Kapitel 15
In aller Frühe stieg die Kommissarin mürrisch aus der Dusche. Der vierte Tag im Club begann schlecht, die Beleuchtung funktionierte noch immer nicht, dabei müsste Viviane sich aber unbedingt abschminken. Sie rief den Hausmeister. Zwei Minuten später sah sie den erwarteten Retter nahen: Schraubenzieher-Koko war ansehnlich, hatte breite Schultern, ein schmales Gesicht und eine markante Nase, die noch von einer braunen Mähne unterstrichen wurde.
Er schraubte Vivianes Lampe ab und zwinkerte ihr fortwährend zu. »Und, wie läuft’s mit dem Kino?«, fragte er mit einem melodiösen italienischen Akzent.
»Ist ein bisschen schwierig. Ich würde in das Drehbuch gerne eine Szene einbauen, wie die, die sich im Amphitheater abgespielt hat, nur witziger. Waren Sie auch da?«
»Ja, aber witzig war das gar nicht. King hatte schlechte Laune, er wollte mir irgendwelche Buchhaltungsgeschichten anhängen. Ich bin hier Haustechniker, nicht Buchhalter. Dann wollte er wissen, wer mit seiner Frau schläft. Ich bin Sizilianer und kein Denunziant. Sowieso hat sie keinen Arsch und keinen Busen; man muss schon verrückt sein, so was anzubaggern, da kann man es doch gleich mit einem Mann machen. Ich mag lieber die Dicken.« Er setzte ein unwiderstehliches Lächeln auf, Viviane war nicht ganz wohl dabei.
»Wie ist es ausgegangen?«
»Sehr gut – es war nur die Fassung«, sagte er und schraubte die Lampe wieder an, »beim Rausgehen bin ich noch Küchen-Koko über den Weg gelaufen, er war dran. Später ist er zu mir an den Pool gekommen und hat mir geholfen, die Pumpe zu reparieren.«
»Wie spät war es da?«
»Ungefähr 17 Uhr. Dann habe ich mit zwei Chéries Boule gespielt, Clown-Koko war auch dabei. Er war ganz niedergeschlagen, weil er gerade entlassen worden war. Wir haben auf der Wiese der zona privada gespielt, am Fuß der Treppe zum Amphitheater.«
Er war überrascht über Vivianes plötzliches Interesse. Ob er gesehen habe, wie die Chéris die Treppe hinaufgingen? Den Türken oder den Henker? Nein, niemanden, warum? Ob sie immer zusammen gewesen seien? Nicht die ganze Zeit: mitten in der Partie sei Schraubenzieher-Koko gegangen, um ein Maßband zu holen und damit die Entfernungen zur Zielkugel zu messen. Wieso diese beiden Chéries? Weil er ein Auge auf die eine von ihnen geworfen habe. Eine Dicke, er würde wirklich auf die Dicken stehen.
Er teilte der Kommissarin das mit und warf ihr einen letzten einladenden Blick zu. Der ließ sie nicht kalt, Schraubenzieher-Koko war attraktiv. Sie mochte nur die Schönen, er nur die Dicken. Doch nach reiflicher Überlegung erschien es ihr zu einfach, jeder wäre für den anderen nur eine Trophäe gewesen. Ab heute Abend würde sie auf Diät sein. Oder ab morgen oder schon bald. Für den Anfang wollte sie sich aber erst einmal ihre Sünden ablaufen.
Die Morgenluft war frisch, der Strand menschenleer. Alles war schön, alles war ruhig. Nur ein hohes Pfeifen, ein »Achtung!« und Viviane blieb gerade noch rechtzeitig stehen, um zu sehen, wie sich ein Speer direkt vor ihren Füßen in den Boden bohrte.
Der gute Willy Cruyff kam mit dem arglosen Grinsen im Gesicht angerannt, das alle seine Dummheiten begleitete.
»Ich konnte keinen Speer mitbringen, den hätte man mir beim Boarding abgenommen. Den hier habe ich selbst gebastelt.«
Er zeigte Viviane den langen spitzen Ast und den mit einem Seil umwickelten Griff – wie ein Bengel, der stolz seine Wasserpistole herzeigte.
