10

Sean holte mich um halb fünf am Anleger der Fähre in Hingham ab. Auf seinem Schoß hockte ein winziger Yorkshireterrier, der den Kopf zum Fenster herausstreckte.

»Der ist ja niedlich«, bemerkte ich, als ich die Tür öffnete. »Gehört er Ihnen?« Ich sank auf Seans ledernen Autositz. Er fuhr einen alten Mustang, dreitürig, ein schnittiger schwarzer Wagen, ein Auto für echte Kerle.

»Die ganzen drei Pfund.«

»Ich hätte Sie eigentlich nicht für den Schoßhündchen-Typ gehalten.«

»Die Rasse konnte ich mir leider nicht aussuchen«, erwiderte er und rollte mit den Augen. »Den Namen allerdings schon. Darf ich vorstellen: Thoreau.« Der Hund hopste zu mir herüber und tänzelte auf meinem Schoß herum.

»Wie bei Henry David?«, fragte ich. Ich kannte diesen Mann doch kaum, und trotzdem ging mir bei ihm das Herz auf.

»Kennen Sie noch einen anderen?«

»Wie literarisch von Ihnen.« Ich kraulte den Welpen hinterm Ohr. Sein Fell war weich und glänzte. Unter den spitzen Ponyfransen sahen dunkle Äuglein zu mir auf. Eine kleine rosafarbene Zunge hing ihm aus dem Mundwinkel, und er hechelte ein wenig.

Sean drehte auf dem Parkplatz und fuhr zurück auf die 3A. »Ich hab damals meinen Abschluss in Anglistik gemacht.«

»Oh«, hauchte ich und verfiel ihm nur noch mehr.

In zwei Stunden sollte ich eigentlich Butch zum Abendessen im Hingham Bay Club treffen. Ich musste Sean einfach nur bitten, mich dort abzusetzen, wenn wir fertig waren. Raphael hatte es irgendwie geschafft, mein Auto vom Bahnhof in Cohasset hierherzubringen – womöglich hatte Maggie ja Recht, vielleicht hatte er wirklich Superkräfte. Ich war jedenfalls froh – wenn mein Date mit Butch unerträglich werden sollte, konnte ich wenigstens problemlos flüchten.

Leider musste ich deshalb auch mit meinen Date-Klamotten in den Great Esker Park. Ich hatte mich im Büro noch schnell umgezogen, war in mein Wickelkleid und Stöckelschuhe geschlüpft. Nicht gerade das perfekte Outfit, um eine Leiche auszubuddeln, aber welcher Look passte da schon?

Und als ob das noch nicht genug wäre, hatte Preston Bailey, die neugierige Reporterin, vor dem Gebäude herumgelungert und Fotos von mir gemacht. Sie hatte so einen wissenden Gesichtsausdruck aufgesetzt und damit meine Sorge verdoppelt, dass sie meine Unterhaltung mit Raphael belauscht haben könnte.

Der Gedanke an den Artikel, den sie vermutlich schreiben würde, versetzte mich in Angst und Schrecken.

»Haben Sie auch Haustiere?«, fragte Sean.

»Einen dreibeinigen Kater und einen einäugigen Hamster.«

Er zog die Augenbrauen hoch.

»Fragen Sie lieber nicht.«

»Und die heißen?«

Ich zögerte.

»Was denn? Sind ihre Namen denn so schrecklich? Vielleicht Fluffy und Muffy?«

Ich hatte Marisol ja gesagt, wie furchtbar Fluffy war.

»Nein. Mein Kater heißt Grendel. Und der Hamster Odysseus.«

Er drehte den Kopf und sah mich an. »Im Ernst?«

»Ich habe auch mal einen Abschluss in Anglistik gemacht.«

In seinen Augen blitzte so etwas wie Anerkennung auf. »Und jetzt sind Sie Heiratsvermittlerin.«

»Zumindest für ein paar Wochen. Bis sich mein Vater wieder erholt hat.«

»Und was haben Sie davor so gemacht?«

Seit der Zeitumstellung am letzten Wochenende wurde es abends früh finster. Einzelne Wolken verdunkelten die untergehende Sonne. »So dies und das«, antwortete ich ausweichend. Ich hoffte verzweifelt, dass er das Thema wechseln würde. Er musste ja nicht unbedingt wissen, dass ich ein Hansdampf in allen Gassen war, aber nichts wirklich gut konnte. »Und Sie waren Feuerwehrmann?«

»Ja.«

»Wie lange?«

»Neun Jahre. Ich habe direkt nach dem College angefangen.«

»Suz hat erzählt, dass Sie verletzt wurden.«

»So etwas in der Art«, entgegnete er vage.

