7

Die Züge der Greenbush Line pendelten zwischen South Shore und Boston hin und her. Ich nahm lieber die Fähre, obwohl das länger dauerte. Nur wenn ich es eilig hatte, nahm ich den Zug.

So wie an diesem Tag.

Ich hatte verschlafen und war drauf und dran, zu meinem ersten Termin heute zu spät zu kommen, einer Nachbesprechung mit einer Dame namens Mary Keegan. Ich musste so schnell wie möglich in die Stadt. Also rief ich Raphael an und bat ihn, mich statt an der Anlegestelle an der South Station abzuholen.

Suzannah war problemlos dazu in der Lage, im Büro allein die Stellung zu halten, das machte sie schon seit Jahren, seit sie damals auf der Suche nach Liebe in die Firma gekommen war und sie mit einem Job in der Tasche wieder verlassen hatte. Zwei Jahre später war sie in das Familiengeheimnis eingeweiht worden, nachdem sie meinen Vater mit der Frage gelöchert hatte, warum er seinen Kunden eigentlich Farben zuteilte. Inzwischen arbeitete sie schon seit fünf Jahren für ihn und gehörte praktisch zur Familie. Was ist schon einer mehr in so einem verrückten Haufen? Soweit ich das beurteilen konnte, war Suzannah von uns allen jedoch diejenige, bei der die wenigsten Schrauben locker waren.

Und sie würde mich mit Sicherheit nicht bei meinem Vater verpfeifen, wenn ich zu spät kam. Aber trotzdem …

Dad vertraute mir – und meiner großen Erfahrung als Kaffeeverkäuferin, Hundesitterin und Erzieherin – seine Firma an. Was mich zu der Vermutung brachte, dass er in mir ein Potenzial sah, welches ich selbst nicht erkennen konnte.

Ich durfte auf keinen Fall scheitern. Das Unternehmen musste unter meiner Leitung florieren, selbst wenn wir hier nur von zwei Wochen sprachen. Ich wollte meinen Vater nicht enttäuschen. Nicht schon wieder. Das hatte ich bereits zur Genüge getan, als mir die Fähigkeit abhandengekommen war, Auren zu lesen.

Ich lehnte den Kopf gegen den Sitz und wünschte, der Zug würde schneller fahren. Ich war zu durcheinander, um Kopfrechenaufgaben zu lösen, selbst einfache. Stattdessen legte ich in Gedanken eine To-do-Liste an. Zunächst einmal musste ich pünktlich zur Arbeit erscheinen (was an ein Wunder grenzen würde). Wenn meine Kundin noch nicht da war, würde ich Marisol anrufen müssen, um sicherzugehen, dass sie mir nicht noch mehr verletzte Kreaturen aufs Auge drückte.

Der Hamster, der gestern bei mir eingezogen war, hatte geschlafen, als ich aufgewacht war, zusammengerollt in seinem Häuschen in der Ecke des Käfigs. Ich hatte beschlossen, ihn Odysseus zu nennen.

Und da ich ihm schon einen Namen gegeben hatte, würde ich ihn wohl behalten. Ich hoffte nur, dass er nicht so anhänglich sein würde wie Grendel und dass der Kater nicht beleidigt sein würde, weil er meine Zuneigung mit einem Nager teilen musste.

Beim hastigen Frühstück hatte ich auch drei leere Weinflaschen entdeckt. Die Dinnerparty war anscheinend ein ziemlicher Erfolg gewesen.

Bevor ich aus dem Haus gegangen war, hatte ich noch kurz Nachrichten angeschaut, während ich meinen Kaffee runtergeschüttet, mir die Haare geföhnt und ein wenig Mascara auf die Wimpern geklatscht hatte (und auch auf meine Lider, aber daran war Grendel schuld).

Max war noch nicht gefunden worden, die Suche ging weiter, und Katherine O’Briens Gesicht verfolgte mich, selbst jetzt, als der Zug endlich Gnade zeigte und in den Bahnhof einfuhr.

