20

Wie konntest du denn das Kästchen sehen, wenn es Rachel gehört hat?«, fragte Sean.

»Es war ein Geschenk von Marilyn. Bei Geschenken kann ich über beide Beteiligten Informationen erhalten. Genauso war es ja auch bei dem Diamantring.«

»Aber war das denn nicht Michaels Ring?«, fragte Sean und startete den Wagen.

Ich lächelte. »Da sprichst du wie ein wahrer Mann. Ein Verlobungsring gehört der Frau, die ihn geschenkt bekommen hat. Der Ring gilt als Geschenk und muss nicht zurückgegeben werden, wenn aus der Beziehung nichts wird. Da hat der Mann eben Pech gehabt, außer die Frau erbarmt sich und gibt ihn trotzdem zurück.«

Seans Gesicht hatte sich verfinstert. Er fuhr in Richtung Highway.

Auf einmal wurde mir klar, was ich da gerade von mir gegeben hatte. Da war ich wohl ins Fettnäpfchen getreten. Er dachte jetzt sicher an seine eigene fehlgeschlagene Verlobung. »Es tut mir leid. Ich hab nicht daran gedacht.«

»Du hast nur auf eine Frage geantwortet.«

»Ich weiß, aber …« Ich biss mir auf die Lippe. »Ich, ach Mist. Ich weiß nicht, was ich sagen soll.«

Auf einmal lachte er.

»Was ist denn so lustig?«

»Du. Du bist wirklich niedlich, wenn du fluchst.«

Sean nahm die Auffahrt auf die Route 3 in Richtung Norden. Jetzt wollten wir erst einmal zu Melissa Antonelli. Ich hoffte, ein wenig an ihre romantische Ader appellieren zu können.

»Es freut mich, dass du das so siehst.«

»Ich bin zu Hause ausgezogen«, verriet er mir plötzlich. »Ich wohne bei Sam, bis ich was Eigenes gefunden habe.«

»Geht’s dir gut?«

»Ich komme darüber hinweg.«

Ich konnte nicht anders, plötzlich war ich unglaublich glücklich. Dabei hätte ich mich wirklich für einen besseren Menschen gehalten, immerhin ging ihm die Sache an die Nieren.

Aber er war frei. Nicht mehr vergeben. Und ich musste mich nicht mehr schuldig fühlen, wenn ich mit ihm flirtete.

Und als ob mir der Himmel seinen Segen dazu geben wollte, brachen die Wolken plötzlich auf. Dünne Sonnenstrahlen fielen vom düsteren Himmel und warfen helle Tupfen auf die Fahrbahn. Ich erwartete jeden Augenblick den »Halleluja«-Chor zur Untermalung.

Obwohl mich die Details eigentlich gar nicht interessierten, wollte ich mich doch als gute Freundin erweisen und fragte deshalb: »Möchtest du darüber reden?«

»Nein.«

Gott sei Dank. Aber … »Was ist mit Thoreau?«

Sean lächelte und fädelte sich auf die Route 93 in Richtung Stadt ein. »Der bleibt bei mir.«

»Gut.«

»Erzähl mir von dem Kästchen«, bat er. Offensichtlich wollte er gerne das Thema wechseln. »Wo ist es?«

»Ich glaube, Elena hat es.«

»Was?«

»Zumindest befindet es sich in Rhode Island. Wo hast du die Unterlagen über sie?«

»Auf dem Rücksitz.«

Ich lehnte mich nach hinten, griff nach dem Stapel Aktenmappen und sah sie durch, bis ich die mit Elenas Namen fand.

