Kapitel 9

Der Lieutenant ließ sich neben der Kommissarin nieder, wie ein treuer Labrador. »Und was machen wir jetzt?«

Sie hatte keinen blassen Schimmer, wollte den Labrador aber nicht enttäuschen. »Sehen Sie noch mal unter der Bühne nach, ob etwas dazu gedient haben könnte, über die Mauer zu klettern.«

Willy zog los, Viviane nahm die Canon in die Hand und klickte sich durch die Fotos. Eingehend betrachtete sie die Blicke, die die Kokos auf das Objektiv gerichtet hatten, also auf Königin. Ob bei einigen eine besondere Vertrautheit durchschimmerte? Sie schaute noch einmal alle Bilder durch. Sie wusste nicht, wonach sie suchte. Das heißt, sie wusste es sehr gut, sie stellte sich dieselbe Frage wie King: Könnte eines dieser vergnügten Gesichter Königins Liebhaber gehören?

»Ich habe das hier gefunden, Viviane.« Willy streckte ihr ein gelbes Seil von ungefähr zwölf Metern Länge entgegen. »Ein Bergsteigerseil, das das Gewicht eines Mannes halten könnte, selbst eines sehr dicken.«

»Um ihn zu erhängen, gut. Aber wie wollen Sie damit über eine Mauer kommen?«

»Ich würde es auf der anderen Seite einem Komplizen zuwerfen. Er würde das Seil gespannt halten, während ich hochklettere. Oben angekommen, würde ich auf der Mauer entlanggehen bis zu der Stelle, wo der Pfad breiter wird, und hinunterspringen.«

»Mit dem toten oder lebendigen King auf dem Rücken?«

Der Lieutenant schaute skeptisch drein.

»Räumen Sie das Seil wieder weg, Willy, es reicht.«

»Und was machen wir jetzt?«

Er schien diese Frage zu mögen.

»Heute ist Sonntag, Sie haben frei.«

Er zog fröhlich los. Zu fröhlich, das war beleidigend. Als sie die Treppe hinabging, blieb sie mit dem Fuß an der Kante einer Stufe hängen und riss dabei ein Riemchen ab. Das hatte ihr noch gefehlt. Nun hinkten sie und ihre Ermittlungen gleichermaßen.

In der zona privada traf sie auf eine Heyduda, die sie humpeln sah und ihr deswegen gleich mitfühlend auf die Füße blickte. »Gehen Sie doch zu Clown-Koko, er wird das reparieren«, sagte sie und zeigte auf die nächste Lodge.

»Welches ist sein Zimmer?«

»Seine Zimmer. Die beiden vorderen, er ist nämlich mit Spritzen-Kiki verheiratet. Die beiden hinteren sind die von Schraubenzieher- und Küchen-Koko.«

Die Tür stand offen. Clown-Koko saß in einem Sessel und las einen Essay von Bernard-Henri Lévy.

»Sind Sie auch Schuster?«, fragte Viviane.

»Warum nicht? Man kann Clown sein und noch einen anderen Beruf haben. Er hier ist zum Beispiel Philosoph«, sagte er und zeigte auf sein Buch.

Viviane zeigte ihm ihre Sandale, die er mit Kennerblick untersuchte.

»Eine Niete wird nicht halten. Das muss genäht werden. Macht 15 Euro. Kommen Sie in zwei Tagen wieder.«

»Könnten Sie mir die nicht sofort reparieren? Ich habe sonst nur Pumps dabei.«

»Kein Problem. Aber dann kostet es dreißig Euro. Bei Notfällen oder am Sonntag kostet das extra. Wie beim Arzt.«

Viviane gab ihm zwei Scheine, Herr Dr. Schuster setzte seine Brille aus dünnem Metall ab und machte sich an die Arbeit. Er machte mit einer langen Ahle ein Loch ins Leder und bewies dabei erstaunliches Feingefühl für einen so schweren Mann.

»Ist das Ihr Zivilberuf?«

Clown-Koko sah sie empört an. Ohne Verkleidung, ohne rote Nase war er ein stattlicher Mann. Er war groß, imposant wie ein Bauer aus dem Südwesten, aber er war nicht fett.