Ich wusste nicht, ob ich noch einmal in den Park zurückkehren und bei der Suche helfen konnte. Mich quälte das schlechte Gewissen, weil ich meine hellseherischen Fähigkeiten nicht einsetzen konnte, um Max zu finden.

Raphael wartete mit laufendem Motor auf mich. Weiße Bartstoppeln kratzten mich am Mund, als ich ihn mit einem raschen Kuss begrüßte – wenn mein Vater nicht in der Stadt war, rasierte sich sein Chauffeur nicht.

Als wir endlich im Wagen saßen, fragte Raphael: »Warum hast du es denn so eilig, zur Arbeit zu kommen?« Er zog sich den Sicherheitsgurt über die Brust.

Auch ich schnallte mich an und stellte meine Tasche auf den Boden. Ich hatte die Mappen eingepackt, die ich gestern mit nach Hause genommen hatte, und Klamotten für meine Verabredung am Abend. »Ich will nicht zu spät zu meinem ersten Termin kommen.«

»Hm-hm.«

Eine strahlende Morgensonne vertrieb die Wolken am Himmel. Die Temperaturen stiegen langsam an, und warmes Wetter war gut für den kleinen Max – wenn er sich denn wirklich in dem riesigen Park verirrt hatte. »Okay, spuck es aus«, knurrte ich.

»Was denn?«

»Wenn du mir mit ›hm-hm‹ kommst, heißt das normalerweise, dass du mir damit irgendetwas sagen willst und ich einfach zu blöd bin, um das selbst zu sehen.«

Er lächelte, und seine dunklen Augen strahlten warm. »›Blöd‹ ist jetzt nicht gerade ein Wort, das ich benutzen würde, um dich zu beschreiben.«

»Du weichst mir aus.«

»Hattest du schon Gelegenheit, nach jemandem für mich zu suchen?«, fragte er.

»Jetzt weichst du mir erst recht aus.«

»Ich bin eben einsam, Uva.«

Ich hatte ganz stark das Gefühl, dass er mich gerade aufs Glatteis führte, aber in seinen Worten schwang auch Wahrheit mit. Und darüber konnte ich mich nun wirklich nicht lustig machen. »Ich kümmere mich heute noch darum.«

Der Verkehr kroch voran. Die Sonne stand tief am Horizont und stieg langsam auf, Stückchen für Stückchen, über die Wolkenkratzer, hinauf in den tiefblauen Himmel. Ich klappte die Sonnenblende herunter, um meine Augen vor den Strahlen zu schützen. Der Wagen roch immer noch angenehm neu, und dieser Duft vermischte sich mit dem des luxuriösen Leders. Meinem Vater war es wichtig, sich alle neun Monate ein neues Auto zuzulegen.

»Was ist denn so dein Typ?« Die Vorstellung, für Raphael eine Partnerin finden zu müssen, versetzte mich in Angst und Schrecken, obwohl ich mich seltsamerweise auch darauf freute.

»Sag du es mir.« Er stellte gleichzeitig Radio und Heizung neu ein. Dann legten sich seine langen Finger um das Lenkrad und klopften den Takt der Musik mit – ein uralter Song von Men at Work.

Ich kannte Raphael bereits mein ganzes Leben, hatte ihn aber noch nie zusammen mit einer Frau gesehen. Ihn noch nicht einmal dabei erwischt, dass er auf der Straße einer hinterherschaute. Falls ihm ein bestimmter Typ zusagte – groß, klein, schlank, mit Kurven, blond, brünett oder rothaarig –, dann hatte er mir das nie verraten.

Und das sagte ich ihm auch.

»Hm-hm.«

»Nicht schon wieder!«

Er lachte, ein warmes, tiefes Lachen, das seine Brust erbeben ließ. »Du kennst mich doch besser als jeder andere, Uva. Du hast alle Informationen, die du brauchst.«

Mir dämmerte langsam, dass das Zusammenführen von Paaren wesentlich schwieriger war, als es aussah.