Offensichtlich wollte er nicht darüber reden, also ließ ich das Thema fallen. Meinen Anweisungen folgend fuhr er auf der 3A in Richtung Norden zum Great Esker Park. Thoreau drehte sich zweimal um seine eigene Achse und machte es sich dann auf meinem Schoß bequem.

Das kleine Fellknäuel war bezaubernd, aber nicht ganz der Typ Hund, an den ich eigentlich gedacht hatte. Einem großen Bluthund würde man eher abkaufen, dass er eine schon seit Langem verscharrte Tote wieder ausbuddelte, aber der Welpe musste jetzt eben reichen.

»Wohin geht es denn?«

»Zum Great Esker Park in North Weymouth.«

»Nie gehört.«

»Den kennen vor allem die Leute aus der Gegend«, erklärte ich. »Es ist gar nicht so einfach, ihn zu finden.«

»Aber Sie sind doch gar nicht von hier – woher wissen Sie denn davon?«

Ich sah aus dem Fenster, während wir die Hingham Bay Bridge überquerten. Boote schaukelten auf dem Wasser. Auf der schmalen Halbinsel zeichneten sich beim Webb Park die Gebäude des Weymouthport-Komplexes ab, der im diesigen Abendlicht irgendwie unheimlich wirkte. »Ich habe eben davon gehört.« Auf übernatürlichem Wege, aber das behielt ich lieber für mich.

»Sie haben sich für den Ausflug in den Park ja ganz schön in Schale geworfen.«

»Fragen Sie lieber nicht«, seufzte ich. Über Dovies Kuppelversuche wollte ich jetzt nicht sprechen. Eigentlich hätte ich das Date einfach absagen sollen, aber ich wollte mich so normal wie möglich verhalten. Als ob wir nicht kurz davor stünden, ein Mordopfer auszugraben.

»Der Glückliche«, bemerkte Sean mit einem Seitenblick auf mich.

Ich rutschte auf dem Sitz hin und her und kraulte Thoreau hinter den Ohren. »Woher wissen Sie denn, dass ich mit einem Mann verabredet bin?«

Er zwinkerte mir zu. »Fragen Sie nicht.«

Gut gekontert.

»Biegen Sie an der nächsten Ampel links ab. Die Kurve ist etwas seltsam – Sie müssen sich rechts einordnen.«

»Um links abzubiegen?«

»Wir sind in Massachusetts«, erwiderte ich. »Die Straßenführung ergibt hier generell keinen Sinn.«

»Da haben Sie allerdings Recht.«

Draußen ging eine steife Brise – die amerikanische Flagge an der Vietnam-Gedenkstätte flatterte so heftig im Wind, dass ich das Geräusch sogar im Inneren des Wagens hören konnte.

»Werden Sie mir jetzt erzählen, was wir hier machen?«, fragte Sean und sah zu mir rüber.

Einen Moment lang war ich froh, dass ich mir Zeit für Haarstyling und Make-up genommen hatte. Aber dann fiel mir wieder ein, dass ich ja lieber nicht versuchen sollte, auf diesen Mann Eindruck zu machen.

»Sie vertrauen mir doch, wissen Sie noch?« Ich wollte ihn nicht erschrecken, wenn ich gleich mit der Tür ins Haus fiel.

»So langsam zweifele ich aber an meinem Bauchgefühl.«

Was gar nicht dumm war.

