Kapitel 1
»Warten Sie, Brigadier, sind Sie gerade dabei mir zu erzählen, dass Sie alle den Abend des 14. Juli, des französischen Nationalfeiertags, damit zugebracht haben, um die gehenkte Leiche herumzutanzen und mit Stöcken auf Sie einzudreschen?«
»Ja, aber wir wollten nur Spaß haben, wir haben uns nichts Böses dabei gedacht.«
In dem unschuldigen Blick des Brigadier lag ein seltsamer Ruf nach Verständnis. Kommissarin Viviane Lancier reagierte darauf mit einem Schulterzucken und vertiefte sich wieder in ihre Notizen.
»Ich wiederhole Ihre Aussage. Dieser Abend war der letzte, den Sie als normaler Tourist in diesem Ferienclub auf der Insel Rhodos verbringen wollten. Nach dem Essen sind Sie mit den anderen Sommergästen ins Amphitheater gegangen, wo eine Aufführung stattfinden sollte, ist das richtig?«
»Genau. Wir waren alle gut drauf. Zum Nationalfeiertag hatte man uns Schaumwein serviert, so viel wir wollten, den guten italienischen, nicht den griechischen.«
»Als Sie dort ankamen, war es schon dunkel. Die Organisatoren hatten das bengalische Feuer entzündet, hinter dem die Bühne nicht zu erkennen war. Nachdem der Rauch sich verzogen hatte, wurde der Scheinwerfer eingeschaltet, und Sie haben die hängende Leiche des Ferienclubchefs entdeckt …«
»Ja, Commissaire, er war am großen Mast aufgeknüpft, in fünf Metern Höhe. Er schaukelte sanft über der Bühne. Man muss zugeben, dass er beeindruckend aussah, in seiner königlichen Aufmachung mit seiner goldenen Tunika und seiner Krone. Wir haben geklatscht, wir dachten, das sei eine falsche Leiche, verstehen Sie?«
»Bis hierhin ja. Aber mit dem, was dann kommt, tue ich mich schwer.«
»Ich weiß. Sogar wir waren anfangs ein bisschen verlegen, als sich der Clown, verkleidet als Sansculotte, zu Füßen der Leiche schieflachte. Er war hemmungslos, machte unmögliche Witze und zeigte dabei mit dem Finger auf die Leiche. Dann forderten die Animateure des Clubs uns dazu auf, zum Galgen hinunterzugehen. Sie haben Musik laufen lassen und uns dazu aufgefordert, eine republikanische Carmagnole zu tanzen.«
»Was die Republik nicht alles über sich ergehen lassen muss. Dann hat man lange Bambusstöcke an Sie verteilt und Sie dazu ermutigt, auf den Gehängten einzuschlagen. Und Sie, als Polizeibeamter, haben gehorcht, wie die anderen – ohne sich Fragen zu stellen?«
»Das kam uns gar nicht in den Sinn, Commissaire. Ich würde sogar sagen, dass wir damit erst so richtig in Fahrt gekommen sind.«
Die Kommissarin zog es vor, dem amüsierten Blick des Brigadier auszuweichen. Sie drehte sich nach rechts und nach links, zum Premierminister und dann zum allmächtigen Kriminaldirektor, der ihr ein Zeichen gab, damit sie zum Schluss kam. Ihr sollte es recht sein. »Haben Sie dem nichts hinzuzufügen, Brigadier?«
»Im Nachhinein fällt einem die Kritik natürlich leicht. Man kann es damit halten, wie man will, aber es ist doch verrückt, dass ich auf eine griechische Insel gehen musste, um einen 14. Juli so ausgelassen zu feiern. Sie werden mir sagen, dass es auch verrückt war, ihn so zu feiern, dabei haben wir nur mit den anderen mitgemacht …«
»Seien Sie still«, befahl die Kommissarin. »Sie widern mich an.«
Kommissarin Viviane Lancier war keineswegs angewidert. Sie hatte in ihrem Beruf schon Schlimmeres gehört. Sie hatte nur gerade einen schönen Abend und wollte nicht, dass man ihr den mit irgendwelchen Geschichten von Gehängten und Stockschlägen verdarb.
