19

Es war ein Tag der ersten Male.

Ich hatte mir zum ersten Mal einen Anwalt genommen.

Ich war zum ersten Mal als Hellseherin geoutet worden.

Und ich fuhr zum ersten Mal im Kofferraum eines Autos mit.

Zum Glück war ich nicht mehr in dem Alter, in dem man seine Jungfräulichkeit verliert – was wirklich gut war, denn Sean befand sich ganz in meiner Nähe. Er passte genau auf die Beschreibung der Kerle, vor denen Raphael mich immer gewarnt hatte.

Lichtfetzen fielen ins Innere des dunklen Kofferraums. Ich hatte die Knie an die Brust gezogen, mein Kopf ruhte auf einer alten Decke. Jedes Mal, wenn der Wagen auf ein Schlagloch traf, durchfuhr ein schmerzhaftes Gefühl meine Wirbelsäule und ich atmete keuchend schimmlig riechende Luft ein. Seit Sean den Kofferraumdeckel geschlossen hatte, waren wohl kaum fünf Minuten vergangen, dennoch raste mein Herz bereits, und meine Handflächen waren feucht.

Ich war nicht gerade glücklich über die Situation, und das war noch maßlos untertrieben.

»Drei mal drei gleich neun«, murmelte ich, um mich damit abzulenken.

Noch vor zehn Minuten hatte ich es für eine super Idee gehalten, mich in Seans Kofferraum heimlich davonzumachen.

Bis ich dann auf einmal gemerkt hatte, dass ich offensichtlich ein kleines bisschen an Klaustrophobie litt. Woher hätte ich das auch wissen sollen? Ich war schließlich zum ersten Mal in einem Kofferraum eingeschlossen.

»Die Quadratwurzel aus einhundertvierundvierzig ist zwölf.«

»Redest du mit dir selbst?«, rief Sean.

»Wie lange noch?«, rief ich zurück.

Das Auto wurde langsamer und hielt dann an. Eine Sekunde später ging der Kofferraum auf, und Sean streckte mir die Hand entgegen. »Du siehst gar nicht gut aus.«

Ich starrte auf seine Hand. Bloß nicht. Das Herz schlug mir ja jetzt schon bis zum Hals – es würde vermutlich stehen bleiben, wenn sich ihm noch mehr Bilder von Sean und mir zusammen im Bett darboten. »Ich will dir keinen elektrischen Schlag verpassen«, behauptete ich und krabbelte alleine aus dem Kofferraum.

Sean hatte auf einem leeren Parkplatz am Sandy Beach gehalten. Vor uns erstreckte sich der dunkle, graue Ozean mit weißen Schaumkronen, so weit das Auge reichte. Möwen kreischten hungrig über unseren Köpfen und drehten ihre Runden unter unheilvollen Gewitterwolken. Der scharfe, salzige Geruch der Ebbe stieg mir stechend in die Nase, während wütende Wellen gegen das felsige Ufer schlugen.

»Alles klar?«

»Ein wenig frische Luft, und dann ist gleich alles wieder in Ordnung.« Ich atmete tief durch. Die kühle Brise ließ mich langsam zur Ruhe kommen. Mein Herz schlug jetzt wieder in seinem normalen Rhythmus.

Der Wind fuhr Sean durchs dunkle Haar und ließ die kurzen Strähnen zu Berge stehen. »Du hättest mir sagen müssen, dass du Probleme mit engen Räumen hast. Dann hätten wir uns etwas anderes überlegt.«

»Das wusste ich bis eben ja selbst nicht.« Ich drückte die Knie durch und vertrat mir ein wenig die Beine, während ich tief einatmete. Herbstregen lag in der Luft. Eine starke Böe erfasste meinen Pferdeschwanz und schlug ihn mir ins Gesicht. »Wir sollten los.«

»Bist du sicher, dass es dir besser geht?« Mit seinen Jeans, Turnschuhen und dem blau-weiß gestreiften Hemd, dessen Ärmel er bis zum Ellbogen hochgekrempelt hatte, sah Sean völlig entspannt und lässig aus. In diesem Licht hatten seine Augen die gleiche Farbe wie das Meer.