Kurz darauf erklärte er: »Ich habe heute noch einmal Melissa Antonelli angerufen.«

Ich versuchte, mich daran zu erinnern, woher ich den Namen kannte, und dann fiel es mir wieder ein. Jennifer Thompsons ältere Schwester. »Und?«

»Keine Chance. Sie wollte auch nicht mit mir reden. Haben Sie irgendeine Ahnung, warum?«

Ich schüttelte den Kopf, obwohl ich sogar zwei ziemlich gute Ahnungen hatte. Elena und Rachel. »Biegen Sie hier links ab«, wies ich ihn an. »Der Park ist dahinten, wo die Straße aufhört.«

Am Ende dieser Straße in einem Arbeiterviertel verschlossen zwei Metalltore den Eingang zum Park. Wir parkten vor den Toren, und um uns herum wurde sofort alles dunkel, als Sean die Scheinwerfer ausschaltete. Neben dem Parkplatz gab es ein Natur-Infocenter, einen Picknickplatz und ein Basketballspielfeld, auf dem die Umrisse der Körbe über den Park wachten. Dahinter lag ein Baseballplatz unheimlich und verlassen da. Straßenlaternen standen hier keine.

Der Wind rauschte in den Bäumen, die nahe dem Parkplatz standen.

»Das ist hier ja ganz schön finster«, bemerkte Sean.

Ich erschauderte. Ich war so froh, dass er mitgekommen war, ansonsten hätte ich es jetzt wohl nicht fertiggebracht, aus dem Wagen zu steigen. »Ja.«

Sean nahm Thoreau an die Leine und sah mich an. »Soll ich die Schaufel gleich mitnehmen?«

»Nein, nur die Taschenlampen. Es wird ganz schön schnell dunkel.« Der kalte Wind tat an den Ohren weh. Ich schlug den Kragen meines Trenchcoats hoch. Sean starrte mich an.

»Was denn?«, fragte ich.

»Sie sehen … wunderschön aus.«

Es überkam mich siedend heiß, und nachdem ich mich wieder gefangen hatte, blieb ein angenehmes Kribbeln zurück. »Äh, danke.«

Wir gingen über den leeren Parkplatz und betraten dann den gepflasterten Fußweg, der zum Wald führte. Thoreau stürmte voraus, zog an seiner Leine und schnüffelte und markierte nach Herzenslust.

Ich trat nach einem Stein. »Darf ich Sie mal was fragen?«

»Sicher.«

»Wer ist eigentlich Cara?«

Er blieb stehen. »Woher wissen Sie denn …« Er unterbrach sich selbst. »Das Telefonat gestern in meinem Büro?«

Ich nickte. Und wartete.

»Sie ist meine …«

Los jetzt, bringen wir es hinter uns. »Was?«

»Exverlobte.«

»Die Unterhaltung gestern Abend klang aber gar nicht ex-mäßig. Für jemanden einkaufen zu gehen zeugt schon von einer gewissen Vertrautheit.«

Er starrte mich an, seine grauen Augen und dunklen Wimpern verzauberten mich. »Wir machen schon lange eine schwierige Zeit durch. Trennen uns, sind dann mal wieder zusammen. Wir versuchen, es irgendwie wieder hinzubiegen, aber so langsam wird doch klar, dass es vorbei ist. Es ist schwer, uns die Wahrheit einzugestehen, aber wir müssen beide loslassen. Wir wohnen noch zusammen, haben aber getrennte Schlafzimmer.«

»Ah.«

»Lucy, ich mag dich«, duzte er mich plötzlich. »Dadurch, dass ich dich kennen gelernt habe, habe ich endlich begriffen, was ich eigentlich schon längst wusste – dass ich die Sache mit Cara beenden muss. Und zwar ein für alle Mal. Aber wie ich schon gesagt habe, es ist schwierig. Da sind so viele Gefühle mit im Spiel.«

Ich mochte ihn auch. Viel zu sehr, um es ihm zu sagen. Denn das konnte womöglich zu etwas führen, was ich am nächsten Morgen bereuen würde. Vor allem dann, wenn Cara vielleicht immer noch glaubte, dass sie ihre Beziehung mit Sean retten konnte.