Ja, es war wirklich ein schöner Abend.
Dabei hätte er um ein Haar schlecht angefangen: Priscilla Smet, diese Pest, die Leiterin der Öffentlichkeitsarbeit des Innenministeriums, hatte Viviane gegen 16 Uhr angerufen.
»Ich kann Lieutenant Augustin Monot nicht erreichen. Ist er zufällig bei Ihnen?«
»Warum sollte er bei mir sein? Sein Genesungsurlaub endet erst heute Abend, mit Überreichung der Medaille.«
»Ich dachte, er treibt sich vielleicht bei Ihnen herum, um seinen Freunden einen Besuch abzustatten.«
»Sich bei mir herumtreiben – bei der Arbeit, die wir haben? Das würde keiner wagen. Und wenn Lieutenant Monot hier bei uns wäre, würde er zuerst bei mir vorbeikommen. Die Kommissarin der 3. Pariser Kriminalabteilung bin ich, bis auf weiteren Befehl.« Viviane biss sich auf die Lippen. Das »bis auf weiteren Befehl« war ihr herausgerutscht. Seit ihrem letzten Fall stand sie auf dem Prüfstand, sie sollte es nicht schlimmer machen. Dieses Luder von Pressetante würde es sich nicht entgehen lassen, dem Kriminaldirektor, von allen der Allmächtige genannt, von ihrem Lapsus zu erzählen. Noch war Gelegenheit, sich zu fangen. »Was wollten Sie denn von meinem Lieutenant?«
»Ich möchte, dass er mir den Text der Rede vorlegt, die er heute Abend als Antwort auf die des Ministers halten wird, nachdem man ihm den Verdienstorden überreicht hat. Sozusagen zur Freigabe.«
Viviane atmete tief ein, sie musste entspannt bleiben: Priscilla Smet entschied im Innenministerium an der Place Beauvau über Gedeih und Verderb, sie sollte es sich mit ihr nicht verscherzen. Die Kommissarin zog die Schublade auf und holte einen Kinder-Bueno-Riegel heraus, den sie auswickelte und sehr langsam kaute. »Sie vergessen, dass Lieutenant Monot ein Literat ist. Wenn es darum geht, dem Minister zu antworten, weiß ich nicht, wie er seinen Beitrag vorbereiten sollte. Er wird bestimmt seine Freude daran haben, zu improvisieren.«
Unwiderlegbarer Einwand. Viviane stellte sich das durchtriebene Gesicht der Pressetante vor: wie sich ihre Nase krauszog und sich ihr Mund verkrampfte, während sie gleichzeitig nach Gemeinheiten suchte, um wohlüberlegt zu antworten.
»Sehr gut, Commissaire. Es macht Ihnen wohl Spaß sie zu beschützen, Ihre Männer, es macht Ihnen Spaß sich als Ihre Mutter aufzuführen? Ganz wie Sie wollen, amüsieren Sie sich! Aber machen Sie sich keine Illusionen, jeder normale Mann verlässt eines Tages seine Mutter.«
Die Kommissarin kaute immer nervöser an ihrem Kinder-Bueno-Riegel. Ihre Männer. Was konnte sie dafür, dass sie nur Männer unter ihrem Kommando hatte? Ja, gut, sie konnte etwas dafür: Sie hatte in ihrer Truppe kein weibliches Wesen ertragen und jede, die es gewagt hatte, bei ihr einzudringen, hatte sie zum Zusammenbruch und zur Kündigung getrieben.