Muscheln zerbrachen unter den Sohlen meiner Turnschuhe, als ich vorsichtig die paar Schritte zur Autotür zurücklegte. »Alles in Ordnung.«

Solange ich nicht zu weit zu Fuß gehen musste, kam ich schon klar. Ich hatte eine Dosis Antibiotikum und zwei extrastarke Aspirin genommen. Hoffentlich stark genug, um mich durch den Tag zu bringen.

»Das mit Dovie vorhin tut mir leid«, entschuldigte ich mich, während ich mich anschnallte.

»Was denn?«

»Als die beiden Polizisten da waren, haben sie meinen Freund erwähnt. Deshalb hat sie dich so in die Mangel genommen. Sie hat mir nicht geglaubt, als ich ihr gesagt habe, dass wir zusammen sind.«

Sein Kopf schnellte zu mir herum. »Du hast was?«

»Die Straße! Sieh auf die Straße!«

Er riss das Steuer nach links herum und kam wieder auf die Spur. Wir hatten nur haarscharf einen Telefonmast verfehlt.

Und mein regelmäßiger Herzrhythmus war damit auch wieder dahin.

»Ist es so furchtbar für dich, als mein Freund zu gelten, dass du uns in den Abgrund stürzen willst?«, zog ich ihn auf.

»Ich, äh, ich meine ja nur …«

»Du solltest mal dein Gesicht sehen.« Panik umwölkte seine Stirn, Angst verfinsterte seine Augen. Ich spürte die Zurückweisung wie einen Stich in der Brust. Dabei war es wirklich albern, das so aufzunehmen. Ich wusste ja schließlich – wusste! –, dass wir nicht zusammen sein konnten. Er hatte Probleme. Ich hatte Probleme. Und dann war da noch dieser Fluch, mit dem ich mich herumschlagen musste. Aber dennoch tat mir seine Reaktion weh.

»Hast du ihr das wirklich erzählt?«, fragte er.

»Ja, habe ich.«

»Aber Lucy …«

Mein Herz klopfte noch wilder, als er meinen Namen aussprach. Ich versuchte, es auf den vielen Kaffee am Morgen zu schieben. »Ja, ich hab sie angelogen. Und ich würde es jederzeit wieder tun. Sie will unbedingt, dass ich Kinder bekomme, und würde mich mit jedem Single im ganzen South-Shore-Gebiet verkuppeln. Es reicht. Ich habe da eine Gelegenheit gewittert, mich geschickt aus der Affäre zu ziehen, und die Chance ergriffen.«

»Also hast du mich benutzt.«

»Im Wesentlichen ja.«

»Das geht schon in Ordnung.«

Sein spöttischer Tonfall brachte mich zum Lächeln. »Leider ist sie ziemlich misstrauisch. Mach dich also auf noch mehr Fragen gefasst.«

»Ich bin vorgewarnt.«

Dicke Regentropfen fielen auf die Windschutzscheibe. Als Erstes wollten wir heute zu Ruth Ann Yurio fahren, der Großmutter von Rachel. Sie lebte in South Weymouth, eine gute halbe Autostunde von meinem Häuschen entfernt.

»Haben die Polizisten versucht, sich mit dir in Verbindung zu setzen?«, fragte ich.

»Angerufen haben sie – ich bin nur nicht rangegangen.«

»Was meinst du, wie lange können wir uns ihren Fragen noch entziehen?«

»Ewig können wir das nicht machen. Aber du solltest so lange wie möglich mauern. Oder zumindest, bis sie glauben, dass wir nichts mit Rachels Tod zu tun haben und einfach nur die Leiche gefunden haben.«

Ich hatte mich fast eine Stunde lang mit Marshall Betancourt unterhalten. Er hatte kein Problem damit, jemanden mit übersinnlichen Fähigkeiten zu vertreten, hatte aber die ganze Zeit Witze darüber gerissen, dass ich doch ganz klar »sehen« würde, wie wenig die Polizei gegen mich in der Hand hatte. Ich musste klarstellen, dass meine Fähigkeiten leider nur sehr beschränkt waren.