Dann schloss ich die Augen und spielte die Bilder noch einmal ab, dieses Mal aber langsamer. Ich blinzelte. »Eine Hausnummer konnte ich nicht erkennen, aber es ist dieselbe Straße. Pawtucket, Rhode Island.«

»Das kann kein Zufall sein.«

»Nein«, stimmte ich zu. »Was uns zu der Frage führt – warum hat Elena Rachels Kästchen?«

»Wenn es für Rachel so wichtig war, wie Marilyn glaubt, dann hätte sie es doch nie einfach so weggegeben.«

»Es fällt mir auch schwer, das zu glauben.«

»Vielleicht hat sie es gestohlen?«, überlegte Sean. »Als sie ausgezogen ist.«

»Vielleicht. Oder vielleicht hat sie es als Souvenir eingesteckt, nachdem sie Rachel umgebracht hat. Sie hat sich etwas genommen, von dem sie wusste, dass es Rachel viel bedeutete, weil Rachel etwas verraten hatte, was ihr viel bedeutete – nämlich ihr Vertrauen. Oder interpretiere ich da vielleicht zu viel rein, nur weil ich so verzweifelt herausfinden will, wer Rachel umgebracht hat?«

»Vielleicht gehst du wirklich etwas zu weit«, meinte Sean. »Aber es ist gut, die Möglichkeiten mal gemeinsam durchzusprechen.«

Die Stadt türmte sich vor uns auf, Wolkenkratzer ragten in den Himmel. Das raue Hafenwasser ließ die Boote gegen ihre Verankerung beim Dorchester-Jachtclub schlagen. »Wenn Elena so verrückt war, wie wir gehört haben, dann konnte sie auch ganz schön wütend werden.«

»Wütend genug, um jemanden zu töten?«

»Vielleicht. Es sind schon Menschen für weniger umgebracht worden.«

Der Verkehr kam für einen Moment beinahe zum Erliegen. Wir schoben uns Zentimeter für Zentimeter voran.

Er sah mich mit fragenden Augen an. »Könntest du das?«

»Was denn?«

»Aus Wut jemanden umbringen?«

»Bis gestern hätte ich das noch verneint, weil man doch geistig ein wenig daneben sein muss, um zu töten. Aber seit heute Morgen dieser Artikel erschienen ist, male ich mir in meiner Fantasie die ganze Zeit aus, dass diese Reporterin einen bedauernswerten Unfall erleidet. Ist das etwa falsch?«

»Ich denke, an deinen Fantasien sollten wir mal ein wenig arbeiten.«

Hitze schoss durch meinen Körper. Mein Mund wurde ganz trocken, mein Herz raste vor Verlangen. »Woran hattest du so gedacht?«

Als wir in den Tunnel fuhren, war der Verkehr langsam nicht mehr so dicht. »Ich denke, du hast bereits gesehen, woran ich so gedacht habe.«

Wenn wir nicht gerade im Auto gesessen hätten, hätte ich mich jetzt wahrscheinlich auf ihn geworfen. Aber unter den gegebenen Umständen war ich eigentlich dankbar, dass das im Moment nicht ging.

Sean fuhr auf die 1A in Richtung Lynn. »Dir hat es wohl die Sprache verschlagen? Offensichtlich ist es mir ja gelungen, dich auf andere Gedanken zu bringen.«

»Preston wer?«, ging ich auf sein Spielchen ein.

»Genau.«

Er war Single.

Offiziell.

Alles in allem war heute doch ein guter Tag.

Melissa Antonelli lebte nicht weit von ihren Eltern entfernt.

Wir hielten vor einem hübschen Haus im Cape-Cod-Stil am Straßenrand. Ein gepflasterter Weg führte bis zur Haustür.

Die wurde geöffnet, noch bevor wir anklopfen konnten. Zu meiner Überraschung begrüßte uns Melissa mit den Worten: »Sie müssen die Detektive sein. Kommen Sie doch herein.«

Ich korrigierte sie nicht. Sean war der Privatdetektiv. Ich war einfach nur … ja, was denn? Eine Heiratsvermittlerin mit einer Mission?

Ich sah mich zu Sean um, der mit den Achseln zuckte und mich in Richtung Tür schob.

Im Inneren des Hauses roch es nach Braten. Mein Magen knurrte. Zwei kleine Jungen jagten sich gegenseitig die Treppe hoch und rannten uns beinahe um.

»Am Geländer festhalten!«, rief Melissa. Dann seufzte sie. »Sie hören ja doch nicht auf mich. Kommen Sie, treten Sie ein.«

»Ich bin Lucy«, sagte ich und streckte ihr die Hand entgegen. Kein Wirbelsturm aus Bildern.