Alles war ganz einfach: Sie war die Frau, die anderen waren ihre Männer. Warum verstanden die da draußen das nicht? Es stimmte, sie ergriff von ihnen Besitz, sie kommandierte sie herum, aber war sie ihre Mutter? Tja, ja, ein bisschen. Und im Fall von Augustin Monot, ihrem neuesten Zuwachs, traf das sogar ein bisschen mehr zu. Spielte dieses Luder von Priscilla Smet auf ihn an, als sie von einem normalen Mann sprach, der seine Mutter verlassen musste? Das war doch absurd. Alle ihre Männer waren normal, Lieutenant Monot genau wie die anderen. Sie hatten ein ganz normales Verhältnis zu ihr, so wie sie zu ihnen. Vor allem zu Monot.
»Ah, da fällt mir ein«, fuhr die Pressefrau fort, »geben Sie sich ein bisschen Mühe mit Ihrem Look zum Cocktailempfang. Presse und Fotografen werden da sein. Sie sind die einzige Frau in der 3. Abteilung, also versuchen Sie, dem gerecht zu werden.«
Gerecht werden? Wem? Den Frauen der Kriminalpolizei? Die 3. Abteilung unterstand der Kriminalpolizei – war eine »Pariser Filiale der Kriminalpolizei«, wie ihre Männer zu sagen pflegten – war das ein Grund anzunehmen, dass die Frauen dort weniger elegant wären?
»Das ist meine Sache«, brummelte Viviane und legte auf.
Sie stand auf und betrachte ihr Spiegelbild im Fenster. So brillant stand es um Ihren Fall nicht. Eine unförmige graue Hose, eine kurzärmelige weiße Bluse, die dank der Juli-Hitze mit dunklen Stellen unter den Armen verziert war, und ausgetretene Mokassins. Der Inhalt war mindestens so traurig anzusehen wie die Verpackung: ein Körper, der noch kleiner schien als seine tatsächlichen ein Meter einundsechzig, älter als seine siebenunddreißig Jahre, und vor allem schwerer. Fast jedes Kilo, das sie während des Falls mit dem Sonett vor drei Monaten losgeworden war, hatte sie jetzt wieder auf den Rippen. Was ihr müdes Gesicht betraf, in dem glanzlose graue Augen ruhten, so wirkte es wie eine hastig erstellte Skizze: zu rund, ein wenig aufgedunsen. Ihre braunen Haare waren kurz geschnitten, aber es war keine Frisur. Sie gefiel sich nicht; wem hätte sie gefallen können? Und was würde Lieutenant Monot von ihr denken, wenn er sie nach diesen ganzen Monaten der Abwesenheit wiedersah?
Die Pressetante hatte nicht ganz unrecht, sie musste dem Anlass gerecht werden. Nach Hause zu flitzen, um das bonbonrosa Kostüm zu holen, kam nicht infrage. Es war zu grell, man hatte sie schon zu oft damit gesehen. Sie machte sich etwas frisch, durchquerte das Großraumbüro und rief ihren Männern zu: »Wir treffen uns um 18 Uhr zur Verleihung für Monot im Ministerium. Ich bin schon weg, ich habe noch einen wichtigen Termin«, und lief zu Caroll.
Freudlos trat sie ein. Die Zeit des Schlussverkaufs war fast vorüber, es gab nur noch Reste oder die neue Kollektion, die für ihr Kommissarsgehalt viel zu teuer war. Eine junge rothaarige Verkäuferin erkannte sie und schnappte sie sich: »Sie, ich habe da was für Sie.« Da Viviane von dem, was sie brauchte, keine Vorstellung hatte, ließ sie die Verkäuferin einfach machen. Sie brachte ihr eine Jacke im Safari-Style und einem nüchternen hellen Olivton und dazu das passende Kleid. »Das ist das Modell aus dem Artikel ›Der Glamour der Rundlichen‹ in ›Mode für Mollige‹, das ist doch wie für Sie gemacht. Ich hole Ihnen mal die 44, oder?«
Die junge Rothaarige brachte sie zur Umkleidekabine. Viviane zog sich um und schämte sich für ihre Unterwürfigkeit. Sie wagte es nicht, diesem Mädchen zu widersprechen, es war jedes Mal das Gleiche; sie trat aus der Kabine, um sich zu zeigen.
