Kapitel 19
Kurze Zeit später wachte Viviane gut gelaunt auf und sah, dass der Allmächtige ihr eine Nachricht auf der Mailbox hinterlassen hatte, in der er sie schnellstens um Rückruf bat.
Sie erreichte ihn sofort und legte ihm lang und breit dar, wie sie in dem Fall vorangekommen waren. Es folgte ein düsteres Schweigen.
»Samstag treffe ich den Minister bei einer Hetzjagd. Haben Sie auch schon einmal Hirschwild gejagt, Commissaire?«
Die Frage war absurd. Sie beantwortete sie nicht. Außerdem wusste sie nicht einmal genau, was eine Hetzjagd war. Sie ahnte, dass der Allmächtige sie mit Geringschätzung strafen würde, würde sie nachfragen.
»Nein? Schade, denn dann würden Sie verstehen, was ich ihm erzählen werde, wenn er nach Neuigkeiten in dieser Sache fragt. Ich werde ihm antworten, dass Sie jagen, wie eine Bracke. Verstehen Sie, was ich damit meine?«
Natürlich war es weiterhin angebracht zu schweigen, und sich auf die Schläge vorzubereiten.
»Bracken, Commissaire, sind brave Hunde. Sie jagen dem Wild begeistert und mutig hinterher. Dumm ist nur, dass sie sich schnell ablenken lassen: Erst sind sie hinter einem Zehnender her, aber wenn ihnen ein Hase über den Weg läuft, folgen sie seiner Fährte. Sie sind wie eine Bracke. Wer hat Ihnen den Befehl gegeben, sich mit dem Mord am türkischen Gärtner zu befassen? Und wenn Sie schon dabei sind, dann suchen Sie doch auch gleich noch den Mörder seiner Katze! Eine libanesische Dorfchefin hat auf griechischem Boden einen türkischen Gärtner ermordet. Na und? Was geht das die französische Polizei an? Warum sollten wir diese Frau in Paris befragen? Was juckt uns denn diese Verdächtige?«
Der Allmächtige hielt jäh inne. Viviane merkte, dass er angesichts des Konjunktivs ein wenig zerknittert wirkte. Er hatte einerseits seine Zugehörigkeit zum Volk markieren wollen, andererseits beherrschte er den Konjunktiv nicht wirklich. Er versuchte es also mit anderen Ausdrücken.
»Hören Sie, Commissaire, was wollen Sie, dass wir mit ihr täten?«
»Und ich, was soll ich machen? Sie der lokalen Polizei ausliefern?«
»Bloß nicht, Sie Unglückliche. Sie würden dem Eigentümer nur den erträumten Vorwand liefern, den Vertrag zu kündigen. Sie denken, der Verdächtige ist der Liebhaber? Dann finden Sie ihn! Das kann ja nicht so schwer sein, auf einem geschlossenen Gelände. Spüren Sie der Frau nach wie eine gute Bracke, schlafen Sie vor ihrer Tür oder unter ihrem Bett, und bellen Sie, wenn Sie den Mörder haben.«
Wieder Schweigen, dann wechselte der Allmächtige den Ton. Jetzt machte er einen auf freundlich. Viviane blieb auf der Hut. Für gewöhnlich war das eher ein Zeichen zum Angriff.
»Womöglich wird Ihr Lieutenant Cruyff der Sache nicht gerecht? Würde es Ihnen gefallen, wenn ich Ihnen Monot schicke?«
Natürlich würde ihr das gefallen. Sie stellte sich schon vor, wie er sich in den Fall einbringen würde, als ruhmreicher Erzengel. In den Fall, und in sie. Die Versuchung war groß, aber das konnte sie Willy nicht antun. Eine so schöne Berufung durfte nicht zerstört werden. »Nicht nötig, Herr Direktor. Der Lieutenant erfüllt alles … zu meiner vollsten Zufriedenheit. In wenigen Tagen wird die Sache aufgeklärt sein.«
»Drei, Commissaire! Ich gebe Ihnen drei Tage. Sie haben schon sechs Tage Gratisurlaub bekommen, das reicht langsam.«
Nachdem er aufgelegt hatte, ließ sich Viviane auf ihr Bett fallen: Der Allmächtige hatte recht. Es reichte langsam.