»Sean«, stellte er sich vor.

»Sie sind wegen Jenny hier.«

Ich nickte.

»Meine Eltern haben mich schon vor Ihnen gewarnt. Dass Sie nach ihr suchen und vielleicht hier vorbeikommen würden. Sie haben mir auch eingebläut, nicht mit Ihnen zu reden, aber ich möchte gerne hören, was Sie zu sagen haben. Setzen Sie sich, bitte!«

Sean und ich ließen uns in zwei aufeinander abgestimmte Clubsessel sinken. Sie nahm auf einer geblümten Couch Platz. Der Raum war winzig, und ein riesiger Fernseher nahm den meisten Platz ein. Auf dem Gerät reihten sich zahlreiche Fotos, über dem Sofa hing ein Druck von Monet.

Ich starrte die Fotos auf dem Fernseher an. Auf einem davon war Melissa im Hochzeitskleid zu sehen, neben ihr stand ihr Vater mit einer älteren Dame, und auf der anderen Seite eine junge Frau, die Melissa ziemlich ähnlich sah. Die gleichen langen, dunklen Haare, die dunklen Augen und die hochgewachsene, schlanke Figur.

»Ist das da Jenny?«, fragte ich. »Bei Ihrer Hochzeit?«

Melissa stand auf, ging zum Fernseher, griff nach dem eingerahmten Foto und reichte es mir. »Das war vor sieben Jahren.«

Von Nahem konnte man in Jennifers Augen einen gequälten Blick erkennen. »Sie ist wirklich hübsch.«

»Das ist sie immer noch. Mum hat auch gesagt, dass Sie für Michael arbeiten. Stimmt das?« Oben hörte man es krachen. Sie legte den Kopf schräg und lauschte. »Keiner heult. Ein gutes Zeichen.«

»Michael ist mein Kunde«, bestätigte ich und erklärte ihr, dass ich für die Valentine Inc. arbeitete. »Als ich mich mit ihm unterhalten habe, wurde eines schnell klar, nämlich dass er immer noch in ihre Schwester verliebt ist. Ich habe ihm versprochen, dass ich versuchen würde, sie ausfindig zu machen. Um zu sehen, ob sie sich mal mit ihm treffen würde.« Ich erklärte auch, was Michael mir über die Nacht mit Elena erzählt hatte – dass er da reingelegt worden war.

»Sie war so gemein«, bemerkte Melissa. Die beiden Jungen, etwa vier und sechs, rasten die Treppe wieder herunter.

»Lassen Sie uns ein paar Schritte gehen«, schlug ihre Mutter vor und rief in die Küche hinüber, was sie vorhatte. »Er guckt Football. Dann kriegt er nichts mit.«

Der Regen hatte die letzten Blätter von den Bäumen gewaschen, und ihre gedämpften Orange-, Rot-, Grün- und Gelbtöne vermischten sich unter unseren Füßen.

»Ihre Eltern beschützen Jennifer«, stellte Sean fest. »Vor Elena?«

»Und vor Rachel Yurio. Die beiden haben ihr das Leben zur Hölle gemacht. Und egal, wie oft wir zur Polizei gegangen sind, man konnte nie etwas beweisen.«

Ich ging in der Mitte, Melissa rechts von mir, Sean zu meiner Linken. »Wie müssen wir uns das vorstellen?«

»Fiese Telefonanrufe, zerstochene Reifen, die beiden haben sie auch verfolgt. Lehrern in ihrem Namen schweinische E-Mails geschickt. Eines Tages ist Jennys Katze verschwunden, und sie hat ihr blutiges Halsband auf der Hintertreppe gefunden.«

Ich erschauderte.

»Ja«, nickte sie. »Jenny hat Michael geliebt. Von ganzem Herzen. Aber sie konnte diese Schikanen nicht länger ertragen. Sie hatte das Gefühl, dass Elena vor nichts zurückschrecken würde, um sie aus dem Rennen zu werfen.«

»Sie hat sogar diese Fotos mit Michael arrangiert«, warf ich ein und zuckte derweil bei jedem Schritt zusammen.

