12

Detective Lieutenant Holliday war jetzt auf der Hut. »Ich denke nicht, dass das eine gute Idee ist. Warum erklären Sie mir nicht, wo er ist, und ich hole ihn dann.«

Seine Stimme hatte inzwischen den Tonfall angenommen, in dem man wohl mit Verrückten spricht.

»Ich kann Ihnen den Weg nicht beschreiben«, erklärte ich. »Das Gestrüpp ist zu dicht. Ich muss den Bildern in meinem Kopf folgen.«

»Was sind Sie?«, fragte John. »Eine Hellseherin?«

Ich ignorierte ihn. »Er lebt. Er ist etwa zwei oder drei Meilen von der Bootsrampe entfernt. In einem hohlen Baum. Er weint«, fügte ich leise hinzu.

John packte mich am Arm. »Zeigen Sie mir den Weg!«

»Moment«, warf Holliday ein und zog John von mir weg. »Ich hole Verstärkung.«

Panik überkam mich. Je weniger Menschen von mir wussten, desto besser. »Nein!«

»Warum nicht?«, wollte Holliday wissen.

»Nicht noch mehr Leute. Bitte.« Ich sah mich um. In der Nähe der Straße standen zwei Quads, überwacht von einem Beamten der Lokalpolizei. »Wir nehmen die Geländefahrzeuge und machen uns direkt auf den Weg. Wenn wir Max erst gefunden haben, können Sie immer noch Verstärkung rufen.«

»Mir passt Ihr Plan nicht.«

»Und was ist mit meiner Frau?«, erkundigte sich John.

Ich konnte jetzt nicht nachgeben. »Sie wird Max früh genug sehen. Noch mehr Leute sind mir nicht recht. Wir machen es auf meine Art, oder ich gehe.« Es war eine nicht sehr überzeugende Drohung, die ich doch nie wahrgemacht hätte. Nicht, wenn Max’ Leben auf dem Spiel stand.

»Mein Gott«, flehte John. »Können wir nicht einfach fahren?«

»Na gut«, gab Holliday widerwillig nach.

Auf dem Parkplatz auf der anderen Straßenseite gab Holliday dem Lokalbeamten ein Zeichen, und ich setzte mich auf eins der Quads. Es war schon ein paar Jährchen her, dass ich so ein Gefährt in den Dünen am Strand von Plymouth gelenkt hatte.

John stieg auf das andere Fahrzeug. Holliday stand da und sah hin und her. Offensichtlich wusste er nicht, bei wem er besser mitfahren sollte. Nach kurzem Überlegen stieg er zu mir auf und brauchte eine Weile, um sich darüber klar zu werden, was er mit seinen Händen anfangen sollte. Schließlich beschloss er, sich einfach am Sitz festzuhalten.

Ich schob mir das Kleid unter die Beine und schüttelte die Stöckelschuhe von den Füßen. Lieber barfuß, als damit irgendwo hängen zu bleiben.

Dann bat ich John, uns den Weg zur Bootsrampe zu zeigen, denn dort hatte meine Vision eingesetzt. Müde aussehende Suchende traten beiseite, als wir vorbeifuhren. An der Bootsrampe übernahm ich die Führung. Bald waren wir mitten im Wald, holperten über Baumwurzeln, quetschten uns durch enge Zwischenräume und rissen dabei kleinere Pflanzen aus.

Die Scheinwerfer der Quads warfen im dunklen Wald ein gespenstisches Licht voraus. Von Zeit zu Zeit leuchteten uns aus dem Dickicht die schillernden Augen irgendeines nachtaktiven Tieres entgegen.

Ich war dankbar für die Wärme, die Holliday hinter mir ausstrahlte. Mir war so kalt. Ein ums andere Mal rief ich mir in Erinnerung, dass diese Unannehmlichkeiten nichts im Vergleich zu dem waren, was Max durchmachen musste.

Ich folgte den Bildern in meinem Kopf. Der Pfad schien sich zu sehr zu verengen, und ich wurde langsamer.

»Was ist los?«, brüllte Holliday, um den Motorenlärm zu übertönen.

»Ich brauche einen Moment«, rief ich zurück.

»Wenn das jetzt alles umsonst …«

»Pst«, schnitt ich ihm das Wort ab.

Ich schloss die Augen und gab mich ganz den Bildern hin. Es war schwierig, die Dinge in der Dunkelheit wiederzuerkennen, aber mir war sofort klar, dass wir zu weit gefahren waren. »Wir müssen zurück. Wir sind schon vorbeigefahren.«

»Ich dachte, Sie wüssten, was Sie tun«, bemerkte der Polizist trocken.