»Würde es Ihnen gefallen, wenn ich Monot schicke?« Diese Frage schwirrte ihr noch den ganzen Vormittag im Kopf herum. Vielleicht war es falsch gewesen abzulehnen. So langsam freundete sie sich mit ihrem Willy an, aber wozu war er eigentlich gut? Besonders gut konnte er nur unwichtiges Zeug: Salsa mit der erstbesten Schlampe tanzen, oder versuchen mit einem Sprungstab auf Mauern zu klettern.
Um ihm trotzdem eine Chance zu geben, ging Viviane zu ihm und erklärte ihm, dass sie auf ihn zähle. »Wir haben nur drei Tage, um den Fall zu lösen. Sie sind mein bester Trumpf, tun Sie, was Ihnen gefällt.«
»Ich werde versuchen zu verstehen, wie der Mann mit den roten Sportschuhen vom Berg gekommen ist, sagt Ihnen das zu?«
Sie gab ihm ihren Segen und schaute ihm nach, als er sich in Richtung einer Gruppe Heydudas auf den Weg machte. Zwanzig Minuten später tauchte er wieder auf, in der Hand eine kleine Plastiktüte.
»Das hat mir der Sport-Heyduda geliehen. Sehen Sie, das ist ein Bergsteigerseil. Ich habe dreißig Meter davon, es wiegt nicht mehr als ein Kilo und nimmt nicht mehr Platz weg als ein Buch.«
»Das ist sehr hübsch, Willy, aber was wollen Sie damit machen?«
»Den Felsen runterklettern. Ich habe überlegt, dass das der einzige Weg gewesen sein kann, auf dem Mister Rotschuh das Belvedere verlassen hat.«
»Kommt gar nicht infrage, Sie werden sich den Hals brechen. Was wissen Sie schon vom Bergsteigen?«
»Nichts, aber Mister Rotschuh auch nicht. Ich habe mich erkundigt. Niemand von den Kokos ist Bergsteiger. Machen Sie sich keine Sorgen, ich mache das an der Orientierungstafel fest und seile mich dann ab, der Sport-Heyduda wird mir helfen.«
Niedergeschmettert sah sie ihn vor sich hin pfeifend losziehen. Sie versuchte zu lesen, aber Apollinaire konnte ihr schlechtes Gefühl nicht vertreiben. Viviane wusste, dass sie Willy eben wie eine Mutter hinterhergesehen hatte. Sie wusste auch, dass jeder normale Mann seine Mutter eines Tages verlässt.
Eine Stunde später war er wieder da. Seine Hände bluteten, und die Farbe war eins mit dem Geschenk, das er der Kommissarin brachte: ein paar rote Sportschuhe.
»Jeder kann den Felsen beklettern, ich habe es schließlich auch geschafft. Aber freuen Sie sich nicht zu früh, noch ist nichts geklärt.« Er legte Viviane die Sportschuhe auf die Knie. »Die habe ich unten gefunden, im Geröll. Schauen Sie mal – was denken Sie?«
Dieser belehrende Tonfall war äußerst nervend. Sie wollte ihn schon zurechtweisen, hielt sich aber zurück. Er hatte gute Arbeit geleistet, Monot hätte das nicht besser gekonnt. Sie musterte die Schuhe, als würde sie sie selbst kaufen wollen. Das Leder war abgewetzt, aber die Nähte einwandfrei. Die Sohlen wiesen keine Gebrauchsspuren auf.