»Wirklich schade«, hatte er geantwortet. »Eigentlich hatte ich gehofft, heute Abend im Lotto zu gewinnen.«

In meinen Augen war dieser Spruch überhaupt nicht witzig gewesen.

Am schwierigsten fand ich an meiner neuen Rolle als offiziell geoutete Hellseherin, den Leuten meine Gabe zu erklären. Niemand schien sich dessen bewusst zu sein, dass es viele verschiedene Arten von übernatürlichen Fähigkeiten gab. Manche von uns konnten einfach nur Auren lesen, so wie meine Vorfahren. Bei anderen waren es übersinnliche Wahrnehmungen, Telepathie, Hellseherei oder die Fähigkeit, Botschaften aus dem Jenseits zu übermitteln. Die Liste war eigentlich ziemlich lang. Mein Talent war eine besondere Form der übersinnlichen Wahrnehmung. Ich war davon überzeugt, dass es eine medizinische Erklärung für derartige Fähigkeiten gab – wie war es sonst möglich, dass ein elektrischer Schlag meine Begabung verändert hatte? Irgendetwas in meinem Gehirn war umgepolt worden.

»Konntest du meine Eltern inzwischen ausfindig machen?«

»Sie haben im Hotel ausgecheckt, weil dort unvorhergesehen Renovierungsarbeiten stattfanden.«

Das erklärte so einiges. Lärm hielt mein Vater nun so gar nicht aus.

»Sie haben eine exklusive Privatvilla in einem abgelegenen Teil der Insel gemietet. Ohne Strom oder Telefon.«

Das klang nach etwas, das mein Vater einfädeln würde – und meine Mutter, ein echtes Blumenkind, wäre mit Feuereifer dabei. »Wenn es dort keinen Strom gibt, sind ihre Handys inzwischen sicher auch aus.«

»Genau. Ich habe jemanden dafür bezahlt, sie aufzuspüren und ihnen eine Nachricht zu übermitteln. Sie sollen so schnell wie möglich ihre E-Mails checken und sich bei dir melden.«

»Ihre E-Mails?«

»Ich habe ihnen den Link vom Herald geschickt. Die haben die Story ganz groß auf ihrer Webseite.«

»Na toll.«

Im chaotischen Verlauf des Morgens hatte ich einen Moment Zeit gehabt, um Raphael anzurufen, der heute mal lange im Bett geblieben war und die Zeitung noch gar nicht gesehen hatte. Auszuschlafen sah ihm gar nicht ähnlich, daher hatte ich mich gefragt, ob er wohl alleine war.

Und diese Frage würde mich wohl auch weiterhin beschäftigen, denn so etwas konnte ich ihn nie fragen. Zuerst war er über den Artikel entsetzt gewesen, dann wütend, dann hatte er geflucht, wie ich es noch nie bei ihm erlebt hatte – sowohl auf Spanisch als auch auf Englisch. Er hatte bei mir vorbeischauen wollen, aber ich hatte ihm versichert, dass mit mir alles in Ordnung sei. Schließlich hatte er nachgegeben, aber nicht ohne Preston Bailey noch mit einigen weiteren Kraftausdrücken zu bedenken.

Und ich hatte nichts dagegen einzuwenden. Preston erntete heute vermutlich ihre Lorbeeren, während mein Leben aus den Fugen geriet.

Ich ballte die Hände zu Fäusten. In mir brodelte die Wut und rüttelte an meinen Rippen wie ein Gefangener, der seiner Zelle entkommen will. Ich schloss die Augen und versuchte, mich zu entspannen.

Acht mal sechs gleich achtundvierzig.

Die Quadratwurzel aus vier ist zwei.

