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So langsam wurden bei mir Hände, Gesicht und Füße endlich wieder warm, als ich auf dem Anleger im laufenden Wagen saß und stirnrunzelnd zum Hingham Bay Club spähte. In einer Viertelstunde sollte ich dort mit Butch zu Abend essen.

Und ich sage »sollte«, weil ich überlegte, ihn zu versetzen.

Leider ließen meine guten Manieren nicht zu, dass ich den Gedanken ernsthaft in Erwägung zog.

So eine Anspannung wie jetzt gerade löste bei mir allerdings immer das Verlangen aus, mir ein Gläschen zu genehmigen.

Die Anspannung und das, was Sean und ich entdeckt hatten.

Er hatte mich vor etwa zwanzig Minuten bei meinem Auto abgesetzt und war dann davongerast.

Er war sauer, und ich konnte es nicht ändern. Ich wollte seine Fragen ja gerne beantworten, und einerseits vertraute ich ihm natürlich schon, aber konnte ich völlig sicher sein, dass er niemandem von meinen hellseherischen Fähigkeiten erzählen würde? Dass er nicht auf einmal anfangen würde, sich zu fragen, warum mein Vater so erfolgreich war? Und würde er mir überhaupt glauben?

Ich stieg aus dem Auto, betrat das Restaurant und hielt direkt auf die Bar zu. Es war noch früh, und ich konnte mir nicht vorstellen, dass Butch schon da war und mir auflauerte. Mir blieb jede Menge Zeit, um meine Anspannung herunterzuspülen.

Blind Dates waren einfach nichts für mich.

Oder besser gesagt, Dates im Allgemeinen.

»Irgendwas Starkes«, sagte ich zum Barmixer. Dann fiel mir wieder ein, dass ich ja nach Hause fahren musste. »Aber nicht zu stark.«

Ich schälte mich aus dem Trenchcoat und achtete darauf, dass mein Wickelkleid nicht verrutschte, als ich mich hinsetzte. Den Absatz meiner Stöckelschuhe schob ich über die Querstrebe des Hockers. Der Fernseher über der Theke zeigte die neusten Nachrichten über den Fall des vermissten Jungen.

Der Barmann stellte mir ein Glas Weißwein hin, und ich trank dankbar einen Schluck, während ich den Fernseher im Auge behielt. Ich war froh über ein bisschen Ablenkung. Die Nachrichten zeigten John und Katherine O’Brien, die sich fest umklammert hielten. In den Augen der beiden erkannte ich diesen abwesenden Blick, der mir abermals das Herz brach. John O’Brien war groß und hatte breite Schultern und Hüften. Er sah wie jemand aus, den man bei einem Notfall gerne in seiner Nähe hätte. Ein starker Mann.

Aber war er auch ein Mann, der seinem Kind wehtat?

Ich wusste es nicht.

Die Kamera schwenkte wieder zum Reporter zurück: »Die Behörden versuchen nun herauszufinden, ob Mr O’Brien wegen seiner Beschwerden in ärztlicher Behandlung war. Es gibt bislang keine eindeutigen Beweise dafür, dass er tatsächlich an einer mit Anfällen verbundenen Krankheit leidet, die Polizei ist im Moment aber noch nicht gewillt, ihn als Verdächtigen einzustufen. Eine Quelle aus Polizeikreisen hat uns informiert, dass Mr O’Brien bereit sei, einen Lügendetektortest zu machen, und dass möglicherweise gegen ihn Anzeige erstattet wird. Er wird sich irgendwann morgen im Laufe des Tages diesem Test unterziehen. Beunruhigender ist die Nachricht, dass laut der Polizei von Hingham ein registrierter Sexualstraftäter auf dem Campingplatz des Parks wohnt.«

Mir drehte sich angesichts dieser Neuigkeiten der Magen um. Max, Max, wo steckst du bloß?

