Prolog

Yalis Frage

Der unterschiedliche Lauf der Geschichte in den verschiedenen Teilen der Welt

Jeder weiß, daß die Geschichte für verschiedene Völker in verschiedenen Teilen der Erde einen höchst unterschiedlichen Lauf nahm. In den 13 000 Jahren, die seit dem Ende der letzten Eiszeit vergangen sind, entstanden in einigen Teilen der Welt Industriegesellschaften mit Metallwerkzeugen und Schrift, in anderen dagegen nur schriftlose bäuerliche Gesellschaften, während die Bewohner wie der anderer Regionen Jäger und Sammler blieben und mit Steinwerkzeugen vorliebnahmen. Diese historischen Ungleichheiten warfen lange Schatten auf die moderne Welt, da diejenigen Gesellschaften, die in den Besitz von Schrift und Metallwerkzeugen gelangt waren, jene anderen Gesellschaften unterwarfen oder gar auslöschten. Obwohl man diese Unterschiede als grundlegendste Tatsache der Weltgeschichte bezeichnen könnte, sind die Gründe, die für sie genannt werden, nach wie vor vage und umstritten. Vor 25 Jahren wurde ich in sehr persönlicher Form mit diesem Thema konfrontiert.

Im Juli 1972 unternahm ich eine Strandwanderung auf der Tropeninsel Neuguinea, wo ich als Biologe Untersuchungen zur Evolution der Vögel anstellte. Mir war bereits von einem charismatischen örtlichen Politiker namens Yali berichtet worden, der sich zur gleichen Zeit auf einer Rundreise durch das Gebiet befand. Zufällig hatte Yali an jenem Tag dasselbe Ziel wie ich und holte mich beim Wandern ein. Wir gingen eine Stunde nebeneinander am Strand entlang und unterhielten uns die ganze Zeit.

Yali war ein Mann mit Ausstrahlung, dessen Augen vor Energie blitzten. Er erzählte sehr selbstbewußt von sich, stellte aber auch viele bohrende Fragen und lauschte gespannt meinen Antworten. Unsere Unterhaltung begann mit einem Thema, das damals alle Bewohner Neuguineas beschäftigte, nämlich dem raschen Tempo des politischen Wandels. Papua-Neuguinea, wie Yalis Heimatland inzwischen heißt, befand sich zu jener Zeit noch als UNO-Mandatsgebiet unter australischer Verwaltung, aber die Unabhängigkeit lag schon in der Luft. Yali erläuterte mir, welche Rolle er persönlich bei der Vorbereitung seines Volkes auf die Selbstverwaltung spielte.

Nach einiger Zeit drehte er den Spieß um und fing an, nun mich auszufragen. Er hatte Neuguinea noch nie verlassen und besaß keine höhere Bildung, doch seine Neugier war unersättlich. Zuerst mußte ich ihm über meine ornithologische Arbeit in Neuguinea berichten (und auch darüber, wieviel ich dafür bezahlt bekam). Ich erklärte ihm, wie verschiedene Vogelgattungen Neuguinea im Laufe der Jahrmillionen besiedelt hatten. Als nächstes wollte Yali wissen, wie die Ahnen seines eigenen Volkes innerhalb der letzten Jahrzehntausende nach Neuguinea gekommen waren und wie die weißen Europäer Neuguinea in den letzten 200 Jahren kolonisiert hatten.

Der Ton der Unterhaltung blieb freundlich, wenngleich die Spannungen zwischen den beiden Gesellschaften, die Yali und ich repräsentierten, ihm und mir wohlbekannt waren. Vor 200 Jahren lebten alle Bewohner Neuguineas noch »in der Steinzeit«, was heißen soll, daß sie noch ähnliche Steinwerkzeuge wie die verwendeten, die in Europa schon vor mehreren tausend Jahren durch Werkzeuge aus Metall ersetzt worden waren, und daß sie in Dörfern lebten, die nicht unter einer zentralen politischen Instanz vereint waren. Als die Weißen kamen, brachten sie die zentralistische Regierungsform mit sich. Weitere Mitbringsel waren diverse materielle Güter, deren Nutzen den Bewohnern Neuguineas sofort einleuchtete, wie Stahläxte, Streichhölzer und Medikamente bis hin zu Kleidung, Erfrischungsgetränken und Regenschirmen. In Neuguinea wurden all diese Güter zusammenfassend als »Cargo« (Fracht) bezeichnet.