Zehn hoch zwei gleich hundert.

Besser. Aber nur ein bisschen. Ich hätte eigentlich nicht gedacht, dass ich nachtragend sei, aber das galt wohl nicht bei neugierigen Reporterinnen.

»Willst du mir etwa eine reinhauen?«, fragte Sean.

Ich schlug die Augen auf. »Was?«

Mit einer Kopfbewegung deutete er auf meine geballten Fäuste. »Willst du mir eine reinhauen?«

Ich löste die Finger und streckte sie. »Dir doch nicht.«

»Vielleicht würde dich das aufmuntern.«

Ein bisschen Sex würde mich auch aufmuntern. Ich fragte mich, ob er dazu wohl bereit wäre.

Therapeutischer Sex. Vielleicht gar keine schlechte Idee.

»Tut mir leid«, sagte er, als hätte er meine Gedanken gelesen.

»Was denn?«, fragte ich. Vielleicht hatte er ja auch übersinnliche Fähigkeiten? Lehnte er damit das Angebot ab, das ich ihm noch gar nicht unterbreitet hatte?

»Dass du das alles durchmachen musst.«

Mein Herz überschlug sich geradezu. Warum machte er es mir so leicht, ihm Hals über Kopf zu verfallen? »Danke.«

Vor dem riesigen Wohnkomplex für Rentner nahe der Route 18, nicht weit entfernt vom South Shore Hospital, bog Sean in den Parkbereich ein. Wir fanden ein Plätzchen, und Sean stellte den Motor ab. Der Regen klopfte melodisch auf das Dach des Wagens, als er sich mir zuwandte.

Bevor ich etwas dagegen tun konnte, hatte er schon mein linkes Handgelenk umfasst.

»Was machst du da?«, fragte ich. Ich war eher neugierig als irgendetwas anderes.

»Was passiert, wenn du mich berührst?«

Mein Mund war plötzlich trocken wie ein Wattebausch. »P-passiert?«

»Siehst du dann irgendetwas, was ich verloren habe?« Mit leichtem Druck drehte er meine Hand um, mit der Handfläche nach oben. Die Wärme seiner Finger prickelte auf der Haut.

»Ich habe noch nie etwas gesehen, was du verloren hast.« Okay. Das war schließlich keine Lüge.

Mit der anderen Hand zeichnete er die Umrisse meiner Finger nach, wie ein kleines Kind, das einen Thanksgiving-Truthahn malt. Er berührte mich überall, nur nicht an der Handfläche, die unangenehm kitzelte.

»Bekommt bei dir jeder eine gewischt?«, fragte er.

»Nein, das mit dem elektrischen Schlag ist nicht normal.« Wasser! Ich brauchte Wasser! »Das passiert nur bei dir.«

»Dann muss ich ja jemand ganz Besonderes sein.«

Ich konzentrierte mich auf seine Lippen, auf mein Verlangen. »Das musst du wohl.«

»Aber du siehst doch etwas, wenn du mich berührst.«

»Nein.« Ich starrte immer noch auf seine Lippen. Wie sie sich bewegten, wenn er sprach. Wie seine Zunge gegen die Zähne stieß. Wie sehr ich mich zu diesem Mund hingezogen fühlte.

»Lügnerin«, sagte er sanft und lehnte sich zu mir vor. »Was siehst du, Lucy?«

Ich konnte kaum noch an mich halten, als seine Finger meine Handfläche entlangfuhren.

Die Bilder kamen langsam und träge. Lippen. Ein Bett.

»Nichts«, wiederholte ich und schloss angesichts dieser Lüge die Augen.

»Nichts?« Wieder berührte er meine Handfläche.

Lippen, die sich treffen. Hände, die unsere Körper erforschen. Eine nackte Brust. Ein heißer Blick.

Ich riss die Augen auf, befreite hastig meine Hand und schob sie mir schützend unter den Arm.