Ich schaute aus dem Fenster, betrachtete das Gedränge auf den Bürgersteigen und dachte über Raphael nach, über seine Ticks, seinen Charakter, über das, was ihm gut gefiel und was er nicht mochte.

Wir hielten an einer roten Ampel, und er trommelte mit den Fingern auf dem Lenkrad weiterhin den Takt, während er geduldig darauf wartete, dass ich ihm erzählte, auf welchen Typ er stand.

Das war wirklich typisch.

»Okay.« Ich zählte meine Punkte an den Fingern ab: »Sie muss Humor haben, loyal und treu sein und hart arbeiten. Sie muss so selbstständig sein, dass es ihr nichts ausmacht, wenn du Überstunden machst … allerdings«, ich sah ihn an, »muss sie dazu bereit sein, sich von Zeit zu Zeit von dir verwöhnen zu lassen. Und so wie du sollte sie sich auch für gutes Essen erwärmen können sowie ein gutes Buch, Musik aus den Achtzigern und das Meer mögen. Sie muss auf jeden Fall ein Fan der Red Sox sein. Sie sollte gerne reisen und kein Problem damit haben, dass du dir gelegentlich eine Zigarre ansteckst. Und ich würde mich für jemanden entscheiden, der gerne redet, weil du viel zu ruhig bist. In einer Beziehung sollte keine Stille herrschen.«

Das brachte ihn zum Lächeln.

»Außerdem sollte sie dir eine wahre Freundin sein.« Ich lehnte mich im Sitz zurück, als wir vor Valentine Inc. hielten.

»Wie hört sich das an?«

Er nickte. »Ein guter Anfang.«

Ich lachte. »Jetzt muss ich diese Frau nur noch finden.«

»Ich vertraue dir da völlig.«

»Wenigstens einer von uns«, murmelte ich, obwohl ich wirklich mein Bestes geben würde, um ihn glücklich zu machen. Er hatte es verdient. Das Problem würde eher darin bestehen, eine Frau zu finden, die ihn verdient hatte.

Ich stieg aus dem Auto und hielt die Tür fest. Die Bemerkung, dass er sich einsam fühlte, ging mir immer noch im Kopf herum. »Sehen wir uns heute zum Mittagessen?« Ich hätte mich lieber abends mit ihm getroffen, aber da hatte ich ja schon ein Blind Date mit Butch, dem Metzger.

»Das klingt perfekt«, antwortete Raphael mit einem zauberhaft schiefen Lächeln. »Komm ins Penthouse, dann mache ich uns was zurecht.«

»O nein! Du hast es verdient, dass dich ausnahmsweise jemand bekocht.«

Er wurde blass. »Aber nicht du, oder?«

»Das nehme ich jetzt mal nicht persönlich, Pasa.« Ein Windstoß löste meinen Haarknoten. »Wir gehen aus. Wonach ist dir denn? Sollen wir ins Oyster House?«

»Nicht so etwas Schickes. Du weißt, dass ich das nicht mag.«

Ich sah mich um. Die perfekte Lösung lag doch direkt vor mir. »Dann hier im Porcupine? Um zwölf?«

»Ich werde da sein.«

Ich schloss die Tür und winkte zum Abschied. Als ich mich umdrehte, stand vor mir die hartnäckige Reporterin.

»Sie sind Lucy Valentine, nicht wahr?«

Sie hatte ihre Hausaufgaben gemacht.

»Und wer sind Sie?«, fragte ich.