»Halten Sie den Mund. Bitte.« Ich verließ den Pfad, um zu drehen.

»Was ist los?«, fragte John, als wir kehrtmachten.

»Wir sind zu weit gefahren«, rief ich zu ihm hinüber.

Ich las die Enttäuschung auf seinem Gesicht. Und dann auch die Zweifel. Er dachte, ich hätte ihn aus Jux und Tollerei hier herausgeführt, dass ich eine Verrückte war, die nur ein Spielchen mit ihm trieb.

Bevor ich noch allzu lange darüber nachdachte, fuhr ich lieber weiter.

»Vielleicht sollte ich mal übernehmen«, knurrte Holliday in mein Ohr.

»Nein.«

»Das war keine Bitte. Halten Sie an!«

Das Licht des Scheinwerfers fiel auf einen alten Baumstumpf. Den erkannte ich wieder. Max war nicht mehr weit.

»In einer Minute«, rief ich über meine Schulter.

Ich spürte, wie Holliday jeden Muskel anspannte. »Jetzt sofort. Wenn es sein muss, wende ich Gewalt an. Ich will Ihnen nicht wehtun, Madam.«

»Zu spät«, hätte ich am liebsten erwidert. Warum ärgerte es mich so, wenn man mir nicht glaubte? Vielleicht war es eine kluge Entscheidung meiner Eltern gewesen, meine Gabe immer geheim zu halten.

Ich fuhr noch etwa fünf Meter weiter, ließ das Quad quer auf dem Pfad stehen und stieg ab.

John hielt hinter uns an.

»Sie haben unsere Zeit vergeudet«, stellte Holliday fest. »Was Sie diesem Mann angetan haben, ist unfassbar grausam. Dafür werden Sie bezahlen, das können Sie mir glauben!«

Mit Tränen in den Augen sah ich ihn an und schüttelte den Kopf. Ich hatte eine Gänsehaut und einen Kloß im Hals. Ich blickte zurück über meine Schulter. »Mr O’Brien?«, sagte ich.

»Was?« Das einzelne Wort verströmte so viel Wut.

»Ich glaube, Ihr Sohn wartet auf Sie.« Ich zeigte auf den hohlen Baumstamm, der etwa sechs Meter vom Pfad entfernt im Scheinwerferlicht des Quad lag. Ein kleiner Junge steckte seinen Kopf heraus und blickte mit großen, angsterfüllten Augen in das gleißende Licht.

»Max!«, rief John und rannte in seine Richtung. In seiner Hast stolperte er auf dem Weg zu seinem Sohn. »O mein Gott, Max. Ich bin’s, Daddy!«

»Ach du Scheiße«, stieß Holliday aus und griff nach seinem Funkgerät.

Während er seine Kollegen informierte, beobachtete ich das Wiedersehen zwischen Vater und Sohn. Aber John O’Briens Schluchzen war zu viel für mich, und ich musste den Blick abwenden.

In der Ferne war lautes Jubeln zu hören. Die Kommandozentrale hatte die Nachricht gerade erhalten. Während immer neues Freudengeschrei laut wurde, konnte ich die Tränen nicht länger zurückhalten.

Das.

Das war es, wonach ich mich den größten Teil meines Lebens gesehnt hatte. Ich hatte endlich einmal das Gefühl, dass mein Leben einen Sinn hatte. Dass meine Gabe für etwas gut war.

Holliday sprach abwechselnd in sein Funkgerät und mit Max. Irgendwann sah er mich über seine Schulter hinweg an. »Wo, zum Teufel, sind wir hier?«

Offensichtlich war weiteres Rettungspersonal unterwegs. »Ich habe keine Ahnung«, gab ich ehrlich zu. »Aber ich könnte vermutlich den Weg zurück zur Bootsrampe finden.«

Er sprach erneut in sein Funkgerät.

Max klammerte sich an die Schulter seines Vaters. Sein schmutziges Gesicht war tränenverschmiert. Ich hielt mich im Hintergrund, denn ich wusste intuitiv, dass man manche Augenblicke einfach nicht unterbrechen sollte, obwohl ich mir nichts mehr wünschte, als Max selbst in die Arme zu schließen.

»Lasst uns zurückfahren«, beschloss Holliday. Er sah mich an. »Sie können wieder lenken.«

Ich hatte den Eindruck, dass das wohl als Entschuldigung gedacht war.