»Oh, sehen Sie darin süß aus, und es macht Sie schlanker. Etwas Besseres hätten Sie nicht finden können. Nehmen Sie noch die Hose dazu.«
Das süß blieb der Kommissarin im Hals stecken, es war grotesk, ja beinahe beleidigend. Süß! War sie das jemals gewesen? Aber die Verkäuferin hatte recht, etwas Besseres würde sie nicht finden, vor allem nicht mit fünfzig Prozent Rabatt, dafür hatte sie keine Zeit mehr.
Viviane behielt das Ensemble gleich an und ging auf die andere Straßenseite, um passend zur Jahreszeit ein paar graue Pumps zu kaufen. Gerade als sie bezahlen wollte, bemerkte sie, dass nicht die grauen, sondern die pistaziengrünen Pumps reduziert waren. Pistazie und Oliv, diese Mischung war unverdaulich: Sie nahm die grauen und ergriff wütend über ihren Einkauf die Flucht. Es war idiotisch, der Cocktailempfang würde lange dauern, ihr würden die Füße weh tun. Füße, die Männer im Übrigen keines Blickes würdigten.
Wie jedes Jahr hatte sie alles zu schnell ausgewählt, freudlos und unbedacht. Wie schafften es andere Frauen, den Schlussverkauf zu nutzen und ihren Kleiderschrank mit so viel Leichtigkeit neu auszustatten? Diese Frauen kamen wohl mit sich selbst nicht ganz klar. Oder sie hatten einen krankhaften Bezug zu ihrem Körper, ein Bedürfnis, sich zu lieben. Ja, das musste es sein.
Im Ministerium war es heiß und stickig. Das Buffet sah verlockend und frisch aus, aber niemand wagte es, sich vor dem Minister daran zu bedienen. Während alle auf ihn warteten, wurde geplaudert, einander zugerufen und darauf geachtet, die besten Plätze zu behalten: die Plätze bei der großen, bereits zerlegten Languste, die in der Mitte des Haupttisches thronte. Vivianes Männer hatten dort schon als geschlossene Menge Stellung bezogen; sie wichen auseinander, damit ihre Kommissarin zu ihnen stoßen konnte. Sie hatte sie erst eine Stunde zuvor verlassen, aber sie schienen sie nicht wiederzuerkennen und überschütteten sie mit: »Das steht Ihnen aber gut«, »Das macht Sie schlank«. Capitaine De Bussche wagte ein: »Das streckt Sie«. »Das Grau ist schick, es macht einen schönen Fuß«, übertraf Wachtmeister Kossowski das Gesagte noch. Sie übertrieben, alle drehten sich zu ihr um, um sie zu begutachten, es war unerträglich.
Und dann sah sie ihn plötzlich hereinkommen.
Lieutenant Monot war blass, er wirkte unsicher auf den Beinen. Er bewegte sich vorsichtig, wie Kranke eben gehen, wenn sie nach langer Bettlägerigkeit wieder aufstehen. Sie winkte ihm zu, aber er traute sich nicht, sich durch die Menge zu drängeln. Also ging sie ihm entgegen.
»Oh, das ist hübsch, dieses Olivgrün, Sie sehen darin süß aus«, sagte er schüchtern. Nur er fand dafür solche Worte, sie hätte ihn küssen können. Aber jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt: Gerade war der Minister eingetreten, eskortiert von der strahlenden Priscilla Smet, die ein unverschämt leuchtend rotes Jackett trug. Im Vorbeigehen schnappte sich die Pressefrau Augustin Monot, ohne Viviane eines Blickes zu würdigen. Die Zeremonie würde beginnen.