Mein Handy ging mit seiner fröhlichen Jingle-Bells-Version los, die so gar nicht zu meiner momentanen Stimmung passte. Ich nahm Telefon und Weinglas mit in eine ruhige Ecke.

Es war Marisol.

»Immer noch nichts Neues von Em?«, fragte ich.

»Nein. Und so langsam mache ich mir wirklich Sorgen.«

Durch das Fenster sah ich, wie eine Fähre draußen anlegte. Zu meiner Linken schaukelten Dutzende von Segelbooten im Jachthafen von Hingham. Hinter einem dünnen Streifen Wasser ragten auf der schmalen Halbinsel die Wohnkomplexe von Weymouth stolz auf und versperrten den Blick auf das endlose Wasser dahinter. Hier und da erhellten gelb erleuchtete Quadrate die Fassade. »Vielleicht sollten wir im Krankenhaus anrufen, um zu sehen, ob sie da ist.«

»Das hab ich schon. Sie hat sich für heute und morgen krankgemeldet.«

In der Magengegend verkrampfte sich bei mir alles. »Hast du es schon bei ihrer Mutter versucht?«

»Gerade eben. Sie hat seit gestern Nachmittag nichts mehr von Em gehört. Sie meinte, da hätte sie nicht komisch geklungen oder so. Aber es sei schon seltsam, dass Em sich heute den ganzen Tag nicht bei ihr gemeldet hat.«

»Und hast du noch mal mit Joseph gesprochen?«

»Leider ja. Em war noch nicht zu Hause. Es fehlt auch nichts aus der Wohnung. Sie ist einfach weg. Sie hat ihre Handtasche und das Auto mitgenommen. Wir können noch nicht zur Polizei gehen – es ist viel zu früh.«

Ich stellte mein Weinglas ab. Mein Magen fuhr endgültig Achterbahn, da half auch kein Alkohol mehr.

»Ich mache mir wirklich Sorgen«, wiederholte Marisol.

»Ich auch«, gab ich zu.

»Was sollen wir jetzt machen?«

»Ich weiß es nicht. Können wir denn irgendwas tun?«

Aus dem Augenwinkel sah ich, wie ein Mann hereinkam und sich umsah. Die Ähnlichkeit mit Matt Damon war unübersehbar.

»Vermutlich nicht«, murmelte Marisol. »Aber mir gefällt die Sache gar nicht.«

»Ich glaube, das wäre doch ein guter Grund, mein Date sausen zu lassen.« Ich würde den Laden verlassen können, ohne dass Butch es überhaupt merkte.

»Nein, mach das nicht. Er ist wirklich ein netter Typ. Ich mache mir einfach nur …«

»Sorgen?«

»Genau. Ich denke, ich telefoniere jetzt noch ein bisschen rum. Ich sage dir Bescheid, wenn es was Neues gibt.«

Ich legte auf, atmete einmal tief durch und ging zurück zur Theke. In solchen Momenten malte ich mir gerne aus, wie ich Dovies Zweig des Familienstammbaums einfach abzwickte.

Und durch den Häcksler jagte.

»Hi«, sagte ich zu dem Matt-Damon-Doppelgänger. »Bist du …«

»Bist du Lucy?«, fragte er im gleichen Moment.

Ich nickte. Er lächelte (er hatte sogar Zähne wie Matt Damon) und streckte mir die Hand entgegen. Ich atmete noch einmal tief durch und griff danach. Bilder tauchten vor mir auf und entführten mich an einen anderen Ort. Einen Ort, an dem ganz klar ein Schlüsselbund zwischen Sofapolstern lag.