Ich dachte an die Frau im Great Esker und fragte mich, ob die Polizei ihren Leichnam schon exhumiert hatte.

Das Verschwinden von Max hatte ein Happy End gefunden, ihr Schicksal dagegen hatte keine so gute Wendung genommen.

Ich fuhr langsam zurück. Die Quads waren laut, aber nicht laut genug, um die Jubelrufe der Leute an der Anlegestelle zu übertönen. Es kam mir vor, als hätte sich dort jeder im Park versammelt.

Als wir näher kamen, steuerte ich zur Seite und bedeutete John mit einer Geste, neben mir zu halten. »Fahren Sie vor«, rief ich ihm zu und machte eine Kopfbewegung in Richtung Ende des Pfades.

»Lass uns zu Mommy fahren«, sagte John zu seinem kleinen Jungen. In den Augen des Kindes stand noch immer die Angst. Ich vermutete, dass es noch lange dauern würde, bis er losließ – seinen Vater und seine Ängste.

Ich wartete einen Augenblick und folgte dann. Ich würde ja gerne behaupten, dass ich ihnen völlig uneigennützig den Vortritt gelassen hatte, aber so war es nicht. Wenn ich verschwinden wollte, ohne neugierige Fragen zu beantworten, musste ich für Ablenkung sorgen.

Genau, wie ich es vorhergesehen hatte, brach Chaos aus, als John und Max die Lichtung erreichten. Ich fuhr an den Rand des Pfades, stoppte, bevor ich die jubelnde Menge erreichte, und schaltete den Motor aus. Holliday sprang zu Boden und wollte mir die Hand reichen. »Ich glaube, ich bleibe lieber hier sitzen«, lehnte ich ab. »Meine Füße …«

Sie waren zerkratzt, blutig und fast taub vor Kälte.

»Warten Sie hier«, wies er mich an. »Ich suche mal nach einer Decke und sehe, ob ich Ihre Schuhe finde.«

»Aye, aye.«

Sobald er im Gedränge verschwunden war, startete ich augenblicklich das Quad, umrundete die Menschenmenge und machte mich auf den Weg zur Kommandozentrale. Während der Jubel der feiernden Menschen immer leiser wurde, gab ich richtig Gas und raste voran, so schnell ich konnte.

Der Bereich rund um den Haupteingang war völlig verwaist. Ich fuhr direkt zu meinem Auto, parkte das Geländefahrzeug und sprang zu Boden. Meine Füße brannten höllisch.

Im Inneren des Wagens zog ich mir die Mütze vom Kopf und stellte die Heizung auf höchster Stufe an. Ich fuhr direkt nach Hause. Ich war völlig durchgefroren, meine Füße waren voller Schnitte und Abschürfungen, und ich hatte furchtbare Angst, dass man entdecken würde, wer ich war. Und dennoch – ich konnte nicht aufhören zu lächeln.

Als ich die Haustür öffnete, stand Grendel vor mir und maunzte mich an, weil ich so spät heimkam.

Ich lauschte, ob ich wohl das Quietschen von Odysseus’ Laufrad hören würde, aber es war ganz still. Nur Grendel fuhr mit seiner Standpauke fort. Ich streifte den Trenchcoat ab und versuchte, meinen Kater zu beruhigen, während ich vorsichtig zur Küche humpelte und dort das Licht einschaltete.

Auf meinem Küchentresen stand eine leere Flasche Wein. Offensichtlich war Dovie hier gewesen, sie schmiedete vermutlich schon wieder neue Verkupplungspläne und hatte hier auf der Lauer gelegen. Ich spülte die Flasche aus und stellte sie zum Altglas.

Dann machte ich Schränke auf und zu, bis ich endlich etwas zu essen fand, auf das ich Appetit hatte (einen Twinkie), und schüttete etwas Trockenfutter in Grendels Schälchen. Was er ignorierte, obwohl er mit Sicherheit Hunger haben musste.

»Wie du willst!«, sagte ich zu ihm.

»Meine Güte, geht es vielleicht noch lauter?«, ertönte eine Frauenstimme aus meinem Schlafzimmer.

Ich ließ meinen Twinkie fallen.

Grendel stürzte sich darauf.

»Em?«, rief ich fragend.

Tatsächlich tapste Em aus meinem Schlafzimmer. Sie trug einen meiner Schlafanzüge und hatte ihre roten Haare nachlässig zu zwei Rattenschwänzchen zusammengebunden. Sie schwankte ein wenig und hielt sich am Küchentresen fest.