Wir erklommen den steilen Hügel, was ganz schön in die Beine ging. Unterwegs begegneten wir niemandem. Da waren nur wir, der Wind und mein Wunsch nach etwas, das niemals wahr werden durfte. Denn selbst wenn es da keine Cara gäbe, würde ich mich immer noch hüten, mich mit ihm einzulassen. »Wir haben den Pfad verpasst.«

»Was für einen Pfad?«

»Es gibt hier irgendwo einen Trampelpfad mit Stufen aus Kalkstein.« Ich war so in die Unterhaltung mit Sean vertieft gewesen, dass ich nicht aufgepasst hatte.

Wir standen auf dem gepflasterten Weg, direkt an einem Abhang. Zu unserer Rechten lag in bedrückender Stille das Baseballfeld da und sehnte sich nach kleinen Kindern mit ihren Schlägern. Zu unserer Linken tanzte der Mond auf der Oberfläche des Weymouth Back River. Ein wirklich zauberhafter Anblick, aber dafür hatte ich jetzt keine Zeit.

Ich drehte um, ging den Weg zurück, über den wir gekommen waren, und leuchtete mit der Taschenlampe links ins Dickicht. Und bald entdeckte ich auch schon das, wonach ich suchte. Eine Steintreppe, die zurück in Richtung Parkplatz führte.

Wir stiegen die steinernen Stufen hinunter, wobei ich mit den Absätzen immer mal wieder hängen blieb. Etwa auf halber Höhe sah ich nach rechts. Hier und da entdeckte ich dünne Bäumchen, dichtes Laub bedeckte den Boden. Nach etwa dreihundert Metern blieb ich wie angewurzelt stehen.

»Was?«, fragte Sean.

»Ich bleibe hier. Könntest du jetzt vielleicht die Schaufel holen? Du kannst einfach die Treppe weiter runter bis zum Parkplatz gehen.«

Er starrte mich lange prüfend an, und sein Blick verriet, wie viele Fragen ihm durch den Kopf gingen.

»Bitte?«, fügte ich hinzu.

Er reichte mir die Leine, drehte sich um und verschwand in der Dunkelheit.

Ich hockte mich hin und ließ Thoreau an mir hochspringen und mich ablecken. Ich war nicht besonders religiös – meine Eltern gehörten nicht zu den Leuten, die in die Kirche gingen –, aber Dovie hatte mich von Zeit zu Zeit heimlich in den Gottesdienst mitgenommen. Ich brauchte fast eine ganze Minute, um mich an irgendein Gebet zu erinnern. Ich sagte es ruhig und leise vor mich hin. Dann und wann fiel mir das eine oder andere Wort nicht mehr ein. Bei der Vorstellung, die Ruhe der Toten zu stören, stieg in mir absolute Panik auf.

Eine Minute später war Sean mit der Schaufel in der Hand wieder da. »Was nun?«, fragte er.

»Jetzt graben wir.«

»Lucy, ich denke, ich sollte jetzt wirklich mal wissen …«

»Vertrauen, Sean, weißt du noch?«

Die Art und Weise, wie er mich ansah, gab mir das Gefühl, dass er mir direkt in die Seele blickte. Und ich legte sie ihm zu Füßen.

»Okay«, sagte er schließlich.

Ich ließ mich schweigend neben Thoreau nieder und richtete die Taschenlampe auf den Boden. Als die Schaufel geräuschvoll auf die Erde traf, war das Echo in den Bäumen zu hören, es vermischte sich mit dem unheimlichen Heulen des Windes.

Nach etwa einem halben Meter fragte Sean: »Wie tief noch?«

»Ich weiß es nicht.«

Er machte weiter und schnaufte dabei heftig.

»Alles in Ordnung?«, erkundigte ich mich.

»Bestens.« Ihm stand der Schweiß auf der Stirn. »Ich gerate schnell außer Atem.«

Das fand ich nicht sehr logisch – ein ehemaliger Feuerwehrmann sollte doch eigentlich in Form sein. Ehemaliger. Oh. »Hat das was mit deinem Unfall zu tun?«

Er gab keine Antwort.

Und ich drängte ihn auch nicht.

Etwas weiter unten stieß die Schaufel auf etwas Hartes. Sean zog sie zurück. Ich leuchtete in das Loch.

Es überkam mich eiskalt, ging mir durch Mark und Bein.