»Machen Sie Witze? Ich hab Philosophie studiert. Ich habe sogar eine Arbeit über Die Evolution des Habeas Corpus im kantischen System geschrieben. Ich hätte Dozent werden können, aber durch Zufall bin ich Clown geworden, nach einem Praktikum hier. King fand mich sehr lustig, wenn ich von Philosophie erzählt habe. Im Jahr darauf habe ich Spritzen-Kiki kennengelernt, die ihren Urlaub im Club verbracht hat. Wir haben uns gefallen. Und weil sie Krankenschwester war, hat King sie eingestellt. So sind wir Koko und Kiki geworden.«

»Man hat mir erzählt, Sie seien entlassen worden.«

»Oh nein, King hat mir nur angekündigt, dass ich gefeuert werden sollte, aber ich hatte Glück, er ist genau danach gestorben. Bleibt nur zu wissen, was Königin entscheiden wird, sie hat noch nichts bestätigt. Ich hoffe, dass ich mit ihr auch so viel Glück haben werde.«

Er hatte das sehr ruhig gesagt, ohne ein Lächeln. Das musste schwarzer Humor sein. An der Wand hingen einige Fotos. Auf einem erkannte Viviane Schraubenzieher- und Küchen-Koko, die neben Clown-Koko standen und Kerzen auf einem Kuchen ausbliesen.

»Sind Sie befreundet, Sie drei?«

»Ja, und das gefiel King nicht. Er mochte es nicht, wenn wir Kokos zu sehr unser eigenes Ding machten. Die einzigen Freunde, die wir aus seiner Sicht haben durften, waren die vierhundert Chéris.« Clown-Koko fluchte. Er hatte sich mit seiner großen Nadel gestochen. Ein Blutstropfen quoll an seinem Zeigefinger hervor, er lutschte daran und runzelte die Brauen. »Sehen Sie, was mir passiert, wenn ich nur von ihm rede? Sogar nach seinem Tod geht er mir noch auf den Senkel, der Kerl.«

»Warum wollte King Sie eigentlich feuern?«

»Er hat mir vorgeworfen, dass ich immer dieselben Witze mache. Ein blödsinniger Vorwurf. Das ist es ja genau, was das Publikum zum Totlachen findet. Der Chéri weiß, was jetzt kommen wird und erwartet den Witz umso aufgeregter. Sie kennen vielleicht die Theorie des Komischen von Bergson …« Er schaute zufrieden auf sein Werk. »So, das wär’s. Soll ich Ihnen nicht den anderen auch noch annähen? Geht aufs Haus.«

Viviane bedankte sich und zog den anderen Schuh aus.

Clown-Koko fädelte einen neuen Faden durch das Nadelöhr der Ahle. »Das ist es, was für uns Kokos so lästig ist. Wir sollen für die Chéris die Helden spielen, aber es gibt bei Helden eine Transzendenz, die unsere menschliche Seite nicht erfüllen kann. Menschliches, Allzumenschliches, verstehen Sie, was ich meine?«

Viviane deutete ein bestätigendes Nicken an, Clown-Koko schien erfreut.

»Ach, das tut gut, eine Chérie kennenzulernen, die Nietzsche gelesen hat«, seufzte er, während er durch das Leder stach.

Viviane sah ihm bewundernd bei der Arbeit zu. Beinahe hätte sie darüber ihre Ermittlungen vergessen. Aber ihre berufliche Gewissenhaftigkeit gewann wieder Oberhand.

»Erinnern Sie noch daran, was Sie nach Ihrer Unterredung mit King gemacht haben?«

»Ein paar Chéris haben mich an die Bar geschleppt und mir Drinks spendiert. Nach einer Stunde sind Königin und Animateur-Koko mich holen gekommen. King hatte sie geschickt, aber als wir im Amphitheater ankamen, war es, als hätte er sich in Luft aufgelöst. Also habe ich mit Schraubenzieher-Koko und zwei Chéries Boule gespielt. Weil auf dem Boule-Feld gerade ein Wettkampf stattfand, haben wir auf der Wiese der zona privada gespielt, bei der Treppe. Später hat Animateur-Koko mich gebeten, Witze vorzubereiten, die wir am Abend unter dem gehängten König erzählen wollten. Mir ist nichts eingefallen, da bin ich zu Küchen-Koko gegangen. Der ist witzig, er hat Talent für Wortspiele.«

»Waren Sie die ganze Zeit zusammen?«

»Ja, bis auf zwei Minuten, in denen ich hierher zurückgekommen bin, um einen Notizblock zu holen, damit ich Ideen aufschreiben kann.«

»Und Ihr Boule-Spiel, um wie viel Uhr war das?«

»Kurz nach 18 Uhr. Um 19 Uhr bin ich zu Küchen-Koko in die Küche gegangen.« Er gab Viviane die Sandalen zurück und brachte sie zur Tür.