Viele der weißen Kolonialisten verachteten die Neuguineer unverhohlen als »primitive Wilde«. Selbst der Geringste unter den weißen »Masters« der Insel, wie sie sich 1972 noch nannten, genoß einen weit höheren Lebensstandard als die Neuguineer, ja sogar als charismatische Politiker wie Yali. Der aber hatte schon viele Weiße ausführlich befragt, wie er es mit mir gerade tat, und ich hatte das gleiche mit zahlreichen Neuguineern getan. Wir wußten also beide ganz genau, daß Neuguineer im Durchschnitt mindestens ebenso intelligent sind wie Europäer. An all das muß Yali gedacht haben, als er mir aus seinen funkelnden Augen einen bohrenden Blick zuwarf und fragte: »Wie kommt es, daß ihr Weißen so viel Cargo geschaffen und nach Neuguinea mitgebracht habt, wir Schwarzen aber so wenig eigene Cargo hatten?«

Es war eine simple Frage, die aber den Kern dessen traf, was Yali bewegte. Ja, es gibt noch immer gewaltige Unterschiede zwischen der Lebensweise des durchschnittlichen Neuguineers und der des durchschnittlichen Europäers oder Amerikaners. Ebenso gewaltige Unterschiede klaffen zwischen anderen Völkern der Welt. Für diese enorme Ungleichheit muß es doch gewichtige und, so möchte man meinen, augenfällige Gründe geben.

Bei näherer Betrachtung erweist sich Yalis zunächst so einfache Frage als ausgesprochen schwer zu beantworten. Ich wußte damals keine Antwort. Unter Historikern herrscht auch heute noch keine Übereinstimmung, und die meisten haben es aufgegeben, diese Frage überhaupt zu stellen. In den Jahren, seit Yali und ich uns am Strand begegneten, habe ich über verschiedene Aspekte der menschlichen Evolution, Geschichte und Sprache geforscht und geschrieben. Dieses Buch stellt den Versuch dar, Yalis Frage mit 25 Jahren Verspätung zu beantworten.

Obgleich Yali seine Frage nur auf die unterschiedliche Lebensweise von Neuguineern und weißen Europäern gemünzt hatte, war mit ihr doch ein umfassenderes Phänomen der modernen Welt beispielhaft angesprochen. Völker eurasischen Ursprungs und insbesondere die heutigen Bewohner Europas und Ostasiens sowie die nach Nordamerika ausgewanderten Europäer spielen mit ihrem Reichtum und ihrer Macht eine beherrschende Rolle in der Gegenwart. Andere Völker, darunter die meisten Afrikaner, konnten zwar das Joch der europäischen Kolonialherrschaft abschütteln, aber in puncto Reichtum und Macht liegen sie noch weit zurück. Wieder andere Völker, wie die Ureinwohner Australiens, Nord- und Südamerikas und des südli­chen Afrika, sind nicht einmal mehr Herren im eigenen Land, sondern wurden von europäischen Kolonialisten dezimiert, unterjocht und in manchen Fällen sogar aus­gerottet.

Fragen zur Ungleichheit in unserer heutigen Welt können deshalb auch so formuliert werden: Wie kam es dazu, daß Reichtum und Macht so verteilt sind, wie wir es in der Gegenwart erleben, und nicht anders? Wa­rum führte die Geschichte nicht dazu, daß beispiels­weise Indianer, Afrikaner und australische Aborigines Europäer und Asiaten dezimierten, unterwarfen oder ausrotteten?