Ihm stand Entsetzen ins Gesicht geschrieben, als er den menschlichen Knochen anstarrte. »Was ist das?«

Unter Zähneklappern entgegnete ich: »Die Frage sollte vielmehr heißen: Wer ist das? Und die Antwort lautet leider: Ich weiß es nicht.«

Auf dem Weg zurück zum Auto begegneten wir auf dem Parkplatz einem alten Mann mit einem dreifarbigen Beagle. Wir vermieden jeglichen Augenkontakt.

Sean legte die Schaufel in den Kofferraum und streckte die Arme weit aus. »So, was jetzt? Sollen wir noch eine Bank ausrauben oder so, um den Tag abzurunden?«

Thoreau folgte mir fröhlich zur Beifahrertür. Ich hob ihn hoch. »Du musst ja nicht gleich sarkastisch werden.«

Sean fuhr sich mit der Hand durch das dunkle Haar. »Tut mir leid, aber ich buddele nicht jeden Tag Leichen aus. Ich weiß nicht, wie ich darauf reagieren soll.« Er hielt die Tür für mich auf. Ich setzte mich hinein und hielt Thoreau ganz fest.

Als Sean den Wagen umrundet hatte und schließlich hinterm Steuer saß, sagte ich: »Ich mache das auch nicht jeden Tag.«

Er antwortete nicht, sein skeptischer Blick sprach jedoch Bände.

Ich atmete tief durch. Inzwischen wünschte ich wirklich, ich wäre stark genug gewesen, um das alleine durchzuziehen. Der bescheuerte Gedanke »Beim nächsten Mal …« schoss mir durch den Kopf. Ha! Es würde kein nächstes Mal geben. Meine Aufgabe hier war erledigt. Na ja, zumindest fast. »Könntest du bitte zum Dunkin’ Donuts an der nächsten Ecke fahren?«

»Hast du jetzt etwa Hunger?«

»Nein, ich will da das Telefon benutzen.«

Er zog sein Handy aus der Tasche und hielt es mir hin. »Nimm doch meins.«

»Nein danke. Ich will nicht, dass man den Anruf zu mir zurückverfolgen kann.«

Er zog die Brauen hoch und verengte die Augen zu Schlitzen. Dann sah er abrupt weg.

Als er den Wagen anließ, bereitete ich mich darauf vor, mit Fragen bombardiert zu werden. Zu meinem Erstaunen schwieg Sean jedoch.

Das Ausbuddeln von Leichen verschlägt wohl jedem die Sprache. Wir hatten nicht weitergegraben, nachdem Sean auf den Knochen gestoßen war. Ich hatte nur sichergehen wollen, dass dort wirklich jemand unter der Erde lag.

Sean fuhr auf den Parkplatz und hielt in der Nähe der Telefonzelle. Ich sprang aus dem Wagen, hob mit einem Papiertaschentuch vorsichtig den Hörer ab und wählte den Notruf, wobei ich darauf achtete, keine Fingerabdrücke zu hinterlassen. Meine Hände waren kalt und steif.

Ein Mann ging ran, er klang gelangweilt. »Notrufzentrale, was kann ich für Sie tun?«

»Hi, ja, hm, mein Freund und ich waren gerade im Great Esker spazieren, und da hat sich unser Hund losgerissen.«

»Wir kümmern uns nicht um vermisste Hunde«, antwortete er ungerührt, »ich kann Sie aber mit der Tierrettung verbinden.«

»Nein, nein«, entgegnete ich und versuchte, dabei meine Stimme zu verstellen. »Den Hund haben wir wieder.«

»Warum rufen Sie dann an? Gibt es einen Notfall?«

Wie würde er »Notfall« wohl definieren?

»Eigentlich nicht. Aber der Hund ist im Wald verschwunden und ist da an einer bestimmten Stelle total ausgeflippt. Mein Freund hatte eine Schaufel im Auto, die hat er geholt, und dann hat er an der Stelle mal gegraben. Nach etwa einem halben Meter ist er auf einen Knochen gestoßen. Einen menschlichen Knochen«, fügte ich noch hinzu. »Da liegt jemand im Great Esker begraben.«

»Woher wissen Sie denn, dass es sich um einen menschlichen Knochen handelt?«

»Hab Medizin studiert«, log ich.