»Es tut mir leid, dass ich so spät dran bin«, entschuldigte er sich. »Ich konnte meine Schlüssel nicht finden und musste mir das Auto von meinem Mitbewohner leihen.«

Benommen setzte ich mich auf einen Barhocker. »Meine rutschen immer zwischen die Sofapolster. Da solltest du mal nachschauen.«

Er sah mich zwar ein wenig merkwürdig an, antwortete jedoch: »Das mache ich. Soll ich uns einen Tisch besorgen?«

»Können wir noch einen Moment hier sitzen bleiben?«

Wieder dieser etwas befremdete Blick. »Okay.«

Ich bestellte ein Ginger Ale, in der Hoffnung, meinen Magen etwas zur Ruhe zu bringen, und er entschied sich für ein Bier, Sam Adams. »Darf ich dich mal was fragen?«

»Klar.«

»Heißt du eigentlich wirklich Butch?«

Er lachte. »Nein. Das ist …« Er hielt inne und schüttelte den blonden Schopf. »Es ist eine lange Geschichte.«

»Ich hab Zeit«, entgegnete ich müde.

»Wir spielen hier also mit offenen Karten?«

Schon, allerdings nur er. Aber das brauchte ich ihm ja nicht zu verraten. »Sicher.«

»Eigentlich heiße ich Hutchinson. Hutch für Freunde und Familie. Aber«, fuhr er fort, »als ich klein war, konnte ich das H nicht aussprechen, und deshalb wurde der Name zu Butch.«

»Hutchinson?«, echote ich.

»Meine Eltern hatten ein Haus auf Hutchinson Island in Florida. Da bin ich gezeugt worden.«

»Ah«, entgegnete ich und wünschte mir, ich hätte nicht gefragt. »Und soll ich nun Hutch oder Butch zu dir sagen?«

»Hutch ist okay.«

»Darf ich dann auch Starsky-Witze reißen?«

»Vielleicht wäre Butch doch besser.«

Ich lachte. Es fühlte sich gut an. Ich hatte auf den ersten Blick gewusst, dass es zwischen uns beiden nicht funken würde, aber vielleicht könnte sich ja eine gute Freundschaft entwickeln.

»Und bist du wirklich Metzger?«, wollte ich wissen.

Er nickte. »Im Moment ja.«

Das kam mir bekannt vor. »Hattest du schon viele Jobs?«

»Zu viele, um sie alle aufzählen zu können. Ursprünglich wollte ich ja State Trooper werden, aber ich hab die Ausbildung nicht geschafft. Und von da an …«

Unhöflicherweise wandte ich mich von ihm ab, da plötzlich der Fernsehbildschirm meine Aufmerksamkeit in Anspruch nahm. Der Text am unteren Bildrand gab darüber Aufschluss, dass John O’Brien sich am nächsten Tag dem Lügendetektortest unterziehen würde und dass die Polizei den Sexualstraftäter verhörte.

»Ich finde es toll, dass du gestern Abend bei der Suche mitgeholfen hast«, bemerkte Butch, der meinem Blick folgte.

Schuldbewusst nippte ich an meinem Ginger Ale. »Tut mir leid, dass ich Dovies Abendessen verpasst habe.«

Er grinste. »Sie setzt ihren Kopf immer durch, nicht wahr?«

»Das kann man wohl sagen. War es sehr schlimm?« Das war gut. Dieses Geplänkel. Beinahe normal. Ich dachte schon fast gar nicht mehr an diesen Knochen … Ich verdrängte einfach die Erinnerung daran. Ich hatte sie gefunden. Die Polizei übernahm jetzt den Rest. Also musste ich mir darüber keine Gedanken mehr machen. Und konnte zu meinem normalen Leben zurückkehren, zu dem keine Visionen von Leichen gehörten.

»Überhaupt nicht. Dovie ist wirklich witzig, und deine Freundin Marisol …« Er sprach nicht weiter, aber ich konnte erkennen, wie plötzlich seine Augen leuchteten, als er ihren Namen aussprach. »Sie ist nett«, beendete er den Satz nicht sonderlich überzeugend.

»Das ist sie wirklich«, bestätigte ich, und es tat mir so leid, dass er bei ihr überhaupt keine Chance hatte. Sie hätten ein nettes Pärchen abgegeben.