»Preston Bailey, ich arbeite für die South Shore Beacon

Das war eine kleinere Lokalzeitung aus der Gegend, in der ich wohnte. Eine, die sich normalerweise auf Regionalnachrichten beschränkte und keine Klatschberichte über berühmte Heiratsvermittler brachte, die ihrer Frau untreu waren. Ich hatte zwei Möglichkeiten. Ich konnte sie anblaffen und hoffen, dass sie verschwand, oder mich vernünftig benehmen und hoffen, dass sie verschwand.

»Freut mich, Sie kennen zu lernen.«

Sie war verblüfft, dass ich so höflich blieb. Die wirren, schulterlangen blonden Haare hatte sie sich hinters Ohr geschoben. Unter den Ponyfransen blickten mich ernsthafte blaue Augen an.

Sie folgte mir zur Tür und erklärte: »Ich will ehrlich zu Ihnen sein. Ich bin auf einen Job bei einer größeren Zeitung aus, beim Globe oder Herald. Wenn ich hier von Ihnen eine Story bekomme, dann ist das vielleicht ein erster Schritt, um von denen genommen zu werden. Darf ich Ihnen ein paar Fragen stellen?«

»Es tut mir leid, aber ich habe wirklich nichts zu sagen.« Ich eilte auf den Eingang zu. Ich war etwa zehn Zentimeter größer als die rasende Reporterin und hatte daher die längeren Beine. Sie verfiel in einen Laufschritt, um an mir dranzubleiben.

»Das kann ich mir kaum vorstellen.« Sie wartete keine Antwort ab und fuhr gleich mit der nächsten Frage fort: »Stimmt es, dass Ihr Vater die Stadt verlassen und Ihnen die Leitung der Firma übertragen hat?«

Sie war gut. Ich wusste nicht, woher ihre Informationen stammten, aber sie hatte den Nagel auf den Kopf getroffen.

»Mein Vater hat sich aus gesundheitlichen Gründen eine Auszeit genommen.«

»Auf St. Lucia?«

Ich lächelte, als ich meine Schlüsselkarte durch die Tür zog. »Kennen Sie dafür einen besseren Ort?«

Sie antwortete mit einer Gegenfrage: »Mit Ihrer Mutter, richtig? Heißt das, dass sie ihm seinen kleinen Ausrutscher vergeben hat?«

»Schicke Schuhe«, bemerkte ich mit einem Blick auf ihre Stiefel.

Sie sah nach unten. »Danke.«

Während sie abgelenkt war, öffnete ich die Tür und huschte ins Innere, sodass sie mir nicht folgen konnte.

»Hey, warten Sie«, rief sie. »Ich hätte da noch mehr Fragen.«

»Tut mir leid, die Kunden warten auf mich.«

Ich zog die Tür rasch hinter mir zu, konnte aber schwören, dass ich sie sagen hörte: »Man sollte doch meinen, dass er sich von Stränden eher fernhalten würde.«

Ich konnte nicht anders, ich musste lächeln. Ich hatte genau das Gleiche gedacht.

Als ich den Absatz vor unserem Büro erreichte, sah ich die Treppe hinauf. Die Tür zu SD Investigations stand weit offen. Leider hatte ich keine Zeit, jetzt nach oben zu gehen und ein Schwätzchen mit Sean zu halten. Und zu sehen, ob er auf mich wirklich diese Wirkung hatte, an die ich mich zu erinnern glaubte.

Ich öffnete die Tür und erstarrte.

»Du kommst zu spät«, schimpfte Dovie und warf einen Blick auf die antike Standuhr aus Mahagoni, die königlich in einer Ecke des Raumes thronte.

»Was machst du denn hier?«

Ich konnte nicht fassen, dass meine Großmutter an diesem Morgen schon fit war, immerhin hatte sie gestern Abend vermutlich ihren Anteil an drei Flaschen Wein getrunken.