»Wie heißen Sie, Miss?«, fragte der Mann am anderen Ende der Leitung jetzt mit etwas mehr Nachdruck.

Ich beschrieb ihm die Position der Leiche. »Man kann erkennen, dass da gegraben wurde.«

»Ihr Name?«, drängte er.

Ich legte auf und sprang ins Auto. »Fahr los!«, scheuchte ich Sean, da die Polizei den Anruf sicher bald zu der Telefonzelle zurückverfolgen würde.

Sean fuhr vom Parkplatz und auf die 3A in Richtung Süden, zum Hafen. Ich war mir nicht sicher, ob ich mein Date mit Butch durchstehen würde.

Ich hatte ja gewusst, dass an dieser Stelle jemand begraben war, es dann aber mit eigenen Augen zu sehen … Ich schüttelte den Kopf. Es war so unwirklich gewesen, diesen Knochen zu entdecken.

Direkt hinter der Hingham Bay Bridge bog Sean plötzlich zu einem Shoppingcenter rechts ab.

»Wo willst du hin?«, fragte ich mit klopfendem Herzen.

Er fuhr rückwärts in eine gut beleuchtete Parklücke vor einem Stop-&-Shop-Laden im Außenbereich des geschäftigen Einkaufszentrums, stellte den Motor ab und starrte mich an.

Ich versuchte, nicht wegzuschauen, als er mich direkt ansah, aber es fiel mir schwer. Sein stechender Blick war nur schwer zu ertragen. Ich streichelte Thoreau übers Fell. »Du musst mir vertrauen. Das hast du doch versprochen.«

»Irgendwann ist der Vertrauensvorschuss aufgebraucht, Lucy. Du musst mir auch genug vertrauen, um mir die Wahrheit zu sagen.«

Ich schloss die Augen. Konnte ich es wagen? Ich hatte ihn zwar in eine heikle Situation gebracht, aber unser Geheimnis war immerhin stets in der Familie geblieben.

Sean griff nach meiner Hand. »Lucy …«

In meinem Kopf drehte sich alles, die Vision baute sich verführerisch langsam auf und triezte mich. Wir beide zusammen im Bett, Haut an Haut, Sean auf mir, wie er meine Wange küsst, meine Lippen, meinen Nacken, meine Brüste …

Ich riss mich los, und er presste sich die Hand schützend an die Brust.

»Teufel auch! Das ist mir jetzt schon zum zweiten Mal passiert«, knurrte er und rieb sich die Handfläche.

»W-was denn?«

»Ich kriege einen elektrischen Schlag, wenn ich deine Hand anfasse.« Er betrachtete mich prüfend. »Hier knistert es wohl.«

»Ja, bei mir kriegt öfter mal jemand eine gewischt, wenn ich keinen Weichspüler mehr habe«, antwortete ich und lehnte mich an die Kopfstütze. Das Schwindelgefühl ließ langsam nach, aber die sexy Bilder waren immer noch da. Mein ganzer Körper kribbelte und bettelte darum, wieder von Sean berührt zu werden.

»Guck mich an, Lucy.«

Ich konnte nicht. Wenn ich ihn jetzt ansehen würde, dann würde er das Verlangen in meinen Augen erkennen. Und er hatte schließlich eine Freundin. Sozusagen. Und außerdem konnte nie etwas laufen. Ich schüttelte den Kopf.

»Okay«, brummte er und ließ den Wagen wieder an. »Dann sag mir nur eines.«

»Was denn?«

»Hast du etwas damit zu tun, dass dort jemand begraben ist?«

Der Schock machte mit jeglichem unterschwelligen Verlangen augenblicklich Schluss. »Bist du verrückt? Nein!«

Er fuhr vom Parkplatz. »Gut. Im Moment lasse ich dir deine Geheimnisse, Lucy. Aber ich werde mit Sicherheit dahinterkommen. Ich kriege schon noch raus, was bei dir eigentlich läuft.« Er schob mein Kinn hoch, sodass ich ihn ansehen musste. »Und zwischen uns beiden.«