Greifen wir noch etwas weiter zurück. Als die welt­weite koloniale Expansion Europas um 1500 n. Chr. noch am Anfang stand, klafften zwischen den Bewohnern der verschiedenen Kontinente bereits gewaltige Unterschie­de im Stand der Technik und der politischen Organisa­tion. So bestanden Europa, Asien und Nordafrika zum großen Teil aus Staaten oder Reichen, deren Bewohner Metallwerkzeuge besaßen und von denen einige schon an der Schwelle zur Industrialisierung standen. Zwei in­dianische Völker, Azteken und Inkas, herrschten über Reiche mit Steinwerkzeugen. In Teilen Afrikas südlich der Sahara gab es kleinere Häuptlingsreiche mit Eisen­verarbeitung. Die meisten anderen Völker – darunter auch sämtliche Bewohner Australiens und Neuguineas, zahlreicher Pazifikinseln, eines Großteils Nord- und Südamerikas sowie kleinerer Teile Afrikas südlich der Sahara – trieben in Stammesgemeinschaften Landwirt­schaft oder durchstreiften gar ihre Heimat in kleinen Scharen als Jäger und Sammler und besaßen nur Stein­werkzeuge.

Diese technischen und politischen Unterschiede, die schon um 1500 n. Chr. existierten, waren gewiß der un­mittelbare Grund für die Ungleichheiten in der heutigen Welt. Reiche, deren Armeen über Waffen aus Stahl ver­fügten, konnten über Stammesgesellschaften mit Waffen aus Stein und Holz herfallen und sie unterjochen oder auslöschen. Wie aber kam es, daß die Welt um 1500 n. Chr. so und nicht anders aussah?

Wiederum können wir leicht einen Schritt weiter zu­rückgehen, indem wir uns auf geschichtliche Aufzeich­nungen und archäologische Funde stützen. Bis zum Ende der letzten Eiszeit um 11 000 v. Chr. waren die Bewohner aller Kontinente noch Jäger und Sammler. Unterschied­liche Entwicklungsgeschwindigkeiten auf den verschiede­nen Kontinenten zwischen 11 000 v. Chr. und 1500 n. Chr. führten zu den unübersehbaren technischen und politi­schen Ungleichheiten am Ende jenes Zeitraums. Wäh­rend die australischen Aborigines und viele Indianer­stämme weiter als Jäger und Sammler lebten, entwickelten sich in den meisten Gebieten Eurasiens und in großen Teilen Nord- und Südamerikas sowie Afrikas südlich der Sahara schrittweise Ackerbau, Viehzucht, Metallurgie und komplexe Formen politischer Organi­sation. In Teilen Eurasiens und in einer Region Ameri­kas wurde eigenständig die Schrift erfunden. Jede der genannten Neuerungen tauchte jedoch in Eurasien frü­her auf als anderswo. So war die Massenproduktion von Bronzewerkzeugen, die in den südamerikanischen An­den erst in den Jahrhunderten vor 1500 n. Chr. einsetzte, in Teilen Eurasiens schon über 4000 Jahre zuvor fester kultureller Bestandteil. Die Steintechnologie der Tasma­nier war noch beim ersten Zusammentreffen mit euro­päischen Entdeckungsreisenden im Jahr 1642 n. Chr. pri­mitiver als in Teilen Europas während der Jungsteinzeit, also zigtausend Jahre früher.

Somit können wir die Frage nach den Ungleichheiten der heutigen Welt letztendlich so formulieren: Warum verlief die Entwicklung auf den verschiedenen Kontinen­ten in so unterschiedlichem Tempo? Diese Unterschiede stellen das allgemeinste Verlaufsmuster der Geschichte dar und sind Thema dieses Buchs.

Während es hierin also letzten Endes um Geschichte und Vorgeschichte geht, ist der Gegenstand des Buchs doch keineswegs von rein akademischem Interesse, son­dern von sehr großer praktischer und politischer Be­deutung. Es waren die Begegnungen zwischen unglei­chen Völkern, oft mit der Folge von Eroberungen, ein­geschleppten Seuchen und Genozid, die unsere Welt formten. Die Folgen der Kollisionen von einst sind noch heute, viele Jahrhunderte später, zu spüren und spielen besonders in einigen der schlimmsten Krisenregionen der Welt noch immer eine wichtige Rolle.