»Suzannah hat mich angerufen. Sie hat sich heute frei genommen, um weiter nach dem kleinen Jungen zu suchen.«

»Und warum hat sie sich nicht bei mir gemeldet?«

»Sie hat es ja versucht, aber bei dir zu Hause war besetzt und dein Handy war aus.«

Besetzt? Auf einmal fiel der Groschen – Grendel. Es war eines seiner Lieblingsspiele, den Hörer vom Telefon herunterzuwerfen. Ich sah auf mein Handy. Tatsächlich, ich hatte es noch nicht eingeschaltet. Abgesehen von Suzannahs Anruf war mir ebenfalls einer meiner Mutter entgangen. Sie hatte mir eine kurze Nachricht hinterlassen, in der sie erklärte, dass sie das Hotel wechselten, nicht aber, warum.

»Suz hat mich danach angerufen.« Dovie suchte in einem Stapel Papiere herum. »Und darüber bin ich wirklich froh. So eine Gelegenheit lasse ich mir doch nicht entgehen.«

Ich hatte überhaupt keine Zweifel, dass Dovie mich bei meinem Vater anschwärzen würde, weil ich spät dran war. Immerhin war sie hinter meinem Job her. Einen Moment lang fragte ich mich, warum sie mich denn nicht geweckt hatte, um mich in die Stadt mitzunehmen. Aber die Antwort darauf kannte ich bereits – ich hätte etwas dagegen gehabt, dass sie einfach so Suzannahs Aufgaben übernahm. Und auf diese Art und Weise hatte sie eben ihren Willen durchgesetzt.

Sie grinste mich an und pickte eine Fluse von ihrer dunkelblauen Bundfaltenhose, die sie vom Schneider an ihre zarte Figur hatte anpassen lassen. Sie hatte die Ärmel ihres weißen Hemdes hochgekrempelt, es fiel locker über die Hose. Die obersten vier Knöpfe waren offen und ließen ein weißes Spitzenunterhemd hervorblitzen. An den Handgelenken tummelten sich die üblichen Armreifen. Sie hatte ihre Haare mit zwei Essstäbchen hochgesteckt, ihre grünen Augen leuchteten vor Aufregung, und ich wollte ihr nun wirklich nicht den Spaß verderben.

»Ist Dad darüber informiert, dass du hier einspringst?«

Bei dem Wort »einspringen« zuckte sie zusammen, schob meine Bedenken jedoch mit einer Handbewegung beiseite. »So ein Unsinn. Ich habe deinen Vater zur Welt gebracht. Ich habe in dieser Familie das Sagen.«

Ich lächelte. Ich fand es toll, wenn Dovie sich behauptete. Obwohl mein Vater womöglich den nächsten Herzinfarkt erleiden würde, wenn er herausfand, dass sie sich im Büro eingeschlichen hatte. Dovie neigte dazu, die Dinge … zu verkomplizieren.

»Und du brauchst schließlich Hilfe. Gib es zu, ohne Suz bist du hier doch völlig aufgeschmissen.«

Ich befürchtete, dass ich mich mit Dovie an der Rezeption noch viel aufgeschmissener fühlen würde.

Das sagte ich ihr aber nicht, manches bleibt besser unausgesprochen. Vor allem, wenn die Person, gegen die es sich richtet, die eigene Vermieterin ist.

»Jetzt schau nicht so besorgt drein«, bat sie. »Ich werde doch nur hier am Empfangstisch sitzen, ans Telefon gehen, mit den Kunden sprechen, toll aussehen – ist das Hemd nicht fantastisch? – und mich um meinen eigenen Kram kümmern.«

Ich würde wirklich Ärger bekommen, wenn mein Vater das herausfand.

»Das Hemd ist super. Chanel?«

»Dior.«

Ich hatte leider wenig Geld für Designerklamotten, obwohl ich gerne in klassische Stücke investierte. Die waren zwar teurer, man brauchte aber nicht jedes Jahr etwas Neues. Heute trug ich eine cremefarbene Hose, einen braunen Kaschmirpullover und braune Schuhe mit Pfennigabsatz, die ich bei Macy’s im Schlussverkauf ergattert hatte. Nicht schlecht, allerdings nicht auf Augenhöhe mit Dior oder Chanel. Aber für dieses Leben hatte ich mich eben entschieden, als ich mich von meinem Treuhandfonds losgesagt hatte.