»Die haben das Fass zum Überlaufen gebracht. Elena hat Jenny die Bilder nicht nur gezeigt, sie hat dazu auch noch eine Drohung ausgestoßen. Wenn sie nicht mit Michael Schluss machen würde, könnte sie eines Tages vielleicht genauso verschwinden wie ihre Katze.«

Sean musste gemerkt haben, welche Qualen ich litt, denn er ließ sich zurückfallen. Melissa war gezwungen, entweder den Schritt zu verlangsamen oder vor uns herzugehen. »Und hat sie sich nicht an die Polizei gewendet?«

Wir waren am Ende der Straße angelangt. Melissa machte kehrt, um wieder zurückzugehen. »Nein. Zu dem Zeitpunkt dachte sie ja, dass Michael sie betrogen hatte. Sie wollte einfach nach vorne sehen. Selbst nachdem sie mit Michael Schluss gemacht hatte, tauchte Elena noch hin und wieder auf, um sie zu triezen. Die ist krank. Nach ihrem Abschluss hat Jenny beschlossen, in den Westen zu ziehen. Und meine Familie verteidigt ihre Anonymität mit Zähnen und Klauen.«

»Verständlich«, bemerkte Sean.

»Ich bin nicht sicher, ob Sie schon davon erfahren haben«, begann ich, »aber Rachel Yurio ist tot. Und zwar schon seit über fünf Jahren. Sie wurde ermordet.«

Melissa riss die Augen auf. »Das wusste ich nicht. Hat die Polizei den Täter geschnappt? War es Elena?«

Genau das war die Vermutung, die sich mir langsam aufdrängte. »Es sieht wirklich so aus, als ob Elena ihr Leben völlig umgekrempelt hat. Sie ist Sozialarbeiterin in Rhode Island, ist verheiratet und hat Kinder.«

Melissa schüttelte den Kopf. »Die armen Kinder.«

»Michael steht unter Verdacht, Rachel ermordet zu haben.«

»Michael? Warum das denn?«

Ich schluckte. »Die Sache ist ziemlich kompliziert. Darf ich Sie mal etwas fragen?«

»Sicher.«

»Wissen Sie, was Jennifer mit ihrem Verlobungsring gemacht hat?«

»Den hat sie Michael zurückgeschickt. Per FedEx, glaube ich. Wieso?«

Ein Windstoß wirbelte Blätter auf der Straße auf. »Rachel trug ihn am Finger, als sie starb.«

»Du hättest doch nicht mitkommen müssen«, sagte ich zu Sean, der mir die Haustür aufhielt.

Ich hatte Melissa Antonelli meine Handynummer dagelassen und sie gebeten, die Informationen, die ich ihr gegeben hatte, an Jennifer weiterzuleiten. Ob sie mich auch anrufen würde, stand allerdings in den Sternen. Und je mehr ich über Elena Hart hörte, desto stärker vermutete ich, dass sie Rachel getötet hatte. Ich war so fertig, dass Sean und ich beschlossen, den Besuch bei Elena auf den nächsten Tag zu verschieben.

»Willst du, dass ich mir deine Füße ansehe? Ich bin als Sanitäter ausgebildet.«

»Das geht schon. Em hat mich heute Morgen versorgt. Die Antibiotika tun bestimmt bald ihre Wirkung.«

»Sicher?«

»Bist du Fußfetischist?«

Er lachte.

»Kaffee?«, fragte ich. Ich wollte einfach noch nicht, dass er jetzt ging.

»Sicher.«

Grendel kam aus dem Schlafzimmer geschlichen und strich mir um die Beine, bis ich ihn hochhob. Er tapste mir mit der Pfote ins Gesicht, während ich ihm süße Worte zuflüsterte und versuchte, seine verletzten Katzengefühle zu beschwichtigen.

»Er hasst es, wenn ich nicht da bin«, erklärte ich.

Sean feixte.