Sie unternahm einen letzten Versuch: »Als Sie gegangen sind, haben Sie da den Henker gesehen?«

»Nein, aber ich habe erst Carlo, dann Cristo hochgehen sehen.«

Da Viviane nicht zu begreifen schien, fügte er mit einem donnernden Lachen erklärend hinzu: »Monte-Carlo und Montecristo.«

Viviane lächelte höflich und ließ ihn dort stehen, während er noch hinterherrief: »Und Limar! Und Video!«

Diese Unterhaltung hatte die Kommissarin verwirrt. Clown-Koko war sympathisch, fast zu sympathisch. Er hatte auf Durchsichtigkeit gesetzt, aber sie misstraute durchsichtigen Verdächtigen. Jeder normale Mensch hatte etwas zu verbergen.

Ihrer eigenen Courage folgend, machte sich die Kommissarin auf zum Bauch-Beine-Po-Kurs. Ungefähr zehn Leute waren gekommen, um sich von Muskel-Kiki quälen zu lassen. Zehn Hintern und Bauchmuskeln, ausgestreckt auf einer Tatami-Matte: Die Bauchmuskeln sah man kaum, die Hintern dafür sehr deutlich. Viviane zog ihre Safari-Jacke aus und gesellte sich zu der jammernden Gruppe.

»Wir legen uns auf die Seite, machen mit den Beinen die Schere, langsam, zehn Mal, ja, sehr gut, Viviane …«

Alle Blicke richteten sich auf die Kommissarin, die sich als gute Schülerin hervortat, alle würden sie darum beneiden.

»Dann auf die andere Seite. Höher, die Schenkel weiter auseinander, Nathalie. Es muss ein bisschen weh tun. Jetzt legen wir uns auf den Rücken und entspannen uns, lasst euch gehen.«

Sich gehen zu lassen lag der Kommissarin nicht. Sie grübelte. Es war, als würde die körperliche Anstrengung das Grübeln begleiten, es stimulieren. Was sollte sie von der Aussage des Türken halten? Man müsste die Befragung noch einmal vertiefen. Sie würde Königin um einen richtigen Dolmetscher bitten. Mit Sicherheit gab es so jemanden auf der Insel.

»Jetzt legen wir die Hände in den Nacken, heeeben die Beine und lassen sie laaangsam absinken.«

Wie wichtig war der kleine Pfad, der entlang der Mauer führte? Die beiden Liegestühle auf dem Belvedere beschäftigten sie auch. Sie musste sich das ansehen. Aber der schmale Weg verhieß nichts Gutes für sie.

»Nicht vergessen, was ihr für euren Bauch tut, tut ihr für euren Rücken. Wir machen kleine Kreise mit gestreckten Beinen, so. Nein, Lola, nicht beugen, schau mal zu Viviane.«

Gegenwind-Koko, den müsste man befragen. Vielleicht hatte er einen guten Grund, als Henker verkleidet ins Amphitheater zu kommen.

»Wir setzen die Beine ab, entspannen uns und atmen langsam.«

Sie bedauerte, King nicht kennengelernt zu haben, er interessierte sie. Wer war er wirklich gewesen? Die ersten Aussagen zeichneten ein widersprüchliches Bild, sie hätte gerne noch andere gehört. Woher kam diese plötzliche Besessenheit, bei seiner Frau einen Liebhaber zu vermuten? Hatte Königin denn wirklich einen? Viviane stellte sie sich nackt in den Armen eines der Kokos vor, die sie getroffen hatte, aber nein, keiner passte. Ganz kurz sah sie sich anstelle von Königin, mit denselben Kokos. Nein, auch da war keiner der Richtige. Plötzlich drängte sich das Bild von Willy auf. Willy, wie er tropfend aus dem Pool stieg. Absurd.