Sie sah aus wie Pippi Langstrumpf im Vollrausch und lallte: »Machst du immer so einen Lärm?«

Ich wusste nicht, ob ich lachen oder weinen sollte. Es war alles in Ordnung mit ihr. Niemand hatte sie umgebracht und in den Charles River geworfen – ein Szenario, das sich meine allzu blühende Fantasie nach Marisols zweitem Anruf bereits ausgemalt hatte.

»Was, zum Teufel, ist denn los?«, fragte ich. »Wir haben uns zu Tode geängstigt. Und seit wann trinkst du Alkohol? Ich dachte, nach dem letzten Mal hättest du damit aufgehört? Erinnerst du dich denn gar nicht mehr an die Robben-Ausstellung im Aquarium?«

»Ich hab mir gedacht, dass ich hier sicher bin.« Sie ließ sich auf einen Hocker sinken, rutschte aber ab und konnte sich gerade noch fangen, sonst wäre sie auf Grendel gefallen, der den Twinkie unter den Esstisch zerrte.

»Sicher vor wem?«

»Vor mir selbst«, murmelte sie.

Eine äußerst viel sagende Äußerung. Heute Abend würde ich den Gründen für ihr Besäufnis wohl nicht mehr auf die Spur kommen, also ließ ich ihr die Bemerkung einfach durchgehen.

»Wie bist du überhaupt hierhergekommen? Ich hab draußen gar kein Auto gesehen.«

»Taxi. Miez, Miez, Miez!«

Grendel machte einen großen Bogen um sie.

Ich brauchte nicht zu fragen, wie sie reingekommen war – sie hatte einen Schlüssel. Jede von uns hatte einen Schlüssel für die Wohnung der anderen.

Ich griff zum schnurlosen Telefon an der Wand und rief Marisol an. Sie ging beim ersten Klingeln ran, als hätte sie mit dem Hörer unterm Kopfkissen geschlafen.

»Sie ist hier«, erklärte ich. »Sturzbetrunken, aber unversehrt.«

»Ich bring sie um«, knurrte Marisol. »Gib sie mir!«

Ich reichte das Telefon an Em weiter, die sich erfolglos dagegen wehrte. »Hi, Marisol«, nuschelte sie schließlich in den Hörer.

Ich konnte Marisols Stimme hören, die Worte aber nicht verstehen. Ihr südliches Temperament war nur schwer zu bändigen.

Nach einer Minute schweigendem Zuhören gab Em mir das Telefon zurück, rutschte vom Hocker und stapfte schwankend wieder ins Schlafzimmer. Ich sah ihr hinterher.

»Ist alles in Ordnung mit ihr?«, wollte Marisol wissen.

»Es sieht so aus, aber irgendwas hat sie offensichtlich.«

Ich zog kurz in Erwägung, Kaffee aufzusetzen und sie auszunüchtern, beschloss dann aber, sie in Ruhe zu lassen. Es reichte, wenn ich am nächsten Tag eine Erklärung von ihr verlangte.

»Soll ich vorbeikommen?«

»Nee. Das bringt ja nichts. Ich denke, sie muss sich jetzt richtig ausschlafen.«

»Gut, dann ruf mich morgen an, in Ordnung?«

»In Ordnung«, sagte ich und legte auf.

Ich suchte nach einem weiteren Twinkie und spülte ihn mit einem Glas Milch herunter.

Mein gesundheitsbewusster Vater hätte einen Anfall bekommen, wenn er gewusst hätte, dass ich mich so ernährte.

Es war schon spät, nach zehn Uhr, aber ich rief noch kurz auf Seans Handy an. Ich war überrascht, als er ranging – eigentlich wollte ich ihm eine Nachricht hinterlassen.

»Hier ist Lucy«, sagte ich lahm.

»Es ist schon ziemlich spät«, gab er zurück.

Ich hopste auf den Küchentresen, bemüht, nicht an meine Füße zu denken. Sie taten weh, und beim Anblick des Blutes drehte sich mir der Magen um. »Ich hoffe, ich störe nicht.«

»Ich bin gerade bei einer Observierung.«

»Du liegst auf der Lauer? Ist das so spannend, wie es klingt?«

»Wohl kaum. Was ist denn los?«

»Ich weiß auch nicht. Ich wollte nur sichergehen, dass mit dir alles in Ordnung ist«, sagte ich und überlegte, ob ich wohl Bittersalz dahatte, um meine Füße in einer Lösung zu baden.

Oder vielleicht wäre ein Fußbad mit Wasserstoffperoxid besser. Wenn ich die Wunden nicht gründlich säuberte, würde ich mir bestimmt eine Infektion holen.