Ein Foto von Max O’Brien erschien auf dem Bildschirm. Daneben wurden stichpunktartig Größe, Gewicht und Alter angegeben. Die Stimme des Reporters erläuterte im Hintergrund, was er getragen hatte. Jeans, ein langärmeliges, dunkelblaues T-Shirt und, wie sich inzwischen herausgestellt hatte, das Red-Sox-Sweatshirt seines Vaters.

Das Glas rutschte mir aus der Hand.

Ich tupfte die Theke rasch mit Servietten trocken. »Hast du das gehört?«, fragte ich Butch und überlegte, ob das Letzte wohl meiner Fantasie entsprungen war.

»Was denn?«, erwiderte er und half mir beim Aufwischen.

»Der kleine Junge – hat der wirklich das Sweatshirt von seinem Vater an?«

»Ich glaube, das haben sie gesagt.«

Ich winkte den Barmann heran. »Lief der Fernseher hier den ganzen Tag?«

»Ja. Und die lassen mich nicht auf den Sportkanal umschalten.«

»Haben Sie zugehört?«

»Das ist ja kaum zu vermeiden. Wieso?«

»Der kleine Junge, der vermisst wird – was hat der an?«

Er machte einen Schritt zurück. »Ich weiß nicht.«

Eine Frau zwei Hocker weiter tippte mir auf die Schulter. »Jeans, ein langärmeliges T-Shirt und ein Sweatshirt von seinem Vater.«

»Ein Sweatshirt von seinem Vater?«

Sie zuckte mit den Achseln. »Die Polizei hat gerade mitgeteilt, dass es verschwunden ist, genau wie der Junge. Natürlich deuten die Medien jetzt an, dass das Kind darin begraben ist.«

Max trug das Sweatshirt seines Vaters! Das waren die besten Neuigkeiten, die ich seit Langem gehört hatte.

Ich sprang auf und griff nach meinem Trenchcoat. »Ich muss los, Butch.«

»Jetzt schon? So früh?«

»Es tut mir leid. Wir verschieben das auf ein anderes Mal, ja?«

Ich wartete nicht einmal seine Antwort ab, sondern sauste aus dem Restaurant und rannte zum Auto, so schnell, wie meine Absätze es zuließen.

Jetzt galt es, keine Zeit zu verlieren.

Ich konnte doch helfen.

Ich konnte Max finden.

Als ich schließlich die Kommandozentrale erreichte, war ich mit den Nerven am Ende.

Mein Herz schlug dreimal so schnell wie sonst, als ich das Gelände nach John O’Brien absuchte. Ich musste einfach an ihn herankommen – schließlich war es sein Sweatshirt.

Als ich mit den Stöckelschuhen auf dem unebenen Boden voranstolperte, fühlte ich mich wie ein Fisch auf dem Trockenen. Zum Glück hatte meine Mütze noch im Auto gelegen. Die passte zwar nicht so ganz zum restlichen Outfit, aber halbwegs warm angezogen zu sein war mir jetzt wichtiger.

Außerdem half sie auch dabei, meine Identität zu verschleiern. Darunter konnte niemand erkennen, dass ich blond war.

Wie sollte ich das jetzt bloß anstellen? Ich wusste nicht, wie ich den Vater von Max ansprechen sollte. Oder was ich zu ihm sagen sollte. Oder ob mich die Polizei überhaupt in seine Nähe lassen würde. Und ich konnte ihm auch nicht einfach so die Hand geben und hoffen, das Sweatshirt vor mir zu sehen. Es war schließlich mehr als wahrscheinlich, dass er nur noch daran dachte, seinen Jungen zu finden, und nicht an sein Sweatshirt. Er musste sich aber auf den Gegenstand konzentrieren, damit ich ihn finden konnte.

Wenn ich mich zuerst an die Polizei wandte, würde es mir dann gelingen, eine überzeugende Erklärung vorzubringen, ohne meine Fähigkeit preiszugeben? Oder eben meine Identität?