Der Regen war stärker geworden und schlug gegen die Windschutzscheibe. Ich war völlig durcheinander und versuchte, ihn nicht anzusehen, aber ich hatte nicht die Kraft, mich dagegen zu wehren, als er mein Kinn anhob. Sein Daumen berührte dabei meine Unterlippe. Ich glaube, ich muss wohl gestöhnt haben.

»Ich kann es nicht sehen, Lucy.« Er hielt die Hand hoch. »Aber ich kann es spüren

»Ich verstehe das einfach nicht«, schnaufte ich. Tränen schossen mir in die Augen, so sehr wollte ich ihn. »Ich kann es nicht erklären. Und es bringt auch gar nichts, darüber zu reden. Wir sollten gehen.«

Ich öffnete die Tür auf meiner Seite und gab ihm dadurch nicht die Gelegenheit, mir zu widersprechen. Dann rannte ich auf das Hauptgebäude zu, wich Pfützen aus und bemühte mich, nicht an die Schmerzen zu denken.

Unter dem Schutz des Vordachs rieb ich mir die Augen und schalt mich selbst für meine überbordenden Gefühle. Sean lief über den Parkplatz, sein Hemd wurde ganz nass. Er fuhr sich mit den Fingern durch das feuchte Haar, sodass es stachelig nach allen Seiten abstand. Mir fiel auf, dass er keuchend atmete.

»Geht es dir gut?«, fragte ich.

»Alles in Ordnung.«

Ich sah ihn lange prüfend an. Äußerlich war er perfekt in Form. Auf der Heiße-Typen-Skala würde er zehn Punkte erzielen. Was war mit ihm bloß passiert? Welche Verletzung hatte ihn dazu gezwungen, bei der Feuerwehr aufzuhören? Warum hatte er so gar keine Kondition?

Wir machten uns über einen Außenkorridor auf den Weg zu Ruth Anns Wohnung. Als wir schließlich bei ihr klingelten, waren wir klitschnass.

»Meinst du, sie wird überhaupt mit uns sprechen?«

Sean zuckte mit den Achseln. »Man kann nie wissen.«

Die Tür wurde langsam geöffnet. Sanfte Falten umrahmten ein herzförmiges Gesicht. »Ja?«

»Mrs Yurio?«

Die Frau schüttelte den Kopf. »Nein, Schätzchen.«

»Ist Mrs Yurio denn da?«, erkundigte ich mich.

»Darf ich fragen, worum es geht?«

Tropfnass erwiderte ich: »Ich bin Lucy Valentine und das ist Sean Donahue. Wir würden mit Mrs Yurio gerne über Rachel sprechen.«

»Valentine?«, fragte die Dame zögernd. Die Fältchen um ihre Augen verstärkten sich noch.

»Ja, Madam.«

»Sind Sie die Frau, die heute in der Zeitung stand?«

Ich atmete einmal tief durch und bestätigte dann.

Sie machte die Tür weiter auf. »Kommen Sie doch herein.«

Das Apartment bestand aus offenen Räumen, die ineinander übergingen und nur durch Säulen abgetrennt waren. Ein Vanillearoma lag in der Luft, als die alte Dame uns zu zwei brokatbezogenen Sofas führte, die einander gegenüberstanden. Der Duft konnte einen gewissen Krankenhausgeruch nicht völlig überdecken.

»Ich hole erst mal ein paar Handtücher«, sagte sie und verschwand in einem engen Korridor.

Als sie zurückkam, legte sie zwei Badetücher aufs Sofa. »Ich bin Marilyn Flynn. Ich kümmere mich um Ruth Ann.«

»Kümmern?«, fragte ich.

Sie deutete mit einer Kopfbewegung auf eine offene Tür im Flur. Man konnte das Gestell eines Krankenhausbettes erahnen. »Sie hatte vor vielen Jahren einen Schlaganfall und hat sich davon nie wieder richtig erholt. Sie ist nicht ganz da«, erklärte sie sanft.

»Wie lange ist das her?«, fragte Sean.