»Mir geht’s gut. Hast du die Nachrichten gesehen?«

»Nein.« Schließlich war ich ziemlich beschäftigt gewesen.

»Im Auftrag des Bezirksstaatsanwalts untersucht das Büro der State Police in Norfolk das Skelett, das im Park gefunden wurde, zusammen mit der Polizei von Weymouth. Der Reporter hat erzählt, dass ein Zeuge am Tatort ein Pärchen mit einem kleinen Hund gesehen hat. Es gab eine ungefähre Beschreibung von uns, aber sonst nicht viel.«

Ich atmete tief durch. »Gut.«

»Du klingst müde.«

»Ich hatte einen langen Tag.«

»War das Date ein Reinfall?«

»Es hat überhaupt nicht stattgefunden«, erklärte ich.

»Gut.«

»Sean …«

»Ich weiß, ich weiß«, sagte er.

Ich sollte besser Schluss machen, bevor noch der Gedanke an Telefonsex aufkam. Ich wünschte ihm noch einen schönen Abend und legte auf.

Vorsichtig humpelte ich ins Schlafzimmer und knipste im angrenzenden Bad das Licht an. So hatte ich es hell genug, um mich zurechtzufinden, störte Em aber weniger.

Sie murrte und zog sich das Kissen übers Gesicht. Ich machte eine Bestandsaufnahme. Ihre Kleidung lag zu einem ordentlichen Stapel gefaltet neben meinem Bett. Sie selbst hatte sich in einer Ecke des Bettes zusammengerollt. Das sah richtig gemütlich aus. Ich störte sie ja nur ungern, aber es gab da etwas, was ich wissen musste.

Ich setzte mich auf die Bettkante. »Em?«

»Was?«, seufzte sie.

»Wo steckt der Hamster?«

Sie nahm das Kissen vom Gesicht. »Die Ratte ist im Schrank. Das blöde Rad war so laut.«

Ich lächelte. Wie eloquent sie war, wenn sie getrunken hatte.

Sie versteckte sich wieder hinter dem Kissen und rollte sich noch enger zusammen. »Gute Nacht«, murmelte sie.

Zumindest für eine von uns würde sie das werden.

Ich rettete Odysseus aus dem Schrank, brachte ihn in die Küche und fütterte ihn mit ein paar Fruit Loops. Grendel bot ich auch welche an, er war aber nicht daran interessiert, bis ich sie auf den Boden fallen ließ, sodass er seine »Beute« in Sicherheit bringen konnte.

Ich warf einen Blick in Richtung Fernseher und überlegte, ob ich die Nachrichten einschalten sollte, beschloss jedoch, dass es für heute genug war.

Dann kümmerte ich mich endlich um meine Füße und säuberte die Schnitte und Kratzer, so gut es ging. Auf eine ganz besonders schlimme Wunde am linken Fuß kam ein Klammerpflaster. Das musste wohl eigentlich genäht werden, doch vermutlich hatte Detective Lieutenant Holliday alle Krankenhäuser darüber informiert, dass nach einer Frau mit Fußverletzungen gesucht wurde.

Pure Ironie, immerhin lag da eine Ärztin in meinem Bett – ich war aber nicht bereit, sie deshalb aufzuwecken. Selbst wenn sie nüchtern wäre, würde ich sie schlafen lassen. Wenn ich die Familiengeheimnisse der Valentines bewahren wollte, durfte ich niemandem verraten, dass ich heute Abend in Wompatuck gewesen war. Durch meine Anwesenheit dort hatte ich bereits zu viel riskiert. Jetzt musste ich einfach hoffen, dass man mich nie damit in Verbindung bringen würde.

Das alles ging mir durch den Kopf, als ich mir endlich den Schlafanzug anzog und mich mit einem Kissen und einer Decke auf die Couch legte. Ich musste früh raus, und dann wollte ich Em nicht wecken.

Noch immer umspielte ein Lächeln meine Lippen. Max war gesund und munter. Ich hatte ihn gefunden.

Grendel sprang auf mich und begann, auf meinem Bauch zu treteln. Odysseus lief in seinem Rad einen Marathon. Ich versuchte, jeden Gedanken an das Skelett zu verdrängen. Heute Nacht wollte ich mich nur im Glanz der Glückseligkeit sonnen.

Während ich langsam eindöste, ging mir durch den Kopf, dass ich Em in einem Punkt Recht geben musste. Das verdammte Rädchen war wirklich furchtbar laut.