»Was denn?«

»Ach, nichts.«

Ich reichte ihm Grendel, um mich um den Kaffee zu kümmern. Schwaches Sonnenlicht fiel durch das Wohnzimmerfenster.

»Was meinst du, wie lange drückt sich die Presse da wohl noch rum?«, fragte Sean.

»Die hauen hoffentlich bald ab.« Dieses Mal hatte ich mich nicht vor den Blitzlichtern versteckt und war immer noch geblendet. »Aber so langsam macht sich bei mir das Gefühl breit, dass sie nicht verschwinden werden, bevor ich nicht mit ihnen geredet habe.«

»Und, wirst du mit ihnen sprechen?«

»Ich weiß es nicht.«

Ich hätte gerne meine Eltern um ihre Meinung gebeten, aber die hatten sich immer noch nicht gemeldet.

Ich mahlte die Kaffeebohnen und sah dabei zu, wie Sean mit Grendel spielte, der angesichts der ganzen Aufmerksamkeit richtig aufblühte. Wir hatten für den nächsten Tag alles geplant – wir würden uns früh am Morgen auf den Weg zu Marilyns Lagerhaus machen und Rachels Sachen durchgehen. Mit etwas Glück würden wir vielleicht einen Hinweis darauf finden, wer sie umgebracht hatte. Danach würden wir nach Pawtucket zu Elena fahren. Ich war gespannt, was sie wohl zu der Sache mit dem Kästchen und zu Rachels Tod im Allgemeinen zu sagen hatte.

»Du hast es wirklich schön«, bemerkte Sean und sah sich um.

»Ich wohne hier unheimlich gerne. Mein Großvater hat das Anwesen damals für Dovie gekauft, als sie heirateten. Vor etwa zehn Jahren hat sie es renovieren und alles wieder in den Originalzustand zurückversetzen lassen. Beeindruckend, nicht?«

»Wie auf einer Postkarte.«

Ich sah zu Dovies riesigem Gebäude auf dem Felsvorsprung hinauf. In den oberen Fenstern brannte Licht. »Das Haupthaus ist eigentlich viel zu groß für einen Einzelnen, aber sie liebt es viel zu sehr, um sich zu verkleinern.« Meine Großmutter war in einer Mietwohnung in New York aufgewachsen, als eins von drei Geschwistern, die nichts außer ihrem Namen hatten. Sie hatte keine einfache Kindheit gehabt, und ich denke, dass dieses Haus für sie nicht so sehr einen sentimentalen Wert hatte, sondern ihr vielmehr Sicherheit vermittelte. Obgleich es ein Hochzeitsgeschenk von Grandpa Henry gewesen war, war ihre Ehe noch vor Ende der Flitterwochen in die Brüche gegangen.

»Und darum wohne ich auch hier, um ihr ein bisschen Gesellschaft zu leisten. Einer der Gründe dafür, dass die Miete so günstig ist.«

»Miete?«, wiederholte er überrascht.

Der Duft frischgemahlener Kaffeebohnen erfüllte die Küche. »Ich habe mich vor etwa zehn Jahren von meinem Treuhandfonds losgesagt, weil ich beweisen wollte, dass ich es auch alleine schaffe. Ich habe mir selbst das College finanziert, mir selbst ein Auto gekauft und zahle selbst meine Rechnungen.«

»Warum?«, fragte er und strich Grendel übers Fell.

Während die Sonne langsam tiefer sank, wurde der Raum dunkler. Intimer. Und da waren wir beide also, allein bei mir zu Hause. Ich versuchte, das lieber zu verdrängen, konnte mich aber von dem Gedanken nur schwer lösen. Ich holte zwei Becher aus dem Schrank. »Damals fühlte ich mich so schuldig, immerhin konnte ich ja keine …«

Beinahe hätte ich »keine Auren mehr lesen« gesagt. Es war für mich inzwischen so normal geworden, Sean alles zu erzählen, ich hätte fast vergessen, dass er ja nicht in das große Valentine-Geheimnis eingeweiht war. Ich musste wirklich besser aufpassen.