»Wie neu.«
»Nein, die sind neu, Viviane. Keiner hat sie je getragen, weder um einen steinigen Pfad zu gehen, noch um sich an einer Felswand abzuseilen. Können Sie sich einen Kerl vorstellen, der beknackt genug wäre, barfuß zu gehen und sich dabei zu verletzen, nur um seine neuen Schuhe nicht zu beschädigen? Ein Typ, der so an seinen Sportschuhen hängt und sie trotzdem von oben ins Meer geworfen hätte, ja, geworfen, nur eben nicht weit genug? Geworfen, nicht hingestellt, nicht vergessen: Sie lagen mehrere Meter entfernt voneinander. Eine verrückte Geschichte, oder ein übergeschnappter Kerl.«
Die Kommissarin hörte ihm belustigt zu. Ihr Lieutenant lernte schnell, er hatte sogar gelernt, so zu sprechen wie sie. Aber er hatte seinen Gedanken noch nicht ganz bis zu Ende gedacht. »Ja, sicher ist der Typ übergeschnappt. So übergeschnappt, dass es ihn gar nicht geben kann.«
Alles war so einfach, so dämlich! Die Puzzleteile rotierten wieder. Es genügte, das unpassende Teil herauszunehmen, das mit den roten Sportschuhen, dann fügte sich der Rest wieder zusammen.
»Es ist eine sehr weibliche Geschichte, Willy. Königin wollte sich einfach an King rächen. Sie ist alleine dorthin gegangen, um sich auf dem Belvedere zu exponieren, mit diesem Paar Schuhe, das sie unübersehbar präsentiert hat. Sie hat den Liegestuhl des imaginären Liebhabers in die Büsche gerückt und ihren eigenen verschoben. Sie wusste, dass Animateur-Koko den Scheinwerfer anbringen würde. Sie wusste, wie ergeben er King war, und dass er seinen Chef auf den Mast steigen lassen würde, damit er selbst einen Blick auf sein Unglück werfen konnte. Durch ihre Sonnenbrille hatte sie gesehen, dass King sie gesehen hatte. Also hat sie sich wieder angezogen, die roten Sportschuhe so weit weggeworfen, wie es ihr möglich war, und ist zu ihm zurückgegangen. Die gute alte Geschichte von der Ehefrau, die ihren Gatten glauben lassen will, sie habe einen Geliebten, um seine Eifersucht anzustacheln. Wir waren auf der falschen Fährte, wir müssen woanders suchen.«
»Und der Männerarm, den Animateur-Koko auf ihrer Brust gesehen haben will?«
»Ein braunes Tuch zum Schutz vor der Sonne, eine Illusion. Wir beginnen wieder bei null, Willy.«
Der Lieutenant schwieg. Traurig sah er sein Seil an, seine roten Sportschuhe. Die Kommissarin hatte ihm seinen Triumph vermasselt. Es war Mittag, das Restaurant öffnete gerade. Viviane ging fröhlich dorthin, während Willy noch sein Seil ins Lager räumte.
Der unersetzliche Fredo besetzte für sich allein einen Zweiertisch. Als er Viviane sah, röhrte er ihren Namen. Alle drehten sich um, manche lachten. Ein derart hartnäckiger Verehrer verdiente ein wenig Aufmerksamkeit: Sie setzte sich an seinen Tisch.
Fredo gestand ihr, dass seine Ferien nun bald vorbei seien. Sie fühlte seine Furcht, er könnte die Sache vor seiner Abreise nicht zu einem Abschluss bringen, gleichzeitig fiel es ihm schwer, sich auszudrücken. Er erzählte ihr von Urlaubsmitbringseln, die er am Tag zuvor in Lindos für seine Kollegen im Briefverteilungszentrum gekauft hatte. Er sei sich nicht sicher, das Richtige ausgesucht zu haben, ob sie nicht mitkommen wolle in seine Lodge, um alles anzusehen? Sein Mitbewohner habe gerade heute Morgen den Flieger genommen. Sie würden niemanden stören, und niemand würde sie stören. Viviane sagte nicht Ja und nicht Nein, sie fragte nach Details. Ein T-Shirt, auf dem kleine Esel aufgedruckt waren, was für eine schöne Idee! Und was machten die Esel? Oh, diese Schlingel! Eine Amphore, bemalt mit einem priapischen Satyr, haha, wie komisch! Fredo kam in Fahrt, wurde rot im Gesicht, der Fisch hatte angebissen.