»Nicht auszudenken, wenn sich irgendwelche jungen Leute damit amüsieren wollen, Willy. Finden Sie nicht, dass es in diesem Club schon genügend Tote gibt?«
»Beruhigen Sie sich, ich lasse den ja nicht rumliegen, ich verstaue ihn im Segel-Bungalow.«
Viviane zuckte mit den Schultern. »Ich werde jedenfalls woanders weiterlaufen, ich bin ja nicht hier, um mich aufspießen zu lassen.«
»Wir könnten zusammen laufen. Ich laufe langsam, ich bin gerade in einer Erholungsphase.«
Sie liefen am Rand des Wassers. Willy passte seinen Schritt zwar Vivianes an, aber war ihm überhaupt klar, dass sie kurz davor war zu platzen? Weil er sie von der Seite ansah, zog sie den Bauch ein, hielt sich aufrecht und machte ausgreifende Schritte. Ein unmögliches Unterfangen, sie musste aufgeben.
»Warum behandeln Sie Ihren Körper so schlecht? Mögen Sie ihn nicht?«, fragte Willy plötzlich.
»Meinem Körper und mir geht es gut, Willy. Mischen Sie sich da nicht ein.«
»Ich sage das, weil Sie ihn so zwingen. Ich sehe wie Sie laufen, mit geballten Fäusten, verspanntem Kiefer. Lassen Sie sich gehen, Viviane, ihr Körper kann auch ohne Ihr Zutun gut laufen.«
Sie versuchte sich ein barmherziges Lächeln abzuringen, ihm den Affront zu verzeihen. Aber das genügte nicht, um den Angreifer zum Schweigen zu bringen.
»Wissen Sie, Viviane, man muss seinen Körper wie einen Freund behandeln.«
Warum hielt er nicht den Mund? Welche Klischees wollte er noch anführen?
Schwülstig fuhr er fort: »Das gilt auch für die Ernährung. Wenn man seinem Körper alles Mögliche antut, dann nimmt er es einem irgendwann krumm. Die Pfannkuchen mit Bananenfüllung zum Beispiel, die Sie immer zum Nachtisch verschlingen, meinen Sie, das macht ihm Freude: das Fett, das Mehl, der Zucker?«
Er musste schleunigst an seinen Platz verwiesen werden.
»Oh ja, das macht ihm Freude, Willy. Bei mir ist das jedenfalls so. Mein Körper braucht diese Zuwendungen.«
»Nicht Ihr Körper braucht das, sondern Ihr Kopf, Viviane. Ihr Kopf macht alles, was er will, und der Körper versucht mitzuhalten.«
Der Idiot hatte ja so recht, aber er verstand gar nicht, wie sehr jedes einzelne Wort die Kommissarin schmerzte. Sie hatte noch nie beim Laufen geweint, aber jetzt spürte sie, wie ihr Tränen in die Augen stiegen. Sie wusste nicht mehr, ob es ihr Körper oder ihr Kopf war: Sie ließ sich gehen, ihre Augen füllten sich mit Tränen.
Willy blieb plötzlich stehen. »Verzeihen Sie mir«, sagte er und legte ihr den Arm um die Schultern. »Ich habe Sie verletzt.«
Sie drückte sich leicht an ihn. Wie lange hatte sie sich schon nicht mehr an der Schulter eines Mannes ausgeweint? Es fühlte sich schön an. Sie drehte sich zu ihm und lehnte sich an ihn. Sie roch den Duft von Vetiver, der sich mit Schweiß vermischte, spürte die Arme, die sie festhielten. Sie fühlte den Mann, die köstliche und durch nichts zu ersetzende männliche Ungeschicklichkeit.