So macht das Erbe des Kolonialismus vielen Ländern Afrikas immer noch schwer zu schaffen. In anderen Re­gionen – beispielsweise in Mittelamerika, Mexiko, Peru, Neukaledonien, der ehemaligen Sowjetunion und Tei­len Indonesiens – kommt es immer wieder zu Unru­hen oder Rebellionen, bei denen sich Urbevölkerungen und Regierungen, die von Nachfahren fremder Erobe­rer dominiert werden, feindselig gegenüberstehen. Et­liche andere Urbevölkerungen – zum Beispiel Hawai­ianer, australische Aborigines, Sibirjaken und Indianer in den USA, Kanada, Brasilien, Argentinien und Chile – wurden durch Genozid und Krankheiten so stark de­zimiert, daß sie den Nachfahren der fremden Eroberer heute zahlenmäßig stark unterlegen sind. Obgleich ein Bürgerkrieg deshalb nicht in Betracht kommt, pochen sie doch zunehmend auf ihre Rechte.

Neben diesen politischen und wirtschaftlichen Folgen der Kollisionen der Vergangenheit gibt es auch einen lin­guistischen Nachhall, insbesondere in Form des drohen­den Aussterbens der meisten der 6000 heute noch existie­renden Sprachen und ihrer allmählichen Ablösung durch Englisch, Chinesisch, Russisch und eine Handvoll ande­rer Sprachen, deren Sprecherzahlen in den letzten Jahr­hunderten in die Höhe geschnellt sind. All diese Proble­me der heutigen Zeit sind das Ergebnis der unterschied­lichen Geschichtsverläufe, die in Yalis Frage anklingen.

Bevor wir mit der Suche nach Antworten auf Yalis Fra­ge beginnen, wollen wir uns möglichen Einwänden gegen die Behandlung dieses Themas zuwenden. Von mancher Seite wird nämlich, aus verschiedenen Grün­den, ein Frevel darin gesehen, die Frage überhaupt zu stellen.

Der erste Einwand lautet so: Würde nicht jede ein­leuchtende Erklärung der Entwicklung, die zur Vorherr­schaft einiger Völker über andere führte, wie eine Recht­fertigung derselben aussehen? Würde das Ergebnis nicht als unvermeidlich erscheinen und jeder Versuch, daran heute etwas zu ändern, als vergeblich?

Dieser Einwand beruht auf der verbreiteten Verwechs­lung von Ursachenerklärung und Rechtfertigung. Wozu eine historische Erklärung benutzt wird, hat letztlich nichts mit der Erklärung selbst zu tun. Wissen dient häufiger als Schlüssel zur Veränderung von Ergebnis­sen historischer Geschehnisse als dazu, sie zu wieder­holen oder fortzuschreiben. Das ist ja auch der Grund, warum Psychologen versuchen, die Gedankenwelt von Mördern und Vergewaltigern zu verstehen, warum Sozi­alhistoriker nach den Gründen von Genozid und Ärzte nach den Ursachen von Krankheiten forschen. Ihnen al­len liegt es fern, gute Gründe für Mord, Vergewaltigung, Genozid und Krankheiten zu finden. Vielmehr geht es darum, das Wissen um eine Kausalkette zu nutzen, um sie zu unterbrechen.

Zweitens ließe sich vielleicht einwenden, die Beschäf­tigung mit Yalis Frage werde automatisch in eine euro­zentrische Geschichtsbetrachtung, eine Verherrlichung der Westeuropäer und eine obsessive Beschäftigung mit der überragenden Bedeutung Westeuropas und des euro­päisierten Amerika in der heutigen Welt münden. Han­delt es sich aber bei jener Bedeutung nicht bloß um ein kurzlebiges Phänomen der letzten Jahrhunderte, das an­gesichts der Entwicklung Japans und Südostasiens schon wieder verblaßt? Wie Sie sehen werden, handelt dieses Buch zum größten Teil von nichteuropäischen Völkern. Statt die Betrachtung auf Interaktionen zwischen Euro­päern und Nichteuropäern zu verengen, werden wir auch den Kontakten verschiedener nichteuropäischer Völker untereinander nachgehen – insbesondere in Afrika süd­lich der Sahara, Südostasien, Indonesien und Neugui­nea. Weit davon entfernt, die Völker westeuropäischen Ursprungs zu verherrlichen, werden wir sehen, daß die meisten Grundelemente der westeuropäischen Kultur und Zivilisation von anderen Völkern in anderen Teilen der Welt entwickelt und später nach Westeuropa »im­portiert« wurden.