Genau wie Königin mochte es Viviane, Männer eifersüchtig zu machen. Sie beobachtete Willys Reaktion zwei Tische weiter und war belustigt. Er war zum Buffet an ihnen vorbeigegangen, ohne sie anzusehen, den Blick auf den Boden geheftet. Jetzt musterte er Fredo nachdenklich, aufmerksam. Die Situation wurde heikel. Viviane hatte ihren Schafmilchjoghurt aufgegessen, Fredo hatte sich elegant den Mund abgewischt, auf dem der Honig seiner Loukoumades klebte. Er erhob sich und fragte: »Nun, zeige ich Ihnen das?«
Sie lächelte ihm zu, stand auf und folgte ihm. Sie wollte ihn so spät wie möglich aufhalten, sodass Zeit genug war, ihren kleinen Lieutenant wahnsinnig zu machen. Dieser war ebenfalls aufgestanden und ging strammen Schrittes auf Fredo zu. Er würde ihn doch nicht zum Duell herausfordern?
Willy legte dem Don Juan nur die Hand auf die Schulter und fragte ihn inquisitorisch, auf die orangen Sportschuhe zeigend: »Wo haben Sie die gekauft?«
»In Lindos, in einer türkischen Boutique, die so was in allen Marken und Farben hat.«
»Gab es dieses Modell auch in Rot?«
»Keine Ahnung, aber gehen Sie selbst hin: Vom Platz aus müssen Sie in die erste rechts, dann links, dann ist es direkt hinter der Kurve.«
»Kommen Sie, Viviane«, rief Willy.
Erstmals hatte er ihr einen Befehl erteilt. So kam es, dass Lieutenant Cruyff seine Kommissarin vor den Verlockungen des Fleisches bewahrte.
Die Kommissarin saß wortlos im Taxi. Sie ärgerte sich, dass sie die Ähnlichkeit zwischen den roten Sportschuhen und denen ihres Verführers nicht bemerkt hatte. Selbes Logo, selbe Aufmachung. Cruyff schwieg ebenfalls. Er strahlte eine seltsame Entschlossenheit aus.
»Sie sind ein guter Bulle, Willy«, sagte sie, um die Stimmung aufzulockern. »Sie überprüfen alles, selbst wenn es zu nichts führt.«
»Ich bin nur ein schlechter Verlierer. Ich habe mir ziemlich viel Mühe gemacht, die Schuhe zu finden, jetzt sollen sie gefälligst auch etwas nützen.«
Der Inhaber der Boutique war ein betagter Händler. Er saß auf einem Holzstuhl, döste und wedelte mit einem Fächer. Es standen nicht viele Schuhe in den Regalen. Der Mann betrachtete erstaunt die Schuhe, die Willy ihm vor die Nase hielt. Sein Englisch war sehr schlecht, das des Lieutenant auch nicht besser. Sie kommunizierten dementsprechend mühelos miteinander.
»Haben Sie die verkauft?«
»Ja, und ich bin der Einzige auf der ganzen Insel. Ich lasse sie aus Izmir kommen. Aber die roten habe ich nicht mehr. Ich habe andere, in anderen Farben. Sie stehen dort oben.« Er zeigte auf Türme von Schachteln auf den Schränken. Viviane hob den Kopf und setzte ein eigenartiges Lächeln auf: Ihr waren sie natürlich nicht aufgefallen.
»Danke, aber mich interessieren nur die roten.«
»Tut mir leid, ich habe vor rund zehn Tagen das letzte Paar verkauft.« Der alte Mann sah ins Innere des Schuhs und ergänzte: »Das war dieselbe Größe, 46. Ich hatte sie herabgesetzt, weil so große Größen sich schlecht verkaufen. Vielleicht waren es sogar genau diese.«
»Haben Sie die an eine junge Frau verkauft?«, fragte Willy.
»Nein, an einen französischen Herrn. Ich habe ihn noch darauf aufmerksam gemacht, dass sie ihm zu groß sein müssten, aber er hat sie gekauft, ohne sie anzuprobieren.«
Viviane sah zu ihrem Lieutenant: Er frohlockte. Sie sah, wie er sich verwandelte, Bulle wurde. Es war schön anzusehen, viel schöner als sämtliche Zehnkampfdisziplinen. Er hatte seine kleine Fuji aus der Tasche geholt und zeigte dem Händler die Fotos, die er seit seiner Ankunft gemacht hatte. Gewöhnliche Gruppenfotos, Fotos am Tisch, von Aufführungen, Portraits von Kokos und Kikis.