»So etwa acht Jahre.«

Acht Jahre? »War es denn nicht sie, die Rachel als vermisst gemeldet hat?«

Die Frau lächelte matt. »Im Prinzip schon. Als Rachel vor sechs Jahren an Weihnachten nicht bei uns vorbeischaute, wusste ich, dass etwas Schreckliches passiert sein musste. An den Feiertagen meldete sie sich sonst immer. Ich bin mit Ruth Ann zur Polizei gegangen, und wir haben eine Vermisstenmeldung aufgegeben. Damals war sie noch einigermaßen mobil, aber ich habe die meisten Informationen geliefert.«

»Sind Sie eine Verwandte?«, erkundigte sich Sean.

»Ich bin ihre Familie, auch wenn das Blut etwas anderes sagt«, erklärte sie. »Ruth Ann und ich sind zusammen aufgewachsen. Nach dem Schlaganfall haben es weder Rachel noch ich übers Herz gebracht, sie in ein Heim zu stecken, also habe ich mich angeboten, bei ihr einzuziehen und sie zu versorgen, auch wenn sie sich nicht mehr an mich erinnert.«

Die Liebe in der Stimme der Frau brach mir das Herz. »Das tut mir so leid.«

»Danke. Kaffee? Tee?«, fragte sie. »Damit Sie ein wenig warm werden?«

»Nein, danke«, lehnten Sean und ich gleichzeitig ab.

Sie ließ sich langsam auf der Couch gegenüber nieder und stützte sich grazil auf dem Rand eines Kissens ab. Ihre gebeugte Haltung und die fahle Haut deuteten auf gesundheitliche Probleme hin, ihr Blick war jedoch klar. Schulterlanges weißes Haar umrahmte wie der Flaum einer Pusteblume ihr Gesicht.

»Dann kannten Sie Rachel also gut?«, fragte Sean.

»Ich war wie eine Tante für sie. Wie gesagt, blutsverwandt waren wir nicht, aber der Liebe sind solche Unterschiede egal.«

Wohl wahr. »Unser Beileid.«

Sie nickte.

»Ich weiß gar nicht so recht, wo ich anfangen soll«, sagte ich und spielte nervös mit den Fingern herum. »Wir, Sean und ich, wir haben ihre Leiche gefunden.«

Sie schloss die papierdünnen Lider. »Ich kann immer noch nicht fassen, dass es wirklich sie ist. Sie ist schon so lange fort. Es ist ein Segen und ein Fluch zugleich. Wie haben Sie sie gefunden?«

Nach und nach berichtete ich ihr von Michael und von dem Ring, der uns zu dem Leichnam geführt hatte. Es war verrückt, so offen über meine Fähigkeiten sprechen zu können.

Marilyn fasste sich an den Kopf. Rund um ihren Mund verzogen sich die Falten zu glatter Haut. »Ich habe schon vor Jahren um sie getrauert. Ich wusste, dass sie nicht zurückkommen würde. Sie war immer schon sehr unabhängig, aber ihre Großmutter war ihr Ein und Alles. Als wir an Weihnachten nichts von ihr hörten, fuhr ich zu ihrer Wohnung und meldete sie dann als vermisst. Die Polizei wollte nie glauben, dass ihr etwas zugestoßen war, aber ich war mir sicher.«

»Weshalb?«

Sie blinzelte zweimal. »In ihrer Wohnung fand ich ihr Medaillon auf dem Fußboden – der Verschluss der Kette war kaputt, als ob sie ihr jemand vom Hals gerissen hätte. Rachel hat dieses Medaillon immer getragen. Es war ein Geschenk, das sie von ihren Eltern bekommen hatte, bevor diese ums Leben kamen. Das hätte sie niemals freiwillig zurückgelassen.«

»Hat die Polizei Anzeichen für einen Kampf gefunden?«, fragte Sean.