Drittens könnte man fragen, ob nicht mit Ausdrücken wie »Zivilisation« und »Aufstieg der Zivilisation« stillschweigend unterstellt wird, Zivilisation sei etwas Positives, das Leben der Jäger und Sammler etwas Er­bärmliches und die Geschichte der letzten 13 000 Jah­re handle vom Fortschritt der Menschheit hin zu mehr Glück und Zufriedenheit. Um es ganz offen zu sagen: Ich unterstelle weder, daß Industrieländer »besser« sind als Stammesgemeinschaften von Jägern und Sammlern, noch daß die Aufgabe der Jagd- und Sammelwirtschaft zugunsten eisengewappneter Staatlichkeit einen »Fort­schritt« darstellt oder damit in der Vergangenheit eine Zunahme von Glück und Zufriedenheit unter den Men­schen einherging. Meine eigenen Erfahrungen aufgrund meines zwischen amerikanischen Städten und neuguin­eischen Dörfern aufgeteilten Lebens haben mir gezeigt, daß die sogenannten Segnungen der Zivilisation auch eine Kehrseite haben. So genießen die Bewohner der In­dustriestaaten zwar verglichen mit Jägern und Samm­lern zweifellos eine bessere medizinische Versorgung, kommen nicht so häufig durch Totschlag ums Leben und haben eine höhere Lebenserwartung. Doch dafür können sie erheblich weniger auf die Hilfe von Freun­den und Großfamilien zählen. Mein Motiv für die Un­tersuchung der geographischen Unterschiede zwischen menschlichen Gesellschaften hat rein gar nichts damit zu tun, einen Gesellschaftstypus als den anderen überle­gen zu feiern – mir geht es ganz allein um ein Verständ­nis dessen, was in der Geschichte passierte.

Mußte wirklich noch ein weiteres Buch geschrieben werden, um Yalis Frage zu beantworten? Kennen wir die Antwort nicht schon längst? Und wenn ja, wie lau­tet sie?

Die am häufigsten vorgebrachte Erklärung geht mehr oder weniger explizit von biologischen Unterschieden zwischen den Völkern aus. In den Jahrhunderten nach 1500, als europäische Entdeckungsreisende Kenntnis von den großen Unterschieden zwischen den Völkern der Welt in puncto technischer und politischer Entwicklung erlangten, wurden diese als Ausdruck unterschiedlicher angeborener Fähigkeiten interpretiert. Mit dem Sieges­zug der Darwinschen Lehre wurde die Erklärung dahin­gehend abgewandelt, daß nun natürliche Selektion und Evolution in den Vordergrund gestellt wurden. Dem­nach wurden Völker, die auf technisch niedriger Stufe standen, als evolutionäre Überbleibsel der menschlichen Abstammung von affenähnlichen Vorfahren betrachtet. Die Verdrängung dieser Völker durch Kolonisten aus in­dustrialisierten Gesellschaften wurde gar als Beispiel für das Überleben des Stärkeren angeführt. Mit dem späte­ren Aufkommen der Genetik wurde die Erklärung er­neut revidiert. Fortan galten Europäer als genetisch in­telligenter als Afrikaner und insbesondere australische Aborigines.

Heute wird Rassismus in der westlichen Gesellschaft von breiten Schichten der Bevölkerung nach außen hin abgelehnt. Insgeheim oder unbewußt hegen jedoch im­mer noch viele Menschen (vielleicht sogar die meisten!) rassistische Vorstellungen. In Japan und vielen anderen Ländern werden diese sogar öffentlich und ohne jeden Versuch der Rechtfertigung vorgebracht. Selbst gebildete weiße Amerikaner, Europäer und Australier erkennen, wenn die Sprache auf australische Aborigines kommt, etwas Primitives an diesen. Sehen sie nicht völlig anders aus als Weiße? Viele der heutigen Nachfahren der Abo­rigines, die die Ära der europäischen Kolonisation über­lebten, tun sich zudem schwer damit, in der weißen au­stralischen Gesellschaft wirtschaftlich Fuß zu fassen.