Das Blut rauschte mir in den Ohren, als ich mich zwischen den Presseleuten herumdrückte und versuchte, so auszusehen, als gehörte ich dazu. Gestern Abend wäre ich in der Masse der Reporter überhaupt nicht aufgefallen, aber heute schienen sie alle in Jeans und Wanderstiefeln angetreten zu sein, als ob sie höchstpersönlich auf der Suche nach dem Jungen das Unterholz durchforsten wollten.

Ein Adrenalinstoß durchfuhr mich, als ich sah, wie John O’Brien aus dem Besucherzentrum trat und auf das Kaffeezelt zuging. Die Menge teilte sich, um ihn durchzulassen.

Und zum ersten Mal kamen mir Bedenken.

Was war, wenn ich ihm die Hand schüttelte und die Leiche seines Sohnes sah? Des Sohnes, den er getötet hatte?

Aber was, wenn ich nichts tat und der kleine Junge noch lebte und irgendwo da draußen war? Verloren und einsam. Unterkühlt und hungrig.

Die Entscheidung fiel mir leicht, selbst wenn ich dafür ein persönliches Risiko eingehen musste.

Unsicher ging ich auf den Mann zu, blieb mit den Absätzen im Gras hängen. »Mr O’Brien?«, sprach ich ihn an und stellte mich ihm in den Weg.

Er sah auf. »Ja?«

»Haben Sie eine Minute für mich?«

»Sind Sie von der Presse?«, wollte er wissen.

»Nein.« Das Blut rauschte mir in den Ohren.

»Von der Polizei?«

»Nein.«

»Dann tut es mir leid, ich habe jetzt keine Zeit für …«

Meine Stimme stockte: »Ich k-kann ihn finden.«

Meine Behauptung verschlug ihm den Atem. »Das ist nicht witzig.«

Ich sah ihm direkt in die Augen. »Ich mache auch keine Witze.«

»Wie heißen Sie?«

»Das möchte ich lieber nicht sagen.«

»Sie vergeuden meine Zeit, Miss.« Er machte einen Schritt nach links und schob sich an mir vorbei.

Ich stellte mich ihm abermals in den Weg. »Tatsächlich? Wenn Ihr Sohn noch am Leben ist, kann ich ihn finden. Wenn Sie nichts mit seinem Verschwinden zu tun haben«, ich gab ihm Zeit, die Information sacken zu lassen, »was haben Sie dann zu verlieren? Nichts. Aber so viel zu gewinnen.«

Ich erwähnte nicht, dass ich den kleinen Max auch dann sehen konnte, wenn er tot war. Falls John seinen Sohn umgebracht haben sollte, musste ich mich ihm nicht auch noch als Opfer anbieten.

»Wie?«, fragte er.

»Das würde ich lieber auch nicht sagen.«

Er kam einen Schritt näher. Er war nur etwa fünf Zentimeter größer als ich, sah aber viel stärker aus. Sein Blick zeugte von Schmerz und Wut. Das war viel besser als diese völlige Leere, die ich im Fernsehen in seinen Augen bemerkt hatte. »Wenn Sie sich über mich lustig machen …«, drohte er. »Das hier ist kein Spiel.«

»Wollen Sie ihn finden?«, fragte ich, fest entschlossen, mich nicht beirren zu lassen. Dabei hatte ich jetzt schon das Gefühl, dass mir alles aus den Händen glitt.

John O’Briens Stimme stockte. »Mehr als alles andere.«

»Dann holen Sie einen Polizeibeamten her. Egal, welchen. Aber nur einen. Verraten Sie ihm keine Details. Bringen Sie ihn her, und Sie müssen selbst auch wieder mitkommen. Wir treffen uns bei dem Baum dort«, sagte ich und zeigte darauf.

Er musterte mich von oben bis unten, blinzelte einmal und lief dann auf die Kommandozentrale zu.

Ich eilte zu der Eiche, die teilweise vom Zelt mit den Erfrischungen verdeckt wurde. Je diskreter, desto besser.