»Verzeihen Sie«, wiederholte er. »Seien Sie mir nicht böse. Ich mag Sie, deshalb rede ich manchmal mit Ihnen, wie mit einer Freundin.«
Sie vergrub ihr Gesicht weiter an seiner Schulter. Nicht bewegen. Keine Blicke, die sich begegnen, keine Gefühle, nicht loslassen, sie fühlte sich so verletzlich. Jetzt den Worten vertrauen. Sie wählte sie mit Bedacht. »Ich mag Sie auch gerne. Jetzt setzen wir uns, und Sie erzählen mir vom Fall.«
Er sah sie überrascht an und nahm neben ihr auf einem Baumstamm Platz. Er sprach leise, als wäre er eingeschüchtert. »Ich frage mich, ob wir uns nicht die Nebengeschäfte der Kokos näher ansehen sollten. Sie sind vielleicht zu nebensächlich, um ein Motiv darzustellen, aber wir haben auch noch nicht alle entdeckt.«
»Sie nicht, Lieutenant. Ich schon.« Sie zählte ihm die kleinen Geschäfte der Kokos und Kikis auf. »Sehen Sie, ich rede auch mit den Leuten.«
Willys Blick wechselte von Erstaunen zu Bewunderung.
»Also«, fuhr sie fort, »die Einkaufspassage im Shopping-Center ist komplett. Alle Branchen sind hier vertreten. Aber ich glaube kaum, dass das ein Todesurteil wert ist.«
»Warum reden Sie nicht mit Königin darüber? King und sie haben vor den Unterredungen im Amphitheater sicher darüber gesprochen.«
»Gute Idee, aber Moment, ich war nicht fertig.« Sie berichtete ihm von ihrer Unterhaltung mit Schraubenzieher-Koko. Er hörte aufmerksam zu. »Ist doch merkwürdig, nicht wahr, Lieutenant, dieses Trio, das immer zu zweit unterwegs ist, nach der Unterredung im Amphitheater. Noch merkwürdiger ist, dass alle nacheinander das Bedürfnis hatten, auf einen Sprung in ihrer Lodge vorbeizugehen.«
»Nein, Küchen-Koko nicht. Wenn ich Sie richtig verstehe, Commissaire, war der einzige Augenblick, wo er das hätte tun können, als er mit Schraubenzieher-Koko die Pumpe am Pool reparierte.«
»Vielleicht war er doch dort, ich habe Schraubenzieher-Koko nicht gefragt, aber wir sollten Küchen-Koko danach fragen. Sie werden das tun, Willy.«
Der Lieutenant nickte.
»Doch auch wenn er sich entfernt haben sollte, dann will das noch nichts heißen«, ergänzte Viviane. »Es kann sich um einen Zufall handeln.« Nein, es musste nichts heißen, aber dieser Gedanke ließ der Kommissarin keine Ruhe. Sie wusste nur nicht, wie sie ihn anpacken sollte. Sie wollte gerne noch weiter mit ihrem Lieutenant sprechen, hatte ihm aber nichts zu sagen. »Was haben Sie heute vor, Willy?«
»Heute Nachmittag ist das Strandfußball-Turnier und am Vormittag gehe ich zum Training, nachdem ich Küchen-Koko gesprochen habe. Danach weiß ich nicht.«
»Hätten Sie nicht Lust, mit mir in Lindos zu essen, nachdem ich mit Königin gesprochen habe? Einfach nur, um den Kopf frei zu bekommen, etwas Distanz zu schaffen …«
Ja, der Lieutenant hatte Lust. Sie auch.
Sie gingen in ihre Lodges. Als sie sich trennten, rief Willy ihr nach: »Ah, fast hätte ich vergessen, ich muss Ihnen die Kontaktdaten von der Chérie von Gegenwind-Koko geben.«
»Gut, ich werde das mit Lieutenant Monot besprechen.«
Sie hatte es plötzlich eilig, schämte sich irgendwie dafür. Woher dieser Drang, Monot anzurufen? Sie dachte noch einmal an diese Geschichte von den verheirateten Frauen in Deauville, hin- und hergerissen zwischen ihrem Tennislehrer und dem Gatten im Büro.
Sie ging um die Lodge von Clown-Koko und Spritzen-Kiki herum. Die hintere Fassade, also die Zimmer von Schraubenzieher- und Küchen-Koko, gingen auf den Stacheldrahtzaun, der das Dorf umgab. Sie wagte einen Blick durchs Fenster, konnte aber nichts Auffälliges feststellen. Diese Lodge war näher am Amphitheater als alle anderen, sie war nur durch das große Gebäude des Reservelagers davon getrennt. Wenn man etwas zurücktrat, konnte man die Spitze des Galgens sehen, nicht aber den Mast. Sie wusste nicht, wonach sie suchen sollte.
