alles zerreißen wollen, was ihnen den beschränkten Lebensraum streitig machen könnte.

Ich kam aus dem Innersten der Erde zurück. Mit viel Glück war ich dem Kazerskwir entkommen, und bei jedem Schritt, den ich tat, kam es mir vor, als wäre ich wiedergeboren.

Aber mein Körper sah aus wie der eines Toten. Und überall, wo ich auf meinem langen Weg vorbeikam, rannten die Kinder schreiend vor mir weg, als hätten sie den Teufel gesehen, während die Männer und Frauen aus ihren Häusern traten, mich umringten und mich berühren wollten.

Manche gaben mir etwas Brot, ein Stück Käse oder eine in der Glut gebackene Kartoffel zu essen, andere bewarfen mich mit Steinen, bespuckten mich oder beschimpften mich, als wäre ich ein Verbrecher. Aber das war nichts im Vergleich zu dem, was ich durchgemacht hatte. Ich wusste, dass der Ort, von dem ich kam, weit weg war, und dabei meinte ich nicht die Entfernung in Kilometern. Ich kam aus einem Land, das in ihrer Vorstellung nicht existierte, einem Land, das keine Landkarte je verzeichnet und kein Geschichtsbuch je erwähnt hatte, einem Land, das innerhalb weniger Monate entstanden war, aber dessen Geschichte die Menschen noch lange beschäftigen würde.

Ich kann nicht erklären, wie ich es schaffen konnte, barfuß so weit zu gehen. Vielleicht einfach nur deshalb, weil ich bereits gestorben war, ohne es zu bemerken. Ja, vielleicht war ich gestorben wie all die anderen im Lager und wusste es nur nicht, weil ich es nicht wahrhaben wollte. Ich hatte die Aufseher der Hölle, der wahren Hölle, hinters Licht geführt. Vielleicht hatten sie mich wieder fortgeschickt, weil in diesen Zeiten ohnehin so viele Menschen Einlass begehrten und die Wächter der Hölle sich sagten, ich würde mit Sicherheit eines Tages wiederkommen. Immer weiter ging ich. Ich ging zu ihr, zu Emélia. Immer wieder sagte ich mir: Ich kehre zu ihr zurück. Am Horizont sah ich ihr Gesicht, ihre Schönheit, ihr Lachen, ihre Haut, ihre Stimme wie Samt und Kieselsteine, ihren singenden, fremdartigen Tonfall – ihre Aussprache war unbeholfen wie ein Kind, das stolpert, sich wieder fängt und laut loslacht. Ich konnte ihren Duft nach grenzenloser Weite, Moos und Sonne schon riechen. Ich sprach mit ihr, sagte ihr, ich kehre jetzt zu dir zurück. Meine Emélia.

Aber nicht alle Menschen, denen ich auf meinem langen Weg begegnete, behandelten mich wie einen streunenden Hund oder einen aussätzigen Bettler. Es gab auch den alten Mann.

Eines Abends kam ich, noch hinter der Grenze, im Land der Fratergekeime, in einen Marktflecken, der merkwürdigerweise verschont geblieben war. Alle Häuser standen noch unbeschadet, die Mauern waren unversehrt, die Dächer nicht abgedeckt und die Bauernhöfe nicht niedergebrannt. Auch die Kirche war heil geblieben und bewachte den kleinen Friedhof, der zu ihren Füßen zwischen sorgfältig bestellten Gemüsegärten und einer Lindenallee lag. Die Läden waren nicht geplündert worden. Das Rathaus war nicht zerstört worden, und an den Tränken der großen Brunnen tranken schöne braune Kühe, schweigend und friedlich blickend, während der kleine Junge, der sie hütete und zum Melken führte, mit einem roten Holzkreisel spielte.

Der alte Mann saß auf der Bank an der Hauswand eines der letzten Häuser des Dorfes. Er schien zu schlafen, beide Hände ruhten auf dem Griff eines Stocks aus Stechpalmenholz, seine Pfeife war erloschen. Ein Filzhut verdeckte zur Hälfte sein Gesicht. Ich war schon an ihm vorbeigegangen, als ich hörte, wie er mich ansprach, mit einer schleppenden Stimme, die klang, als ob er mir sanft die Hand auf die Schulter legte:

«Kommen Sie her … So kommen Sie doch …»

Einen Augenblick glaubte ich, ich hätte nur geträumt. «Ja, mit Ihnen spreche ich, junger Mann!»

Junger Mann, diese Anrede war komisch. Ich wollte sogar lächeln, aber ich hatte das Lächeln verlernt. Die Muskeln meines Mundes, meiner Lippen, meiner Augen wussten nicht mehr, wie man lächelt, und meine zerschlagenen Zähne schmerzten. Ich war kein junger Mann mehr. Im Lager war ich viele Jahrhunderte gealtert. Ich hatte Unsagbares durchgemacht, und während wir unsere grausame Lehrzeit absolvierten, waren unsere Körper zerfallen. Wohlgenährt war ich einst fortgegangen, aber jetzt war ich nur noch Haut und Knochen. Zum Schluss ähnelten wir uns wie ein Ei dem anderen, wir waren zu ununterscheidbaren Schatten, waren austauschbar geworden, und so konnte man jeden Tag einige von uns ermorden und durch neue Gefangene ersetzen, ohne dass es auffiel. Die Schatten mit den knochigen Gesichtern sahen alle gleich aus, wir waren nicht mehr wir selbst. Wir waren keine Menschen mehr, sondern nur noch Angehörige einer Spezies.

Brodecks Bericht
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