Die kleine Smet schlug einen Ordner auf und reichte dem Minister zwei Blätter. Hatte sie die Rede vorbereitet?
Ja, hatte sie, dessen war sich Viviane bald sicher. Der Minister stolperte über Wörter und schien von dem Ton einiger Passagen verwirrt. Der Redner überschüttete Augustin Monot mit Lob, Priscilla hatte ihr Synonym-Wörterbuch ausgeschöpft: die entscheidende, maßgebliche Rolle des Lieutenant im Sonett-Fall, sein Scharfblick und seine Beobachtungsgabe, dann seine Geistesgegenwart und sein Urteilsvermögen, schließlich sein Mut und seine Tapferkeit. Dies alles trotz des … Wankelmuts, der Wirrungen der hierarchischen Führung … hier zuckte der Minister zusammen, er versuchte, eine abgemilderte Version zu improvisieren, aber da es ihm nicht gelang, begnügte er sich damit, die Wörter zu vernuscheln. Lieutenant Monot stehe eine blendende, brillante Karriere bevor; sobald er es wünsche, könne er seine Fähigkeiten voll entfalten und von der 3. Abteilung in das Hauptkommissariat wechseln, wo ihn Fälle erwarteten, die seinem Talent und seinen Fähigkeiten würdig seien – Viviane erhaschte den mörderischen, triumphierenden Blick von Priscilla; diese Tussi war kurz vor einem Orgasmus. Der Minister kam zum Ende, schloss mit den üblichen Floskeln, dekorierte Lieutenant Monot und bedachte ihn mit einer schlaffen Umarmung.
Monot lächelte kaum. Er schien sich zu konzentrieren und seine Antwort vorzubereiten. Er genehmigte sich ein langes Einatmen und begann dann mit sanfter Stimme: »Danke, Herr Minister, für die Ehre, die mir die Republik erteilt. Und auch wenn dies respektlos erscheinen mag, so muss ich doch einige Erklärungen hinzufügen oder manches sogar richtigstellen.«
Er war in Schwung gekommen, der liebe Engel. Von seiner Wolke herab psalmodierte er sein Dankgebet, nur eine Harfe fehlte ihm noch. Viviane schwebte auf der kleinen Wolke ihm gegenüber und hörte ihm beseelt zu.
Nein, nicht er sei es, den man beglückwünschen müsse, beteuerte der Lieutenant, sondern die Kommissarin, die Chefin der 3. Abteilung. Er sei stolz, dass er sie in diesem Fall habe begleiten dürfen, einzig bereue er diesen Unfall, den er seiner eigenen Hitzköpfigkeit zuzuschreiben habe: Er hätte ihr gerne bis zuletzt beigestanden. Die Kommissarin habe ihm alles über die Kunst des Verhörs beigebracht, darüber, Indizien zu sammeln und Verdächtige zum Reden zu bringen – das war jetzt nett ausgedrückt, denn er bauschte das hier wirklich etwas auf, der liebe kleine Monot – und Priscilla rümpfte ihre Nase immer mehr. Der Redner fuhr fort, mit großem Feingefühl, sprach von einer gewissen Freundschaft, einer Freude der Zusammenarbeit. Es blieb ihm nur zu schließen: »Sie, Herr Minister, bieten mir an, von der 3. Abteilung in das Hauptkommissariat zu wechseln, wann ich es wünsche, und ich finde das sehr ansprechend. Aber ich wünsche es nicht. Ich habe in der 3. Abteilung noch viel zu lernen«, schloss er und wandte sich Viviane zu: »Commissaire Lancier und Ihre Truppe müssen mich noch weiter ertragen!«
Beifall brandete seitens der Languste auf: Es war die Truppe der 3. Abteilung. Die Zuhörerschaft tat es ihr eilig nach.