»Stopp, der war’s, der mit den roten Haaren.«
Willy reichte Viviane den Apparat. Animateur-Koko in seiner ganzen schändlichen Pracht, im weißen Kostüm, mit Mikro in der Hand.
»Der Dreckskerl, er hat uns an der Nase herumgeführt«, fauchte Viviane. »Kommen Sie, Willy, ich lade Sie auf einen Kaffee im Captain’s House ein.«
Sie hatten am selben Tisch Platz genommen wie letztes Mal, es war immer noch angenehm frisch, es herrschte dieselbe Stimmung, es waren fast dieselben Touristen da, aber alles war anders. Letztes Mal dachten sie noch, sie verstünden etwas, heute verstanden sie gar nichts mehr. Ihre Mutmaßungen gingen in alle Richtungen, das Puzzle war wieder durcheinandergeraten.
»Animateur-Koko hat die Sportschuhe für Königin gekauft, sie stecken also unter einer Decke«, fasste Viviane zusammen. »Und wenn er auch der Liebhaber wäre?«
»Das kann ich mir kaum vorstellen, Kommissarin. Alle Welt weiß, dass die sich hassen. Und ganz ehrlich«, sagte er mit skeptischem Gesichtsausdruck, »der als Verführer …«
Viviane bestellte ein Glas Wasser. Sie hatte keinen Durst, es war nur, um sich besser zu konzentrieren: Sie trank langsam, ganz langsam. »Können Sie sich an diese furchtbare Aufführung der Volkstänze erinnern? Dieses Pärchen, das sich vor den Musikern stritt und hinter ihnen herumknutschte?«
Willy nickte leicht mit dem Kopf, er verstand.
Viviane erklärte weiter, noch ohne zu wissen, wohin sie das führen sollte: »Nehmen wir einmal an, Königin und Animateur-Koko haben ein Verhältnis. Dann wird alles ganz einfach: Der eine bestätigt das Alibi des anderen. Animateur-Koko kann King ganz in Ruhe ermordet und versteckt haben, bevor der Bulle hereinkam und bevor sie ins Amphitheater zurückkehrten, und ich glaube auch zu wissen, wie. Ihr Kommen und Gehen passt nicht mehr zusammen, das Spiel ist vorbei.«
»Und was ist mit dem Henker?«
»Der ist sehr wichtig, der Henker, aber ich weiß nicht recht, was ich mit ihm anfangen soll. Er hat seinen Platz im Puzzle noch nicht gefunden.« Sie schloss die Augen, legte den Kopf in die Hände. Es sollte nicht theatralisch wirken, sie musste in ihre Erinnerungen abtauchen, eine Szene wachrufen, ihre Umstände. »Gehen wir, Willy?«
Auf dem Weg machte sie Halt in einer Buchhandlung und blätterte in einem Französisch-Griechischen Wörterbuch, dann in einem Griechisch-Türkischen. Sie schrieb sich ein Wort in Lautschrift auf. Willy hatte vor der Tür auf sie gewartet.
Als sie aus dem Laden trat, rief sie ihm zu: »Ich habe ein Wort gesucht und gefunden. Kukuleta, hübsch, nicht? Kukuleta, haben Sie das Wort schon einmal gehört? Nein? Ich auch nicht, stellen Sie sich vor. Obwohl das ein auffälliges Wort ist, eines, das man sich merkt, Kukuleta.« Der ratlose Blick von Cruyff machte sie glücklich. Sie verwandelte sich gerade wieder in Kommissarin Lancier, die Kriminalfälle löst.
Zehn Minuten später setzte das Taxi sie am Eingang zum Clubdorf ab. Willy stellte keine Fragen mehr, er folgte Viviane nur bewundernd. Er erlebte gerade live die Lösung eines Falles mit.