»Und jetzt auf den Bauch, wir legen die Hände wieder in den Nacken und heben den Oberkörper.«

Nein, gar nicht mal so absurd, Königin hätte sich zwischen den Chéris einen Liebhaber suchen können, einen wie Willy, einen Toyboy für den Sommer. Diskreter, kurzlebiger als ein Koko. Ein Wegwerfliebhaber. Einer oder mehrere. Man muss sich hier nur bedienen, guten Tag, danke, auf Wiedersehen. So hätte sie das jedenfalls gemacht. Aber die arme Königin wirkte so verkrampft! Da war es wieder, Willys Bild, flüchtig, wie ein schlüpfriges Foto, das unter den Bänken einer Oberschule von Hand zu Hand geht. Warum hatte King die Kokos und Kikis derart beharrlich ausgefragt? Wer hatte ihn aufgescheucht? Ein anonymer Brief? Eine Unachtsamkeit seiner Frau?

»Zum Schluss setzt ihr euch auf eure Sitzbeinhöcker, die Beine angezogen, die Fersen weg vom Boden, und wir kreisen mit den Knien. Nutzt eure Arme, um das Gleichgewicht zu halten.«

Und Clown-Koko? Er wäre ein guter Verdächtiger, hätte er nicht eine so glatte Aussage gemacht, ohne die geringste Ungereimtheit. Überprüfen?

»Das war’s für heute. Bravo, meine Chéries!«

Und dieser letzte Nachmittag im Amphitheater, so lächerlich theatralisch, war das wirklich nur eine Laune von King gewesen?

»Für alle, die es interessiert: Ich biete sehr gute pflanzliche Kosmetik an, hundert Prozent bio. Ich habe die Sachen für euch zum Großhändlerpreis bekommen. Heute habe ich eine Straffungscreme dabei, ein Schlankheitsgel und eines, das das Gewebe eurer kleinen Hintern festigt …«

Viviane ignorierte das Köfferchen, das Muskel-Kiki vor den Chéries darbot, und ging duschen. Sie würde nach dem Frühstück mit Lieutenant Cruyff über alles sprechen. Bis dahin würde sie Apollinaire lesen.

Sie befand sich gerade mitten auf dem Pont Mirabeau, als sich ihr eine junge Heyduda näherte.

Klein, blond, gelockt, mit einer großen Brille, stand sie eingeschüchtert da. »Kann ich Sie sprechen? Es ist ein wenig heikel.«

Es war sogar sehr heikel. Die Heyduda war Praktikantin. Sie kam von einer Wirtschaftsschule und kümmerte sich um die Verwaltung der Reservelager. Sie hatte Auffälligkeiten im Lager von Schraubenzieher-Koko bemerkt. Kurz vor der halbjährlichen Inventur Anfang Juli hätten die Regale sich plötzlich wieder gefüllt, ohne dass es Einkäufe gegeben habe. Die Inventur sei einwandfrei gewesen. Danach hätten sich die Regale wieder geleert, sehr viel schneller als dies bei normalem Gebrauch möglich gewesen sei. Die Heyduda warf ihr einen schmerzlichen Blick zu. »Es gibt eingekaufte Ware, die nicht da ist, und nicht eingekaufte Ware, die da ist. Verstehen Sie?«

Die Kommissarin nickte. Sie war schon einmal auf Probleme mit manipulierten Inventurlisten in zweifelhaften Geschäften gestoßen, hatte mit Lagerbeständen zu tun gehabt, die von einem Laden zum nächsten zirkulierten. Es war offensichtlich, dass Schraubenzieher-Koko seinen eigenen kleinen Handel betrieb. Sie erinnerte sich an Königins Bemerkung »er gab zu viel für Instandhaltung aus«. Wahrscheinlich kaufte er zum Schein Dinge ein, die er dann rückvergütet bekam. »Warum erzählen Sie mir das?«, fragte Viviane die Heyduda.

»Schraubenzieher-Koko hat mich dabei ertappt, wie ich wenige Tage nach der echten Inventur meine eigene machen wollte. Er hat mich nicht bedroht, hat mir aber zu verstehen gegeben, dass er wisse, wie ich heiße, dass er meine Adresse in Marseille kenne und dort viele sizilianische Freunde habe. Freunde, die wie er der Meinung seien, dass die beste Eigenschaft einer Praktikantin ihre Verschwiegenheit sein sollte.«

»Und, was werden Sie jetzt tun?«

»Ich bin mutig, aber nicht verwegen. Ich habe gekündigt, ohne Königin etwas davon zu erzählen, ich reise übermorgen ab. Ich habe mir gedacht, es wäre gut, wenn Sie das in Ihrem Film erwähnen könnten. Das ist alles.«

Viviane sah, wie sie in Richtung der Büros abrauschte. Sie hatte ein schlechtes Gewissen. Sie hätte die Sache gern in die Hand genommen, der Studentin einen Rat gegeben. Aber das war nicht ihre Aufgabe. Hier war sie noch nicht einmal Polizistin.