Ein scheinbar zwingendes Argument lautet so: Weiße Einwanderer errichteten in Australien einen Staat auf der Grundlage von Metallwerkzeugen und Landwirtschaft mit Attributen wie alphabetisiert, industrialisiert, poli­tisch zentralisiert und demokratisch, und das alles bin­nen eines Jahrhunderts nach Besiedlung desselben Kon­tinents, auf dem die Aborigines seit mindestens 40 000 Jahren als Jäger und Sammler in Stammesgemeinschaf­ten ohne Metall gelebt hatten. Es handelt sich mithin um zwei geschichtliche Experimente mit identischer Umwelt, wobei die einzige Variable die Völker waren, die sich ih­rer bemächtigten. Müssen die Unterschiede zwischen den Gesellschaften der australischen Aborigines und der Europäer da nicht zwangsläufig auf Unterschiede zwi­schen den Völkern selbst zurückgeführt werden?

Derart rassistische Erklärungen sind nicht nur wider­wärtig, sondern auch falsch. Es gibt keinen stichhaltigen Beweis für eine Parallele zwischen Intelligenz und tech­nischem Entwicklungsstand. Im Gegenteil, noch existie­rende »Steinzeitvölker« besitzen im Durchschnitt eher mehr und nicht weniger Intelligenz als die Bewohner der Industrieländer, wie ich gleich erläutern werde. Es mag paradox klingen, aber die weißen Neu­Australier kön­nen das Verdienst für den Aufbau einer Industriegesell­schaft mit den genannten Errungenschaften nicht für sich in Anspruch nehmen, wie sie es gerne tun (siehe Kapitel 14). Auch ist regelmäßig zu beobachten, daß Angehörige von Völkern, die bis vor kurzem auf technisch primitiver Stufe standen, die Technik des Industriezeitalters bestens meistern, wenn sie nur die Chance erhalten.

Die kognitive Psychologie hat ausgiebig nach IQ-­Un­terschieden zwischen Angehörigen von Völkern unter­schiedlicher geographischer Herkunft geforscht, die im gleichen Land zusammenleben. So sind insbesondere in den USA zahlreiche weiße Psychologen seit Jahrzehn­ten um den Nachweis bemüht, daß schwarze Amerika­ner afrikanischer Abstammung von Natur aus weniger Intelligenz besitzen als weiße Amerikaner mit europä­ischen Vorfahren. Wie man sehr wohl weiß, gibt es zwi­schen beiden Gruppen aber erhebliche Unterschiede in bezug auf die soziale Umwelt und die Bildungschancen. Daraus resultieren gleich zwei Probleme für die Prüfung der Hypothese, daß Unterschiede der geistigen Fähigkei­ten die Ursache für Unterschiede im technischen Ent­wicklungsstand seien. Erstens sind kognitive Fähigkei­ten selbst bei Erwachsenen in hohem Maße durch die soziale Umwelt in der Kindheit geprägt, wodurch es be­sonders schwer ist, die Wirkung genetischer Unterschie­de festzustellen. Zweitens neigen Tests kognitiver Fähig­keiten (beispielsweise Intelligenztests) dazu, kulturelles Lernen statt der reinen, angeborenen Intelligenz (was immer das sein mag) zu testen. Aufgrund der unstrit­tigen Auswirkungen von Kindheitserfahrungen und er­lerntem Wissen auf die Ergebnisse von Intelligenztests ist es Psychologen bis heute nicht gelungen, die postu­lierten genetischen Defizite im IQ nichtweißer Völker über zeugend nachzuweisen.

Mein eigener Standpunkt in dieser Kontroverse hat viel mit den Erfahrungen zu tun, die ich im Laufe von 33 Jahren mit Neuguineern in ihrem eigenen intakten Lebensumfeld sammeln konnte. Von Anfang an beein­druckten mich diese Menschen als im Durchschnitt in­telligenter, aufgeweckter, ausdrucksvoller und stärker an Dingen und Personen ihrer Umwelt interessiert als durchschnittliche Europäer oder Amerikaner. Bei man­chen Aufgaben, bei denen ein enger Zusammenhang mit bestimmten Gehirnfunktionen vermutet werden muß, etwa bei der Fähigkeit, eine fremde Umgebung im Geist zu kartieren, wirken sie erheblich intelligenter als Men­schen aus dem Westen. Natürlich schneiden Neuguineer in der Regel bei Aufgaben schlecht ab, die bei uns von Kindheit an geübt werden, in Neuguinea jedoch nicht. Wenn Neuguineer aus entlegenen Dörfern zu Besuch in die Stadt kommen, mögen sie deshalb in westlichen Au­gen töricht aussehen. Umgekehrt bin ich mir stets be­wußt, welch schlechte Figur ich für Neuguineer abgeben muß, wenn ich mit ihnen in den Dschungel gehe und dort meine Unfähigkeit unter Beweis stelle bei so ein­fachen Aufgaben wie dem Wandern auf einem Dschun­gelpfad oder der Errichtung einer kleinen Schutzhütte, die für Neuguineer die einfachsten Dinge von der Welt sind, weil sie damit von Kindheit an vertraut sind.