Sie stieg die Stufen zum Amphitheater hinauf und öffnete das Tor. »Lassen Sie uns oben bleiben, Willy. Sind Sie sicher, alle Verstecke durchsucht zu haben? Sehen Sie mal da, vor sich.«
»Die Bühne, Commissaire? Aber die habe ich durchsucht, darüber, dahinter und darunter.«
»Nein, Sie sehen zu weit nach unten. Ich habe gesagt vor ihnen. Ich werde Ihnen helfen, Sie waren dort schon, ich noch nicht.«
»Da sind nur der Mast und das Rad, das … oh, Scheiße!«
»Ja, Willy. Wenn man etwas sucht, denkt man selten daran, in die Luft zu gucken. Wie im Schuhladen. Oder, wie Sie neulich auf der Akropolis so schön sagten: ›Von unten sieht man nichts.‹«
Beide starrten auf das Ende des Lichtmasts, aus dem schließlich ein Klettermast geworden war. Auf dem Rad reihten sich die Scheinwerfer aneinander. Einige waren in Plane eingewickelt, andere nicht. Manche Planen waren umgeschlagen und wurden von Gummispannern gehalten.
»Ein schönes Chaos. Da war King geparkt, als Brigadier Vermeulen, Clown-Koko, Animateur-Koko und Königin ihn suchten. Animateur-Koko und Königin taten nur so, als würden sie suchen. King war dick, aber nicht dicker als zwei oder drei Scheinwerfer.«
»Sie haben ihn versteckt, okay. Aber wie haben sie ihn da hochbekommen?«
»Er ist alleine hochgeklettert, lebend. Er muss oben getötet worden sein. Das ist die einzige Erklärung. Kein Mörder hätte ihn da hinaufziehen können.«
»Gut, nehmen wir an, er wurde oben getötet und unter einer Plane versteckt. Und dann, wie hat man die Leiche aufgehängt? Das kostet Zeit. Wenn ich Ihnen folge, gibt es nur zwei Lösungen: Entweder die Leiche wurde vom Henker aufgehängt, um kurz nach 18 Uhr, oder sie wurde von Animateur-Koko um 20.30 Uhr aufgehängt, als der auf einen Sprung ins Amphitheater kam, während Spritzen-Kiki unten auf ihn wartete. Die zweite Lösung können wir ausprobieren. Animateur-Koko war nur ein Lied lang hier, erinnern Sie sich?« Willy lehnte die Leiter gegen den Mast, holte die Strohpuppe unter der Bühne hervor, zog sie hoch und positionierte sie nicht ohne Schwierigkeiten oben auf dem Rad. Er legte ihr das Seil um den Hals, knotete das andere Ende ans Rad, kletterte wieder hinab und stellte die Leiter wieder weg. »Wir werden die Szene nachstellen, vielleicht sogar mit Musik.« Er betrat das Regiehäuschen und wühlte in der Kiste mit den CDs. »Hier, die Musik von ›Alexis Sorbas‹. Alles andere hätte mich in einem Ferienclub auf Rhodos auch gewundert. Gut, ich gehe zurück in die zona privada, an den Fuß der Treppe, und Sie schmeißen die Musik an und geben mir damit das Startzeichen. Drehen Sie ganz laut auf. Ich warte ein paar Takte ab, um dann loszugehen, wie Animateur-Koko.«
Viviane lächelte: Er wurde gerade zu einem richtigen Bullen, blieb aber wie ein kleines Kind. Das war sehr charmant. Er ging, sie ließ die Musik anlaufen und setzte sich ganz nach oben ins Amphitheater, um die Übung zu verfolgen.
Willy war schon dabei das Tor zu öffnen und die Stufen hinabzurennen. Er zog die Leiter aus, fixierte sie und lehnte sie gegen den Mast. Der Busuki-Rhythmus wurde schneller. Er kletterte auf das Rad, befreite die Puppe von der Plane und ließ sie fallen, kletterte wieder hinunter, klappte die Leiter wieder ein, räumte sie weg, raste die Stufen wieder hinauf, als würde er hundertzehn Meter Hürden laufen, schloss das Tor.