Der Premierminister näherte sich, schob die Lästigen beiseite, trank sein Glas Champagner in einem Zug leer, schob sich sämtliche Langustenscheiben auf seinen Teller, wobei er herausposaunte, wie sehr er das liebe, und packte den Allmächtigen am Arm: »Wir haben Arbeit, wir zwei, unser Freund wartet dort oben.« Bevor er hinausging, rief er seine Pressefrau: »Und Sie, meine kleine Priscilla, bereiten mit Monot Ihr Dingsda vor.«
Die ganze Sache ging aus wie das Hornberger Schießen, aber das war egal. Umringt von ihren Männern, die ihr gratulierten, posierte Viviane für die Fotografen, ohne sich vom Buffet zu entfernen; sie ließ sich salzige Macarons servieren, Stopfleber-Kanapees und dann alles, was ihr sonst noch so unter die Nase kam. Der Champagner, den sie maßlos in sich hineinschüttete, machte jeden Bissen nur leichter, köstlicher. Der gehorsame Monot war der Pressefrau gefolgt und würde demnächst wiederkommen, es war ein schöner Abend.
Er kam aber nicht wieder. Etwas später trat ein Amtsdiener an sie heran: »Würden Sie mir bitte zum Herrn Minister folgen.« Sie folgte ihm wankenden Schrittes. Es war ärgerlich, zu einem solchen ersten Gipfeltreffen beschwipst anzutreten, aber heute Abend war alles erlaubt.
Das Büro des Ministers war fast so groß wie der Empfangssaal. Ganz am Ende saß der Herr dieser Räumlichkeit hinter seinem Schreibtisch und pickte die letzten Reste der Languste von seinem Teller.
Zwei Männer standen ganz in seiner Nähe. Ein junger Latino-Schönling, der aussah wie Antonio Banderas, und ein dicker, rotgesichtiger Vierzigjähriger, der etwas von der Büchse der Pandora hatte. Es klopfte, hinten im Raum öffnete sich eine Tür, und der Allmächtige trat ein, gefolgt von einem alterslosen Mann in den Fünfzigern – einem traurigen, eleganten Mann, der nach Stammbaum, Pfründen und Macht roch. Beide setzten sich, es war kein Stuhl mehr frei.
Der Minister wischte sich die Mayonnaise aus den Mundwinkeln und säuselte: »Das ist sie«, wobei er das Gesicht verzog, als er auf Viviane wies. Der traurige Mann wirkte noch trauriger. Er hob langsam den Kopf und betrachtete Viviane, als hätte man versucht, ihm eine nackte, nicht ganz unverbrauchte Sklavin unterzujubeln.
»Haben Sie schon vom Esprit-Club gehört?«, fragte er übertrieben freundlich.
»›Ferien mit Esprit im Esprit-Club‹? Ja, davon habe ich gehört, das wird einem ja auf jedem Radiosender eingebläut.«
»Würde es Ihnen zusagen, einige Tage dort zu verbringen?«
Ferien in einem Club, das kam überhaupt nicht infrage, und Viviane wollte ihm das gerade unterbreiten.