»Nein. Es gab keine. Mal abgesehen vom Medaillon. Es gab keinen Beweis dafür, dass ihr etwas zugestoßen war, nichts. Aber ich wusste es …« Ihre Stimme war immer leiser geworden.

»Wie alt war Rachel, als ihre Eltern starben?«, fragte ich.

»Sechs. Ein Autounfall. Von dem Moment an war sie völlig verändert. Trotzig, traurig. Das war zu erwarten gewesen, meinten die Psychiater. Als sie älter wurde, zog sie sich völlig zurück.« Marilyn schüttelte den Kopf. »Ich bin nicht sicher, was aus ihr geworden wäre, wenn ihre Freundinnen nicht für sie da gewesen wären.«

»Elena?«, fragte ich.

»Und Jennifer«, ergänzte sie.

Zufall? »Jennifer Thompson?«

»Genau. Die ganze Junior High hindurch waren die drei unzertrennlich.«

Ich musste plötzlich an Marisol, Em und mich denken.

»Leider zerbrach die Freundschaft zu Jennifer in der Highschool.«

»Wegen Michael«, ergänzte Sean.

Sie lächelte. »Das war so albern. Jennifer hatte das, was Elena wollte. Über diesen angeblichen ›Verrat‹ ist Elena nie hinweggekommen. Und sie hat sich danach viel zu lange an diese Michael-Besessenheit geklammert. Es gibt nichts Schlimmeres, als auf die beste Freundin eifersüchtig zu sein oder zu glauben, dass man um die große Liebe betrogen wurde. Rachel hat zu Elena gehalten, vor allem, weil sie nicht wollte, dass die auf einmal niemanden mehr hatte.«

Marisol, Em und ich hatten nie zugelassen, dass sich ein Mann zwischen uns stellte. Denn das wäre mit Sicherheit übel ausgegangen.

»Wissen Sie, was mit Jennifer passiert ist?«, fragte ich.

Sie schüttelte den Kopf. »Sie hat sich wohl von Michael getrennt, das war das Letzte, was ich von ihr gehört habe. Es war Rachel ziemlich peinlich, welche Rolle sie dabei gespielt hat, und sie hat Michael irgendwann alles gestanden.«

»Wussten Sie von dem schlimmen Streit zwischen Elena und Rachel?«, fragte Sean.

Sie nickte. »Elena ist noch an jenem Abend aus ihrer gemeinsamen Wohnung ausgezogen.«

»Wie hat Rachel das aufgenommen?«

»Sie war am Boden zerstört.« Marilyn strich sich den eigentlich bereits faltenfreien Rock glatt. »Ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen – ich wollte Elena ja mögen. Aber sie war … hart. Sie wurde von einem alleinerziehenden Vater großgezogen, einem Alkoholiker. Bettelarm. Ich konnte ihr nie richtig vertrauen. Diese Augen. Die waren wirklich unheimlich. In ihr war irgendetwas zerbrochen, wenn Sie verstehen. Rachel hatte ein gutes Herz und zeigte Verständnis für sie. Sie war sicher, dass Elena tief in ihrem Inneren ein guter Mensch war, auch wenn die offenbar ständig versuchte, das Gegenteil zu beweisen.«

»Wie das?«, erkundigte sich Sean.

»Suchen Sie sich etwas aus. Stehlen, betrügen, schlagen, andere schikanieren. Und die arme Jenny Thompson hat das meiste abbekommen. Elena hat einen furchtbaren Groll gegen sie gehegt.«

»Denken Sie, Elena hätte Rachel etwas antun können?«, wollte ich wissen.

»Ich möchte gerne glauben, dass sie Rachel dafür zu gern hatte. Aber ich hatte schon immer den Eindruck, dass Elena einfach auf jeden losgegangen wäre, der ihr in die Quere kam. Und das alles habe ich den Beamten von der State Police auch gesagt.«

Sean fragte: »Wurde sie offiziell verdächtigt?«

»Ich weiß es nicht. Der einzige Name, der erwähnt wurde, war der von Michael.«

Regentropfen rannen mir die Wirbelsäule hinunter. »Lebt Elenas Vater noch immer hier in der Gegend?«

»Er ist bei einem Brand ums Leben gekommen, als sie achtzehn war. Ansonsten hatte sie keine Familie mehr, soweit ich weiß.«

»Was haben Sie mit Rachels persönlichen Gegenständen gemacht?«, erkundigte sich Sean.