Übellaunig kam sie bei Königin im Büro an. »Ist mit der Polizei gestern alles gut gelaufen?«
»Ja und nein. Die Polizisten haben die These von dem Raubmörder geschluckt. Aber sie hatten, wie Sie, zunächst Kerim in Verdacht. Sie haben ihn zum Verhör mitgenommen.«
»Hat man ihn zum Reden bringen können?«
»Oh, das haben Sie jetzt aber ungeschickt ausgedrückt, Commissaire. Aber wenn man seine Gesten richtig gedeutet hat, dann hat Kerim seinen Posten verlassen, sobald er seinen Vater auf dem Weg kommen sah. Später war er laut seinem Chef zu gewohnter Stunde im Restaurant. Man hat nichts gegen ihn in der Hand und musste ihn heute Morgen gehen lassen. Ich habe ihm gesagt, dass er seinen Vater ab jetzt Vollzeit an der Schranke vertreten soll. Sie schauen so skeptisch, Viviane.«
»Ich dachte gerade, dass man als Taubstummer Glück hat, dass niemand so richtig weiß, was man wirklich gesagt hat.«
Während der Unterhaltung hatte Viviane sich die Wände angesehen, sie waren voller Post-its, festgepinnten Notizzetteln, Postkarten und Fotos. Besonders ein schon etwas verblasstes Foto erregte ihre Aufmerksamkeit: eine Wasserskiläuferin, kopfüber, die Beine in der Luft. »Sind Sie das, Königin?«
»Ja, das ist ein Backflip, eine meiner Lieblingsfiguren. Aber wollen Sie mit mir über Wasserski reden?«
Die Kommissarin erklärte ihr den Grund ihres Besuchs. Sie zählte die zusätzlichen Umsätze der Kokos und Kikis auf, während Königin nickte und alles zur Kenntnis nahm, wobei ihr Lächeln immer breiter wurde.
»Bravo. Alles dabei. Seien Sie versichert, wir wussten das schon lange, außer in den beiden letzten Fällen, den schwerwiegendsten. Das Business von Schraubenzieher-Koko ist uns erst Anfang des Sommers aufgegangen: Er hat auf einem Basar einen Teil dessen verkauft, was von uns gekauft worden war, und den Erlös in die eigene Tasche gewirtschaftet. Ein anonymer Brief hat ihn auffliegen lassen. Bei Küchen-Koko ist es ähnlich: Er kauft sehr gewöhnliches Fleisch zu höchsten Preisen, die Differenz bekommt er unter der Hand zurück. Hätten die Chéris sich nicht beklagt, hätten wir nichts bemerkt, denn die Spieße, die er den Kokos, Kikis und Heydudas serviert, sind sehr gut. Er bereitet sie mit Metallspießen vor, um sie nicht mit denen für die Chéris zu verwechseln, die er mit Gammelfleisch auf Holzspießen macht und Tag für Tag wieder aufwärmt. Wenn das Fleisch zu minderwertig ist, bringt er es in einem stark gewürzten Eintopf an den Mann. Dann endet es im Müll. Die Chéris stürzen sich auf den Fisch.«
»Warum haben Sie mir das alles nicht erzählt?«
Königin rutschte auf ihrem Stuhl herum. »Es sollte niemand wissen. Ich würde deswegen Unannehmlichkeiten mit dem Hauptsitz bekommen. King und ich wussten von den kleinen Geschäften der Kokos und Kikis. Wir haben sie toleriert, weil sie uns erlaubt haben, die Gehälter zurückzuschrauben, und ein finanzieller Schaden ist dem Clubdorf dadurch auch nicht entstanden. Die Aktionäre waren nicht betroffen. Höchstens von Zecher-Kokos Papagallo. Da er aber tagsüber guten Umsatz macht, haben wir abends beide Augen zugedrückt. Mit den Mauscheleien von Schraubenzieher- und Küchen-Koko hat sich die Sache allerdings verändert. Wir haben viel darüber diskutiert, King und ich. Mein Vorschlag war, beiden zu kündigen und die anderen weitermachen zu lassen. Er befürchtete aber, dass Schraubenzieher- und Küchen-Koko die anderen aus Rache bei der Finanzleitung des Esprit-Clubs anschwärzen könnten. Deshalb entschied King sich dafür, beide bis zum Ende der Saison zu beschäftigen und ihnen genau auf die Finger zu sehen. Danach wollte er sie an einen anderen Ort versetzen lassen.«