Aber der traurige Mann wurde noch freundlicher und erläuterte: »Einige Tage, auf einer griechischen Insel, auf Rhodos. Mit dem Ordengeschmückten von heute Abend, Ihrem Lieutenant Monot.«
»Ich muss Ihnen erklären«, fügte der Allmächtige mit schelmischem Blick hinzu, »dass es sich um einen komplexen Fall handelt, dem Sie unter ungewöhnlichen Umständen nachgehen müssen: Sie werden beide inkognito dorthin fahren. Noch besser wäre übrigens, man würde Sie für ein Paar halten. Damit die Sache glaubwürdig ist, müssten Sie sich ein Zimmer teilen, mit getrennten Betten, da kann ich Sie beruhigen. Könnten Sie sich das vorstellen?«
Viviane antwortete nicht. Sie stellte es sich vor. Oh, es fühlte sich so schön an, Monot und sie in einem Zimmer … Was würde sie nachts anziehen? Einen Schlafanzug, ganz kumpelhaft. Schwarz, das machte sie schlanker. Ach nein, doch lieber ein kurzes Nachthemdchen, das wäre natürlicher: Schließlich war sie doch eine Frau. Rosa und bis zu den Oberschenkeln. Bis zu den Oberschenkeln, denn sie hatte schöne Beine. Und er, der gute Engel, was würde er tragen? Eine kurze Schlafhose aus Baumwolle, hellgrün, passend zu seinen Augen? Und wenn es sehr warm würde? Ah, unter der Bettdecke, wenn es sehr warm würde … Sie stellte sich auch das kleine Badezimmer vor, das sie teilen würden. Die leichten, köstlichen Berührungen, wenn sie sich dort begegneten. Die Tür, die sie einen Spaltbreit geöffnet lassen würde, während sie duschte, der kleine Luftzug, der das Ganze arrangierte, oh, entschuldigen Sie … Und abends, nach dem Strand. Sicher hatte er eine empfindliche Haut, dieses Dummerchen, er würde mit Sonnenbrand nach Hause kommen. Augustin, wie sehen Sie denn aus … Ziehen Sie das T-Shirt aus und legen Sie sich auf den Bauch, ich reibe Sie mit Feuchtigkeitscreme ein, nun haben Sie doch keine Angst, ich fresse Sie ja nicht, da, sehen Sie, wie gut das tut, entspannen Sie sich, ich berühre Sie ja kaum, so, ganz vorsichtig … Und jetzt drehen Sie sich um, damit ich Ihnen die Schultern auch von vorne einreiben kann. Oooh, seien Sie nicht so kindisch …«
»Ist das ein Problem für Sie?«, griff der Allmächtige den Faden wieder auf. »Ich habe ihn vorgeschlagen, weil ich meine, eine gewisse … Nähe zwischen Ihnen und Lieutenant Monot festgestellt zu haben.«
»Kein Problem, Herr Kriminaldirektor, ob mit Lieutenant Monot oder einem anderen Mitarbeiter. Wir sind zu alt für solche Albernheiten: Hier geht es nicht um Nähe, ich bin Polizeibeamtin, und somit zum Gehorsam aufgerufen. Das gilt selbstverständlich auch für ihn.«
Der Minister lächelte den Allmächtigen an, der den Minister anlächelte: Es tat so gut zu hören, wie leidenschaftlich ihre Beamten Dienst taten.
Der traurige Mann in den Fünfzigern trommelte mit den Fingern auf den Schreibtisch; man spürte, dass er ein Mann der Tat war. Oder besser gesagt, ein Mann, der es gewohnt war, seine Untergebenen zur Tat schreiten zu lassen. Er reicht Viviane einen Umschlag. »Sehr gut. Ihr Charterflug nach Rhodos geht morgen, Samstag, um 6 Uhr. Sie müssen um 4 Uhr in Orly-Süd sein, dort wird man Ihnen Ihre Tickets geben. Währenddessen hier noch vertrauliche Informationen über das Clubdorf, die meine Leute für Sie verfasst haben. Ein Wagen wird Sie um 3 Uhr 30 abholen.«
Seine Leute. Er schien viele davon gehabt zu haben, für alles, seit seiner Kindheit. Er erhob sich. Da er keine Leute hatte, die für ihn Hände schütteln konnten, drückte er selbst die des Ministers und des Allmächtigen, ignorierte die des Dicken und des Latino-Playboys, weil das nun wirklich zu viel des Guten wäre, bedachte die Kommissarin mit einem kurzen Nicken, das er mit einem »Nun gut« versah, und zog sich zurück.
Viviane seufzte glücklich. Man hatte ihr keinen Platz angeboten, ihre Schuhe drückten sie, die Krümel der Macarons kratzten in ihrem Hals, sie hatte einen leichten Schluckauf vom Champagner, die Stopfleber stieß ihr sauer auf, aber es war wirklich ein schöner Abend.