»Was konntest du nicht?«

Meine Gedanken rasten. »›Konnte‹ ist vielleicht nicht der richtige Ausdruck. Ich wollte nur einfach nicht ins Familienunternehmen einsteigen. Und deshalb hatte ich das Gefühl, dass ich all das Geld gar nicht verdiente und mich besser allein durchschlagen sollte.«

»Wirklich nobel. Aber auch verrückt.«

Ich lachte. »Glaub mir, ich habe mir selbst deshalb schon tausendmal in den Hintern getreten. Aber ich mag mein Leben – meistens jedenfalls. Ich sorge gerne für mich selbst. Und ich will ganz ehrlich sein – es hilft zu wissen, dass das Geld immer noch da ist und auf mich wartet.«

»Wirst du je davon Gebrauch machen?«

Ich zuckte mit den Achseln. »Wer weiß?«

Er ließ Grendel runter, als ich den Kaffee aufsetzte. Ich sah dabei zu, wie Sean durch mein Wohnzimmer schritt und sich die Fotos auf dem Kaminsims ansah – von mir, meinen Eltern, Raphael, Dovie, Em, Marisol und Grendel. Meiner Familie.

»Bist du das?«, fragte er und hielt ein Bild von mir hoch, auf dem ich vier war und mit fliegenden Rattenschwänzchen eine Sandburg baute.

»Ja.«

»Wie niedlich.«

»Danke.«

»Ist das Dovie?«

»Welches Bild meinst du?«, fragte ich und kam um den Küchentresen herum.

»Nein.« Er zeigte aus dem Fenster. »Ist das da Dovie, die zu uns rüberkommt?«

Die Dunkelheit umfing die Silhouette einer Person, die den Hang zum Häuschen herunterschritt.

»Ja. Die will vermutlich sichergehen, dass ich meine Medikamente genommen habe.«

»Muss ich mich auf ein Verhör einstellen?«, erkundigte er sich lächelnd.

»Das hab ich ja ganz vergessen! Sie wird dich in die Mangel nehmen, bis du schließlich schwach wirst. Vielleicht solltest du besser gehen.«

Seine grauen Augen funkelten. »Willst du, dass ich verschwinde?«

»Nein, aber Dovie …« Plötzlich kam mir eine Idee.

»Was denn?«, fragte er. »Was hat dieser teuflische Blick zu bedeuten?«

»Ich weiß, wie wir sie loswerden können!«

»Wie denn?«

Ich hakte die Daumen in den Hosentaschen ein und wiegte mich auf den wunden Fersen. »Indem wir ihr beweisen, dass wir zusammen sind.«

»Und wie machen wir das?«, fragte er, ein Grinsen um die Mundwinkel.

Ich drehte mich ganz langsam zu meinem Bett herum, das man durch die offene Schlafzimmertür gerade so erkennen konnte.

»Du schlägst doch nicht etwa vor …«

»Ich schlage vor, dass wir so tun – damit Dovie uns in Ruhe lässt. Bist du dabei?«, forderte ich ihn heraus.

Seine Augen verdunkelten sich, und so, wie er mich ansah, hatte er eigentlich mehr im Sinn gehabt, als »nur so zu tun«.

Mein Mund wurde ganz trocken, und es durchfuhr mich siedend heiß.

Es würde mir nicht schwerfallen, Leidenschaft vorzutäuschen.

»Komm schon, wir müssen uns beeilen. Sie wird jede Minute hier sein.« Ich zerrte ihn ins Schlafzimmer.

Mein Herz klopfte wild. Das war ein gefährliches Spielchen.

»Oberteile aus!«, kommandierte ich und fing mit meinem Pulli an.

Sean starrte mich nur an, als ich die Bettdecke zurückzog.

»Dein Hemd! Schnell!«

Er knöpfte es langsam auf. Ich zog mir das Unterhemd aus, zögerte aber beim BH. Ich konnte Seans brennenden Blick spüren.

Plötzlich war ich feige, ließ den BH an und schob nur die Träger von der Schulter. Ich hüpfte ins Bett und zog mir die Decke bis zum Kinn hoch. Einladend klopfte ich auf den freien Platz an meiner Seite. Dovie würde jede Sekunde eintreffen.

