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Ich versuche, mir diese Momente zu vergegenwärtigen, obwohl ich sie eigentlich für immer aus meinem Gedächtnis streichen will und alles hinter mir lassen möchte.
Mir scheint, dass ich für mein Leben nicht geschaffen bin. Ich bin zu klein für das, was in meinem Leben passiert ist, ich bin nicht gemacht für so viele Brüche, so viel Leid. Vielleicht ist alles meine Schuld? Vielleicht weiß ich einfach nicht, wie man ein Menschenleben lebt? Vielleicht ist aber auch dieses Jahrhundert, in dem ich lebe, daran schuld, dieses zerstörerische, grausame Jahrhundert. Manchmal fühlt sich mein Kopf so an, als müsste er explodieren.
Besagter Tag, der Tag nach dem Ereignis, liegt gar nicht so weit zurück. Und doch zerrinnt mir die Erinnerung daran wie Sand zwischen den Fingern. Ich erinnere mich nur an wenige Szenen und Worte, die sich klar und deutlich vor einem nachtschwarzen Hintergrund abzeichnen. Und vor allem weiß ich noch, wie die Angst sich anfühlte, die mich damals einzwängte wie ein zu enges Hemd. Bis heute konnte ich mir das Hemd nicht vom Leib reißen, es schnürt mich ein, von Woche zu Woche enger. Das Merkwürdigste ist, dass ich im Lager, als ich Hund Brodeck war, keine Angst mehr spürte. Dort gab es keine Angst mehr, weil ich sie überwunden hatte. Denn die Angst ist immer noch ein Teil des Lebens, sie umschleicht das Leben wie eine Hyäne das Aas. Das Leben nährt die Angst. Ich aber war nicht mehr lebendig, ich sah meinem eigenen Leben nur noch zu.
Nachdem ich Orschwirs Gehöft verlassen hatte, irrte ich wahrscheinlich ziellos durch die Straßen. Es war noch früh am Morgen. Das Bild der Schweine, die mich mit ihren glasigen Augen musterten, ließ mich nicht los. Ich wollte es vergessen, aber vergeblich. Das Bild prägte sich mir für immer ein: diese Tiere, ihre riesigen Gesichter, ihre geblähten Bäuche, ihre blassen Augen, die mich ansahen, ihr Gestank. Mein Gott … Die widerlichen Schweine und das stille, zuversichtliche Gesicht des Anderen tanzten lautlos zu Orschwirs grausamer Gelassenheit.
Schließlich stand ich vor Mutter Pitz’ Café, neben dem alten Waschhaus. Dorthin war ich wohl gegangen, weil ich sicher sein wollte, niemandem zu begegnen, zumindest keinem Mann. Mutter Pitz’ Café besuchen nur alte Frauen, sie treffen sich dort zu jeder Tageszeit, aber vor allem abends, und trinken Kräutertee oder Weinbrand und süßen Wacholderlikör, gemischt mit etwas Zucker, aus kleinen Gläsern, ein Getränk, das man bei uns den Lieblichen nennt.
Eigentlich ist dieses Café gar kein echtes Café, sondern nur ein Zimmer neben der Küche. Drinnen gibt es nur drei kleine Tische mit bestickten Tischdecken, um die herum einige Stühle stehen, einen schmalen, schlecht ziehenden Kamin, einige Grünpflanzen in glasierten Tontöpfen und an der Wand eine Photographie von einem jungen Mann, der in die Kamera lächelt und mit zwei Fingern seinen Schnurrbart glatt streicht. Mutter Pitz ist über fünfundsiebzig Jahre alt. Sie geht gebückt, ihr Rücken steht fast im rechten Winkel zu den Beinen. Der junge Mann auf dem Foto ist ihr Ehemann Augustus Pitz, der vor einem halben Jahrhundert gestorben ist.
Sicher bin ich der einzige Mann, der gelegentlich Mutter Pitz’ Haus betritt. Ich gehe zu ihr, weil sie mir manchmal hilft. Sie kennt alle Pflanzen der Hochebene, sogar die seltenen, und wenn ich etwas nicht in meinen Büchern finden kann, gehe ich zu ihr und frage sie. Dann sitzen wir stundenlang beieinander, unterhalten uns über Blumen und Gräser, Wege, Unterhölzer und die Wiesen, die die Schafe, Ziegen, Kühe und der ewig gehende Wind kurz halten. Und wir sprechen über die vielen Orte, an denen sie selbst schon lange nicht mehr gewesen ist.
«Man hat mir die Flügel gestutzt, Brodeck … Dort oben, auf den Hochweiden, da habe ich wirklich gelebt, mit den Herden. Hier unten ersticke ich, die Luft ist schlecht, und wir leben wie Würmer, die auf dem Boden kriechen und Dreck fressen, aber dort oben …»
Sie besitzt die schönsten Herbarien, die ich je gesehen habe. Ein ganzer Schrank mit großen, in braunen Karton eingebundenen Büchern, in denen sie jahrelang die Blumen und Kräuter der Berge gesammelt hat. Über jedem Exemplar hat sie mit ihrer sorgfältigen Handschrift den Fundort, das Datum, das Wetter, den Geruch, die genauen Farben und die Ausrichtung der Pflanze notiert und außerdem manchmal einen kurzen Kommentar hinzugefügt, der mit der Pflanze gar nichts zu tun hat.