Am Mittag kam Königin sie abholen. »Wir können uns Zeit lassen, die Mitbewohnerin der jungen Toten ist mit dem Mittagsflug nach Frankreich abgereist. Wir können in Ruhe alles durchsuchen«, sagte sie, während sie die Zimmertür öffnete.

Der Raum war fast leer, der Besuch fiel sehr kurz aus. Viviane öffnete das Portemonnaie, das auf dem Nachttisch lag. Sie zog einen Personalausweis und eine Gehaltsabrechnung heraus. »Liliane Gadret, wohnhaft in Niort. Einunddreißig Jahre, ledig. Gestern hatte sie Geburtstag. Arbeitet als Aushilfe im Callcenter. Die Arme, bei dem Gehalt hat sie sicher nicht mit Champagner gefeiert.«

Viviane durchsuchte die wenigen Kleidungsstücke. Schlechteste Qualität, made in China. Sie rochen nach Sonnencreme und nach viel zu blumigem Deo. Ein dürftiges Leben. Der Koffer war fast leer, alt und aus miserablem Material. Das Innenfutter war zerrissen und mit Klebestreifen repariert.

Viviane tastete die Oberfläche ab und ließ ein fröhliches: »Bingo!« ertönen. Sie entfernte den Klebestreifen, schob die Hand unter das Futter und zog einen Plan von Lindos und zehn Portionen eines weißen Puders in kleinen durchsichtigen Tütchen hervor. Sie öffnete eines davon, ließ einige Körnchen auf ihre angefeuchtete Fingerspitze fallen und leckte sie mit der Zungenspitze ab. Sie erkannte den bitteren Geschmack und fühlte eine leichte Betäubung aufkommen. »Das ist Koks, Königin. Das muss es sein, womit sie tatsächlich ihren Lebensunterhalt verdient hat. Sie hat wahrscheinlich gedealt und einen Teil zum eigenen Verbrauch behalten.«

»Gedealt? Wo denn? Sicher nicht im Club. Hier bleibt nichts verborgen. Das wäre mir schon zu Ohren gekommen. Sie hat ihren Stoff wohl in Lindos verkauft.«

Viviane betrachtete den Plan, nichts war darauf markiert worden. Sie setzte sich auf das Bett, um sich das Passbild von Liliane Gadret anzusehen. Sie versuchte, sich in die junge Frau hineinzuversetzen. Sie stellte sich vor, wie sie im Club eintraf, wie sie in die unbekannte Nachbarstadt fuhr, um dort Kunden aufzutun. Nein, das passte nicht, zu gefährlich. »Sicher hat sie mit einem Mittelsmann gemeinsame Sache gemacht. Gibt es unter Ihren Kokos und Heydudas welche, die häufig in Lindos sind?«

»Häufig, nein. Spritzen-Kiki geht dort von Zeit zu Zeit Medikamente einkaufen, und Zecher-Koko geht dort manchmal was trinken. Sonst niemand. Ach doch, da ist noch Kerim, der Sohn des Türken, der Taubstumme. Er fährt jeden Tag zur Arbeit in die Stadt. Aber ehrlich, wie ein Dealer sieht der nicht aus.«

»Die besten Dealer sind die, die nicht danach aussehen. In welchem Restaurant arbeitet er?«

»In dem am Eingang des Dorfes, neben der Straße, wir sind gestern daran vorbeigefahren. Was wollen Sie tun?«

»Ich werde mich ihm als Konsumentin vorstellen. Mal sehen, wie er reagiert.«

Viviane aß alleine zu Mittag. Genervt stopfte sie sich voll: Diese Geschichte verwirrte sie. Was hatte sie damit zu schaffen? Ein Mädchen war an einer Überdosis gestorben, traurig für das Mädchen. Aber was hatte das mit dem Tod von King zu tun? Man hatte sie nicht damit beauftragt, einen Drogenring auszuheben, sie würde einen Fehler begehen. Aber egal. Sie würde den Fehler mit Willy begehen, um sich weniger schuldig zu fühlen, entschied sie, und nahm sich noch von dem Feigengratin mit Pinienkernen.

Während sie auf Willy wartete, vertiefte sie sich in Apollinaire. Sie las den ganzen Nachmittag. Überall: bei sich im Zimmer, am Pool, in den Liegestühlen bei der Bar, am Strand.