Unter seinem Hemd trug Sean ein weißes Unterhemd. Kräftige, verführerische Muskeln zeichneten sich auf seinen Armen und dem Brustkorb ab. Langsam streifte er sich das Trägershirt über den Kopf.

Mir fiel die Kinnlade herunter. »Was ist denn mit dir passiert?«

Eine dünne, zwölf Zentimeter lange Operationsnarbe führte von seinem linken Schlüsselbein nach unten. Die Narbe musste relativ frisch sein – sie war noch nicht ganz verheilt.

An der Tür klopfte es.

Sean legte sich neben mich. Er zog sich die Decke bis zur Hüfte hoch, bedeckte so seine Jeans und stützte sich auf dem Ellbogen auf. Sein Blick fing den meinen ein und hielt ihn fest. Ich konnte der Traurigkeit in den Tiefen des Graus nicht entkommen. Instinktiv lehnte ich mich zu ihm vor.

Er umfasste mit den Händen mein Gesicht und zeichnete mit dem Finger meine Wangenknochen, meinen Mund nach.

Ich atmete keuchend ein, wollte etwas sagen, so viel fragen, sein Blick bat mich aber, noch zu warten. Und außerdem wollte ich in diesem Augenblick auch nichts lieber, als ihn zu küssen.

Wie in Zeitlupe beugte er seinen Kopf zu mir, sein Mund war nur ein Flüstern von meinem entfernt. »Soll ich dich küssen?«, fragte er.

Seine heisere Stimme zog mich nur noch näher zu ihm hin, und auf einmal wünschte ich mir, das wäre überhaupt kein Spiel.

»Muss ich etwa darum betteln?«, fragte ich.

Dovie klopfte immer wieder und rief: »LucyD?« Der Türknauf bewegte sich, die Haustür öffnete sich mit einem Knarren.

Auf seinen Lippen zitterte ein Lächeln, bevor sein Mund auf den meinen traf.

Der Kuss war langsam und sinnlich, er umfing mich mit wirbelndem Verlangen, ich wollte nur noch mehr, mehr, mehr. Sean schob sich auf mich und stützte das Gewicht mit den Ellbogen ab. Die Wärme seines Körpers auf meinem war beinahe zu viel für mich.

Ich versuchte, mir innerlich noch einmal ins Gedächtnis zu rufen, warum dieses Szenario keine gute Idee war.

In diesem Moment konnte ich mich aber keines einzigen Grundes entsinnen, obwohl es mit Sicherheit jede Menge davon gab.

Im Hinterkopf konnte ich die Warnsignale nicht länger ignorieren, dort schrillten alle Alarmglocken, aber im Moment stellte ich sie erst einmal ab.

Ich empfand nichts als schiere Lust, hörte jedoch, wie Schritte erst näher kamen und sich dann wieder entfernten. Eine Sekunde später schloss sich die Haustür.

Seans Kuss wanderte von meinen Lippen zum Ohr, zum Nacken und dann wieder zurück.

»Sie ist weg«, flüsterte er.

»Ich weiß.«

Keiner von uns rührte sich. Seine Brust berührte meine, unsere Herzen schlugen im Einklang.

Mit geschlossenen Augen lehnte er die Stirn an meine, unsere Nasen berührten sich. Der Rest von uns war auf intimste Weise ineinander verschlungen, und ich wollte ihn mehr als je zuvor.

»Das ist kein Spiel mehr«, flüsterte Sean.

»Nein«, stimmte ich zu.

Er schlug die Augen auf. »Sollen wir aufhören?«

So vieles sprach dafür. Aber daran wollte ich jetzt nicht denken. Ich wollte, dass dieser Augenblick nie zu Ende ging. Aber ich musste realistisch bleiben und mein Herz schützen.

Dieser blöde Fluch.

Langsam nickte ich.

Er küsste mich sanft auf die Stirn und schob sich von mir herunter.

Ich schloss die Augen und wünschte mir Dinge, die niemals wahr werden konnten.