»Die habe ich eingelagert.«

»Hat die Polizei davon etwas mitgenommen?«

»Die haben nie nach ihren Sachen gefragt. Als wir damals die Vermisstenanzeige aufgegeben haben, sind sie alles durchgegangen, aber jetzt haben sie es sich nicht noch einmal angesehen.«

»Könnten wir einen Blick darauf werfen?«, bat Sean.

»Wozu?«, fragte sie.

Ich erklärte ihr meine Ring-Theorie. »Michael kann deshalb gar nicht der Täter sein. Und wenn er unschuldig ist …«

»Dann läuft Rachels Mörder noch immer frei herum.«

Ich nickte. »Genau. Vielleicht ist unter ihren Sachen irgendetwas, was uns in die richtige Richtung lenken kann. Wissen Sie zufällig, warum Rachel den Ring hatte?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe wirklich keine Ahnung. Sind Sie sicher, dass Sie nicht doch etwas trinken möchten?«

Wir lehnten ab.

»Ich hole eben den Schlüssel für den Lagerraum«, erklärte Marilyn. »Ich weiß gar nicht genau, warum ich ihre Sachen überhaupt noch aufbewahre. Vermutlich habe ich innerlich doch gehofft, dass ich falschliege. Dass Rachel eines Tages wieder nach Hause kommen wird.« Sie zog einen Schlüssel aus einer Küchenschublade und reichte ihn Sean.

Ich presste die Hände ineinander. »Ich kann Ihnen nicht genug dafür danken, dass Sie sich für uns Zeit genommen haben. Ich fühle mich … beinahe dafür verantwortlich, wie es jetzt weitergeht.«

Sie nahm mich in den Arm. »Danke für alles, was Sie bereits getan haben. Jetzt kann ich Rachel wenigstens angemessen bestatten.«

»Wenn wir irgendetwas finden sollten«, sagte Sean, während er die Tür öffnete und wir sahen, dass es nicht mehr regnete, »melden wir uns bei Ihnen.«

»Warten Sie«, bat sie und griff nach meiner Hand.

Bilder wirbelten durch meinen Kopf. Ich schwankte und hielt mich am Türpfosten fest.

»Wenn Sie Rachels Sachen durchgehen und dabei ein kleines, mit Steinen besetztes Schmuckkästchen finden, könnten Sie mir das dann mitbringen? Als ich alles verstaut habe, konnte ich es nicht finden. Das Kästchen habe ich ihr mal geschenkt, und ich würde es gerne behalten.«

Die Bilder führten mich an Straßen entlang, durch enge Gassen, über Bahnschienen und schließlich zu einem gelben Häuschen. Auf einem Nachttisch neben einem riesigen Doppelbett stand eine kleine, mit Steinen besetzte Schatulle.

»Das machen wir«, versprach Sean.

Ich löste meine Hand und presste sie mir an die Brust. Die Bilder lösten sich auf.

»Ruth Ann hat mir geholfen, das Kästchen als Geschenk zu Rachels Highschool-Abschluss auszusuchen. Ich hoffe, sie hat es aufbewahrt. Ich würde es Ruth Ann so gerne geben. Vielleicht werden dann ein paar Erinnerungen wach. Alles in Ordnung, Schätzchen?«, fragte mich Marilyn. »Sie sind auf einmal ganz blass.«

»Ja, es geht mir gut, danke. Wir bleiben in Kontakt.«

Sobald wir zur Tür hinaus waren, legte Sean den Arm um mich. »Was war denn da drin los?«

»Ich habe das Kästchen gesehen. Und es war nicht im Lagerhaus.«