Kein Willy. Er war verschwunden.

Kurz vor dem Abendessen klopfte er bei ihr an, das Gesicht sonnengebräunt, die Haare strähnig vom Salz. Sein Gesicht strahlte wie das eines neufundländischen Fischers, der seine Frau im Hafen wiedertrifft.

»Segeln ist toll, Viviane! Wir sind zu sechst losgefahren, in einem Walfangboot, damit Gegenwind-Koko uns einweisen konnte. Eine tolle Gruppe, Mädchen und coole Typen, alles junge Leute, aber Sie hätten auch mitkommen können. Ich habe gelernt, wie man eine Wende gegen den Wind macht, und wie man halst. Wir haben auf der kleinen Insel da hinten ein Picknick gemacht …« Als sein Blick auf den von Viviane traf, verstand er, dass er zu viel Zufriedenheit versprühte, und beeilte sich abschließend zu sagen: »Sie meinten doch, jeder macht, was er will.«

»Na, dann schreiben Sie mal eine hübsche Postkarte, Willy. Und die schicken Sie dann dem Allmächtigen. Ah, und malen Sie doch noch ein Boot dazu! Und als Postskriptum erwähnen Sie bitte, dass ich währenddessen gearbeitet und nachgedacht habe. Das wird ihn beruhigen.«

Sie berichtete von ihrem Tag und ihren Entdeckungen.

Willys Gesichtsausdruck hatte sich verändert, er war wieder der aufmerksame Assistent geworden, alles hatte wieder seine Ordnung. »Ich gehe duschen und komme dann zu Ihnen«, schloss er höflich.

»Nein, kommen Sie, wie Sie sind, so wirken Sie glaubwürdiger als Interessent für Koks.«

Denn den Kunden sollte er mimen, das war nicht die Arbeit einer Kommissarin. Sie erklärte es ihm im Taxi.

Das Restaurant war noch leer, nur auf der Terrasse saßen einige Touristen bei einem Getränk. Kerim wischte gerade den Fliesenboden. Er erkannte Viviane und Willy und sah sie besorgt an.

Die Kommissarin ließ ihren Lieutenant machen. Es spielte wohl die Rolle seines Lebens, näherte sich Kerim zitternd, wie ein Kokser auf Entzug, drückte sich ein Nasenloch zu, atmete durch das andere ein, während der Taubstumme ihn wohlwollend beobachtete. Die Vorstellung war noch nicht zu Ende: Willy rollte mit den Augen, stürzte sich in euphorische Trance, bevor er beseelt in einem Stuhl zusammenbrach. Er übertrieb es, aber das Bild war gelungen.

Mitfühlend fasste Kerim den Lieutenant an der Schulter und führte ihn vor die untergehende Sonne, auf die er mit dem Finger zeigte.

Viviane brach in Gelächter aus. »Er hat nichts begriffen, er glaubt, Sie hätten Schnupfen und Fieber. Er rät Ihnen, an die Sonne zu gehen. Machen Sie es noch mal.«

Das Ergebnis war nicht besser, Kerim holte an einem Tisch zwei Bierdeckel, mit denen er herumfuchtelte und auf die Sonne im Südwesten zeigte. Er lächelte sie wissend an, mit unschuldigem Blick, und schien glücklich, dass man ihn gefragt hatte.

»Er ist ein bisschen schlicht, der Arme, er will uns mitteilen, dass die Brauereien, die diese Bierdeckel liefern, auch Sonnenschirme anbieten, wenn die Sonne zu heiß ist«, übersetzte Viviane. »Wir haben genug Zeit verloren. Gehen wir zurück in den Club, Zeit zum Abendessen.«

Im Taxi, das sie zurückbrachte, verkündete Viviane, dass der Fall mit der Kokserin abgeschlossen sei. Der Mord an King sei komplex, sie würden ihn jetzt nicht noch mit kleinen parasitären Morden komplizierter gestalten.

»Man könnte trotzdem in Frankreich überprüfen lassen, ob sie schon in einen ähnlichen Vorfall verwickelt war«, schlug Willy vor.

»Gute Idee, ich werde einen meiner Männer damit beauftragen.«

Die Idee war sogar besser als gut; endlich hatte sie einen Vorwand, Monot anzurufen. Viviane war den Rest der Fahrt über voller Vorfreude.