Gerade startete der finale Teil des Sirtaki, der Rhythmus war wie entfesselt, und Willy auch. Mit einem großen Sprung warf er sich auf die letzte Stufe.
»Da bin ich!«
Alexis Sorbas hatte drei Minuten und zweiundvierzig Sekunden gedauert. Die letzte Note war vor zehn Sekunden verklungen. Nicht geschafft.
»Sehen Sie, Viviane? Ich bin um einiges sportlicher als Animateur-Koko, King war doppelt so schwer wie die Puppe, trotzdem habe ich es nicht geschafft. Was am meisten Zeit gekostet hat, war, die Leiter aufzustellen. Als Verdächtiger bleibt demnach nur der Henker.«
Willy schwitzte leicht, er war außer Atem, er triumphierte; er war schön anzusehen.
Viviane konterte: »Nein, der kann es nicht gewesen sein. Kukuleta, sage ich nur, Kukuleta, und fragen Sie jetzt nicht nach, Willy. Der Henker zählt nicht, es muss Animateur-Koko gewesen sein, selbst wenn ich nach Ihrer Darstellung gar nicht mehr weiß, wie er es angestellt haben soll. Kommen Sie, wir werden einen wichtigen Zeugen aufsuchen.«
Die Kommissarin nahm ihn mit zum Strand, zum Segelclub.
»Wo ist Gegenwind-Koko?«, fragte sie einen Heyduda, der gerade dabei war, die Saling an einer Jolle zu reparieren.
»Der ist aufs Meer gefahren. Er wird in einer Viertelstunde wieder da sein. Kommen Sie rein, setzen Sie sich.«
Sie betraten den Segel-Bungalow, in dem das Material lag. Der Raum roch nach nasser Wäsche, die niemals trocken wurde, nach Katzenurin und etwas Lieblichem, das Viviane belustigt zur Kenntnis nahm. Willy setzte sich auf einen Segelsack, die Kommissarin blieb stehen. Eine große Tafel, auf der verschiedene Knoten dargestellt waren, hatte ihre Aufmerksamkeit erregt. Besonders einen betrachtete sie eingehend und las die dazugehörige Legende. »Dieser ›Anbindeknoten‹ ist ja toll«, sagte sie zum Heyduda.
»Ja, der ist einfach zu machen und sehr praktisch. Wenn man an dem einen Ende zieht, wird er fester, wenn man mit einem Ruck an dem anderen zieht, löst er sich.«
Die hochgeschossene Silhouette von Gegenwind-Koko tauchte im Türrahmen auf, gegen das Licht. »Warten Sie auf mich? Da haben Sie Glück, der Motor vom Dingi hat wieder gestreikt, ich dachte schon, der erholt sich nicht mehr. Was möchte Sie wissen, Commissaire?«
»Ich frage mich, ob Königin wieder mit dem Wasserskifahren angefangen hat, jetzt wo King nicht mehr da ist, um es ihr zu verbieten.«
Gegenwind-Koko rieb sich das Kinn: Er tat, als würde er nachdenken. Es war lächerlich, er wusste die Antwort. »In der Tat, nein. Man muss das verstehen, mit allem, was sie um die Ohren hat. Sicher wird sie bald wieder damit anfangen.«
»Mal sehen …«, entgegnete Viviane. Beim Rausgehen hob sie ein beflecktes Papiertaschentuch auf, betrachtete es, roch daran und drehte sich fragend zu Gegenwind-Koko. »Das spielt sich also hier ab, ja?« Dann ging sie, ohne die Antwort abzuwarten. Der verwirrte Blick des Kokos war ihr Antwort genug.
Sie ging mit Willy zur Bar und schlug ihm einen Cocktail vor, einen echten, nur ohne Alkohol. Sie schlug vor, ihn etwas weiter weg, im Schatten eines Storaxbaums, zu trinken. Die Luft war mild, der Wind frisch. Ideale Wetterbedingungen für einen Triumph. »Die Partie ist aus, Willy, ich habe alle Karten in der Hand. Und jetzt gehe ich einen Mann glücklich machen.«
»Fredo?«
»Was reden Sie da! Ich spreche vom Allmächtigen.«