«Na, Brodeck, willst du wieder das große Buch der Toten sehen» – genau genommen sagte sie in dem bisweilen poetischen Dialekt unserer Gegend: Das Buch der Stillen.
So empfing sie mich an jenem Tag, als ich die Tür zu ihrem Café aufstieß und das Glöckchen bimmelte. Als wäre mir jemand auf den Fersen, schloss ich die Tür schnell wieder hinter mir und setzte mich, wahrscheinlich mit düsterem Gesichtsausdruck, an den Tisch, der sich in die hinterste Ecke drängt, als wollte er sich verstecken. Ich bat sie um ein starkes, heißes Getränk, denn ich zitterte wie eine alte Schnarre im Karfreitagswind. Mir war eiskalt, obwohl inzwischen die Sonne den Himmel erobert hatte.
Nach kurzer Zeit stellte Mutter Pitz eine große Tasse mit einer dampfenden Flüssigkeit vor mir ab. Ich trank, folgsam wie ein Kind, und schloss die Augen. Mein Blut strömte wieder, Hände und Kopf wurden warm. Ich lockerte den Kragen meiner Jacke und meines Hemdes. Mutter Pitz sah mir zu. Die Wände wankten, wie Pappeln, die sich im Wind wiegen, und die Stühle taumelten.
«Was ist denn passiert, Brodeck? Bist du dem Teufel begegnet?»
Sie hielt meine Hände, und ihr Gesicht war ganz dicht an meinem. Sie hatte sehr schöne, große grüne Augen mit goldenen Fleckchen am Rand der Iris. Ich erinnere mich noch, wie ich dachte, dass Augen alterslos sind und dass wir mit denselben Augen sterben, die am Tag unserer Geburt die Welt zum ersten Mal erblickten.
Sie schüttelte mich leicht und wiederholte ihre Frage. Was wusste sie, was durfte ich ihr sagen? Im Gasthaus Schloss, am Abend zuvor, waren nur Männer gewesen, und mit diesen Männern hatte ich einen Pakt geschlossen. Zu Hause hatte ich meinen Frauen nichts davon erzählt, und am Morgen war ich aufgebrochen, bevor sie wach waren. Hatten alle anderen ihren Frauen, Schwestern, Müttern und Töchtern auch verschwiegen, was passiert war?
Sie drückte meine Hände so fest, als wollte sie die Wahrheit aus ihnen herauspressen. Worte kamen mir in den Sinn:
«Nichts ist passiert, Mutter Pitz, nichts Schlimmes, etwas ganz Normales: Gestern Abend haben die Männer des Dorfes den Anderen getötet, im Gasthaus Schloss, einfach nur so, als hätten sie Karten gespielt oder irgendeinen Handel abgeschlossen. Das war schon lange absehbar. Ich bin etwas später dazugekommen, ich wollte Butter kaufen, bei dem Gemetzel war ich nicht dabei. Man hat mich nur beauftragt, den Bericht über das Geschehen zu verfassen. Ich soll aufschreiben, was seit seiner Ankunft bei uns geschehen ist und warum man nicht anders konnte, als ihn zu töten. Das ist alles.»
Aber die Worte sind mir nicht über meine Lippen gekommen. Sie blieben mir in der Kehle stecken und wollten nicht hinaus, obwohl ich mir große Mühe gab. Die alte Frau erhob sich, ging in ihre Küche und kam mit einem kleinen, rosa emaillierten Stieltopf wieder. Sie goss mir den Rest des Getränks in die Tasse, bedeutete mir, zu trinken, und ich trank. Wieder wankten die Wände, mir wurde heiß. Mutter Pitz ging noch einmal hinaus und kehrte mit einem ihrer dicken Bücher, ihrer Herbarien, unterm Arm zurück. Auf diesem klebte ein beschriftetes Etikett: Blüten vom Mai und Heilkräuter vom Juni. Sie legte das Buch vor mich auf den Tisch, setzte sich neben mich und schlug es auf.
«Sieh dir doch trotzdem meine kleinen Stillen an, Brodeck, das bringt dich auf andere Gedanken.»
Da spürte ich, dass der Andere, wie von diesen Worten herbeigelockt, von hinten auf mich zutrat. Er rückte seine goldgefasste Brille zurecht, wie er es oft getan hatte, lächelte mich mit seinem guten, runden Kindergesicht an, neigte seinen mächtigen Kopf über meine Schulter und betrachtete gemeinsam mit mir das Buch der Mutter Pitz, die getrockneten Pflanzen und die entschlafenen Blütenblätter.
Ich habe bereits erwähnt, dass er schweigsam war. Manchmal erinnerte er mich an eine Heiligenfigur. Und mit der Heiligkeit ist es seltsam: Wenn man ihr begegnet, erkennt man sie oft nicht und hält sie für Gleichgültigkeit, Spott, Hinterlist oder Verachtung. Man versteht nicht, man wird zornig, und man begeht ein Verbrechen. Deshalb wahrscheinlich müssen die Heiligen immer als Märtyrer enden.