Kaum eine Minute später war John O’Brien zurück. »Das ist Detective Lieutenant Holliday von der State Police Massachusetts«, erklärte er.

»Und wer sind Sie, Madam?«, fragte Holliday sachlich. Er war älter als ich, vermutlich fünf oder sogar zehn Jahre, groß und eher dünn. Vermutlich ein Läufer. Das strohblonde Haar trug er kurz geschnitten. In der Dunkelheit konnte ich die Farbe seiner Augen nicht erkennen, nur wie durchdringend er mich anstarrte. Er wäre eigentlich ganz süß gewesen, wenn nicht jede Pore seines Körpers Machogehabe verströmt hätte.

»Keine Namen«, antwortete ich.

»Wenn Sie die Ermittlungen behindern …«, begann er auf eine Art und Weise, wie es nur Vertreter des Gesetzes taten.

Ich hob die Hand. »Bitte, bitte, verschonen Sie mich mit diesem Mist. Ich bin hier, um zu helfen. Das ist alles, was zählt.«

»Nicht, wenn Sie …«

»Ich bin hier, um zu helfen«, bekräftigte ich noch einmal. »Niemand zwingt mich dazu, herzukommen und mich in diese Lage zu bringen. Ich brauche nur eine Minute, in Ordnung?«

»Ich denke nicht …«, begann Holliday.

»Lassen Sie sie reden«, schnitt John ihm das Wort ab. »Was kann es schon schaden?«

Nach einem kurzen Moment nickte der Polizist.

»Wo ist er?«, fragte John O’Brien. »Bringen Sie mich zu ihm.«

»So funktioniert das nicht«, entgegnete ich. Ich war nicht ganz sicher, wie ich es ihm erklären sollte.

»Vielleicht sollten Sie doch besser mitkommen, Miss«, knurrte Holliday. Er spannte den Kiefer an.

»Geben Sie mir nur eine Minute.« Ich sah John an. »Denken Sie an Ihr Sweatshirt.«

»Mein Sweatshirt?«, fragte er verblüfft. »Warum, zum Teufel …«

»Ja«, fauchte ich. »Ihr Sweatshirt. Das, das Max anhat. Denken Sie daran. An die Farbe, die Größe, was darauf steht. Jetzt. Denken Sie ganz fest daran. Schließen Sie die Augen und tun Sie es einfach.«

Holliday verlagerte das Gewicht von einem Bein aufs andere. Ihm war offensichtlich gar nicht wohl dabei.

»Okay«, stimmte John zu. »Was jetzt?«

»Geben Sie mir die Hand!«

»Die Hand?«

»Ja. Und hören Sie nicht damit auf, an das Sweatshirt zu denken.«

Der Polizist sah über die Schulter zum Besucherzentrum. Vermutlich hielt er nach Verstärkung Ausschau, um die Verrückte festzunehmen.

Widerwillig streckte John die rechte Hand aus.

Ich schluckte und griff danach.

Dunst vernebelte meine Sicht, als Bilder vor mir aufblitzten. Eins nach dem andern nahm ich sie auf. Eine Bootsrampe, Bäume und Trampelpfade und alte steinerne Bunker. Im Zickzack taumelte ich voran, bis zu einer großen Eiche, die innen hohl war. Darin lag zusammengerollt der kleine Junge, der das Sweatshirt seines Vaters trug.

Ich atmete tief durch und schlug die Augen auf.

John riss seine Hand los.

Benommen lehnte ich mich gegen den Baum. Ich hatte genug gesehen.

Ich schaute zu den beiden Männern hoch, die mich anstarrten.

Und dann lächelte ich. So breit, dass mir die Wangen wehtaten. Tränen brannten in meinen Augen. So wie die, die ich auf Max’ Gesicht gesehen hatte.

Ich konnte kaum flüstern. »Er lebt. Ich bringe Sie zu ihm.«