»Und die anderen?«
»Die kleinen Profite der anderen sollten ab sofort mit in die Einnahmen einfließen. King hat das allen am 14. Juli angekündigt. Bleibt nur zu wissen, ob er deswegen umgebracht wurde.«
»Was haben Sie jetzt vor?«
»Nach Kings Tod hatte ich angekündigt, dass alle seine Entscheidungen auf Eis gelegt werden. Seither habe ich nichts entschieden, obwohl manches eilig wäre: Gestern Abend habe ich einen seltsamen Brief unter meiner Tür gefunden. Warten Sie, ich hole ihn.«
Viviane nutzte den Moment, sich die Fotos an der Wand genauer anzusehen. Das Wasserski-Foto beschäftigte sie irgendwie, ohne dass sie sagen konnte, weshalb. Königin kam wieder und hielt der Kommissarin ein weißes Blatt hin, auf dem sehr plump ein Galgen mit einer gehängten Frau aufgemalt war. Um jede Verwechslung zu vermeiden, hat der Zeichner noch die Feinheit besessen, ein Accessoire hinzuzufügen: ein paar Ohrringe. Einfache große Kreolen, wie die von Königin. Die Drohung war so einfach und deutlich wie die Zeichnung.
»Das ist freundlich, man warnt mich vor.«
»Wie werden Sie in Anbetracht dessen weiter entscheiden?«
»Ich werde heute zur Siesta-Zeit alle versammeln. Schraubenzieher- und Küchen-Koko werde ich getrennt mitteilen, dass ich sie bis zum Ende der Saison behalte, vorausgesetzt, sie beenden ihre Mauscheleien. Die Kündigung von Clown-Koko mache ich rückgängig, auch das Projekt mit dem medizinischen Versorgungszentrum. Den anderen werde ich sagen, dass ich ein Auge zudrücke, wenn sie kein Aufsehen erregen. Auf diese Weise sollte ich keinen Grund zur Besorgnis haben, oder?«
Viviane wusste nicht, was sie antworten sollte. Sie wusste nicht, warum in diesem Club gemordet wurde. Auch nicht, wie. Oder gar, auf wen man es abgesehen hatte … Sie seufzte, ohne sich zu verraten. »Seien Sie vorsichtig, Königin. Der Lieutenant und ich beschützen Sie, so gut es geht.«
»Mich beschützen. Das ist leicht gesagt. Wie denn? Haben Sie einen Leibwächter? Eine Waffe?«
Viviane senkte den Blick und schwieg. Sie war hier nicht mal Polizistin oder Ermittlerin. Was konnte sie versprechen?
Königin drehte sich zu einem Wandtresor um, aus dem sie ein in einen Lappen eingewickeltes Ding herausholte und auswickelte. Es war ein altehrwürdiger .45-Colt mit einem Schalldämpfer und einer Schachtel Kugeln. »Der hat King gehört. Können Sie den bedienen?«
Viviane lächelte. Die Waffe war nichts gegen ihre Sig Sauer, aber sie kannte sie gut. »Ich werde das Beste daraus machen, wenn es sein muss. Danke.«
Auf dem Weg zu ihrer Lodge fiel der Kommissarin auf, dass nichts schwieriger war, als eine Pistole unter einem Pareo zu verbergen. Sie entschloss sich, sie oben im Schrank zu verstecken. Wenn sie die Pistole brauchte, würde sie sie in ihre Strandtasche legen, die sie über der Schulter trug.
Lieutenant Cruyff holte sie als Mafioso verkleidet ab – Hose, Hemd, Sonnenbrille. Er hielt ihr ein Post-it hin.