Ich schloss die Tür und bemerkte, dass Dovie bereits das Feuer im Kamin entzündet hatte. Die Flammen züngelten an den falschen Scheiten aus Keramik empor. Die Kissen auf der Couch waren aufgeschüttelt worden und erwarteten die ersten Kunden des Tages.

Panik überkam mich. Konnte ich das wirklich durchziehen? Man musste sich doch nur einmal ansehen, wie mein erster Tag ausgesehen hatte. Klar, ein paar meiner Treffen waren ganz gut verlaufen. Aber dann hatte es da noch die Sache mit Michael Lafferty und dem Skelett gegeben.

Früher oder später würde ich mich um die Tote kümmern müssen, und ich wollte mir gar nicht ausmalen, was das für unser Geschäft und den Ruf der Familie bedeuten konnte. Ich musste die Polizei dazu kriegen, den Leichnam zu »entdecken«, ohne dass ich da mit hineingezogen wurde. Ich musste mir einen Plan zurechtlegen, um die Firma und mich selbst zu schützen.

Ich war völlig versunken in meine Vorstellung davon, wie die Valentine Inc. unter meiner Führung zu Grunde ging, als die beißende Stimme meiner Großmutter mich aus dem üblen Tagtraum riss.

»LucyD, du solltest nicht vergessen, dass ich dieses Büro geleitet habe, lange bevor du geboren wurdest. Lange bevor dein Vater geboren wurde. Also guck mich nicht so an.«

Ehrlich gesagt, hatte ich gerade überhaupt nicht an sie gedacht, aber das mit dem Skelett im Wald musste sie wirklich nicht wissen. »Tut mir leid. Aber ich bin noch ganz durch den Wind, weil ich mich so abgehetzt habe, um pünktlich hier zu sein.«

»Ich hätte den ersten Termin gerne für dich übernommen.«

»Ich dachte, du wolltest dich darauf beschränken, ans Telefon zu gehen?«

Sie grinste wie ein Honigkuchenpferd. »Ich meine ja auch nur theoretisch.«

»Ach so.«

Es klingelte, und Dovie eilte zum Lautsprecher der Gegensprechanlage auf Suzannahs Tisch.

»Hier ist Mary Keegan.« Der Verkehrslärm übertönte das dünne Stimmchen beinahe.

»Kommen Sie bitte herauf.« Dovie ließ den Knopf los.

»Mein erster Termin«, sagte ich und versuchte, mir meine Nervosität nicht anmerken zu lassen.

»Nicht ganz.« Dovie rückte ihre Armreifen zurecht. »Lola Fellows wartet in deinem Büro. Und sie wirkt nicht sehr glücklich.« Sie lehnte sich vor und flüsterte: »Diese Frau macht mir Angst.«

Lola? Was wollte die denn so schnell wieder hier?

»Los, los«, scheuchte mich Dovie. »Ich kümmere mich schon um alles.«

Das war eines der Dinge, die mir Angst machten.

Ich atmete tief durch und ging in mein Büro. Lola stand am Fenster und sah hinaus auf die enge Gasse hinter dem Gebäude. Als ich den Raum betrat, drehte sie sich um, die Arme vor der Brust verschränkt. Ihrem knallharten Blick zufolge war sie bereit für die Schlacht.

»Guten Morgen«, grüßte ich und versuchte, unbeschwert zu klingen.

Ich legte meine Tragetasche auf den Tisch und zog die Mappen heraus. »Möchten Sie sich nicht setzen?«

Lola starrte mich an. »Nein, ich möchte mich nicht setzen. Ich will mein Geld zurück. Sie sind gefeuert, Ms Valentine.«