»Die Kontaktdaten der Freundin von Gegenwind-Koko.«
»Ich werde im Kommissariat anrufen, damit die sich darum kümmern. Kommen Sie in ein paar Minuten wieder.«
Es war idiotisch, sich hinter dem Kommissariat zu verstecken, wo sie doch nur mit Monot reden wollte. Sie schämte sich ein bisschen, Willy und Augustin als Rivalen zu betrachten. Im Grunde wusste sie nur zu gut, dass sie lediglich in ihrer Fantasie Konkurrenten waren.
Lieutenant Augustin Monot ging sofort ans Telefon. »Stellen Sie sich vor, ich bin allein im Großraumbüro«, sagte er.
In ihren Augen wirkte das wie eine absurde Vertraulichkeit. Er schien alle Zeit der Welt zu haben, aber sie nicht: Willy würde bald zurückkommen. Sie gab Monot rasch die Daten der jungen Frau durch, die er kontaktieren sollte, sowie den Tag und die Zeit des Alibis, das zu überprüfen war. Das Telefonat war fast erledigt, jetzt konnte es losgehen. »Wissen Sie, was ich zurzeit lese, Augustin? Poesien von Apollinaire.« Poesien? Gedichte? Die Chance, dass sie danebengelegen hatte, stand fifty-fifty, und weil das Glück ihr nicht hold war … Sie korrigierte sich schnell. »Alkohol von Apollinaire. Es gefällt mir, das Werk ist sehr abwechslungsreich, voller Aufrichtigkeit und Schmerz …«
»…«
Warum sagte er denn nichts? Er könnte etwas antworten, sie ärgerte sich. Was stand noch im Vorwort? Ach ja: »Die Modernität ist manchmal verstörend, nicht wahr, Monot? Aber mir gefällt die Musik, diese triste Heiterkeit.«
»Ich halte Alkohol nicht für das Beste von Apollinaire«, gab Lieutenant Monot endlich von sich. »Ich mag lieber ›Gedichte an Lou‹. Allerdings weiß ich nicht, ob Ihnen das gefallen würde, die Verse sind manchmal sehr gewagt, fast erotisch.«
Sie errötete, ihr Herz geriet irgendwie ins Stolpern. Durchs Fenster sah sie Willy kommen, er unterhielt sich angeregt mit einem Heyduda, aber das sollte sie nicht stören, im Gegenteil. Es machte die Sache nur lustiger. »Oh, ich bin nur die Unschuld vom Lande. Erotisch, was meinen Sie zum Beispiel damit? Kennen Sie eines auswendig?«
»Commissaire, das ist mir etwas unangenehm, was Sie mich da fragen.«
Viviane schwieg beharrlich, er begriff, dass er keine Wahl hatte.
»Es gibt da eines, das ich einer Freundin oft aufgesagt habe. Ich erinnere mich an ein paar Verse, warten Sie, genau:
Köstlich elastischer Körper ich liebe dich
Vulva die sich wie ein Nussknacker schließt ich liebe dich
Linke Brust so rosa und so reizend ich liebe dich
Rechte Brust so sanft rosig ich liebe dich
Monot holte Luft und schloss beschwingt: »Dann ist da noch was mit champagnerfarbenen Brustwarzen, Po und Schambehaarung, verstehen Sie …«
Viviane bejahte eifrig, sie verstehe. Sie wusste gar nichts, sie sah wie durch einen Schleier, sie sah nur noch Willy, wie er seinen Kopf unschuldig durch die Tür steckte und sie aus der literarischen Feuchtigkeit riss. »Ich muss Schluss machen, Monot, ich werde erwartet. Sehr hübsch, Ihre Poesie. Sobald Sie sich wieder erinnern können, sagen Sie mir das Ende auf.«
Träumend schritt sie vor sich hin. Willy neben ihr schwieg. Er schien zu ahnen, dass man der Kommissarin soeben ein neues, verstörendes Detail geliefert hatte.
Ja, es war eine wichtige Entdeckung, die sie in ihrem Innern wiederkäute. Es hatte einen Dichter gegeben, der vor einem Jahrhundert der Frau, die er liebte, solche Verse geschrieben hatte. Es gab einen Polizeileutnant, der sie seiner Freundin aufgesagt hatte. Und ihr, wieso sagte ihr niemand so etwas?