Zwei leicht nachvollziehbare Gründe sprechen für die Richtigkeit meines Eindrucks, daß Neuguineer womög­lich intelligenter sind als Menschen aus dem Westen. Er­stens gibt es in Europa seit Jahrtausenden Gesellschaf­ten mit zentraler Regierungsgewalt, Polizei und Justiz. Seither waren Krankheitsepidemien (z. B. Pocken) an­gesichts der Bevölkerungsdichte historisch die häufig­ste Todesursache, während Mord verhältnismäßig selten vorkam und Krieg eher die Ausnahme war als die Regel. Die meisten Europäer, die keiner ansteckenden Krank­heit zum Opfer fielen, entgingen auch anderen möglichen Todesursachen, bevor sie ihr Erbgut an ihre Nachkom­men weitergeben konnten. Heute sterben Neugeborene im Westen kaum noch an lebensbedrohlichen Infekti­onskrankheiten und pflanzen sich ungeachtet ihrer In­telligenz und der Qualität ihrer Erbanlagen fort. Im Ge­gensatz dazu leben Neuguineer in Gesellschaften, deren Bevölkerungsdichte zu gering war, als daß sich Krank­heitsepidemien hätten ausbreiten können. Dafür kamen in Neuguinea früher viele Menschen durch Mord, häu­fige Stammeskriege, Unfälle und Hunger ums Leben.

Intelligente Menschen entgehen diesen Todesursa­chen in traditionellen neuguineischen Gesellschaften eher als weniger intelligente. Dagegen hatte die differen­tielle Sterblichkeit aufgrund von Krankheitsepidemien in traditionellen europäischen Gesellschaften kaum et­was mit Intelligenz zu tun. Vielmehr spielten dabei er­blich bedingte, von biochemischen Körpereigenschaften gesteuerte Abwehrkräfte eine Rolle (ein typisches Bei­spiel ist die größere Pockenabwehrkraft von Menschen mit Blutgruppe B oder Null als von Menschen mit Blut­gruppe A). Daraus ergibt sich, daß die natürliche Selek­tion nach Intelligenz auf Neuguinea wahrscheinlich sehr viel rigoroser erfolgte als in den dichter besiedelten Re­gionen mit komplexen politischen Organisationsformen, in denen biochemische Körpereigenschaften bei der na­türlichen Selektion eine größere Rolle spielten.

Neben diesem genetischen Grund gibt es noch einen zweiten, der eine mögliche Erklärung dafür liefert, wa­rum die Neuguineer der Gegenwart vielleicht intelligen­ter sind als die Menschen westlicher Prägung. Amerika­nische und europäische Kinder verbringen heutzutage einen großen Teil ihrer Zeit mit passiver Unterhal­tung wie Fernsehen, Radio oder Kino. In amerikanischen Durchschnitts haushalten läuft der Fernseher sie­ben Stunden am Tag. Demgegenüber haben Kinder in Neuguinea, die in traditionellen Verhältnissen aufwach­sen, praktisch keine Gelegenheit zu passiver Unterhal­tung. Sie beschäftigen sich statt dessen meist von früh bis spät auf die eine oder andere Weise aktiv, beispielsweise durch Gespräche oder Spiele mit anderen Kindern oder Erwachsenen. In fast allen Untersuchungen zur kindli­chen Entwicklung wird die besondere Bedeutung von Stimulation und Aktivität als Voraussetzung der geisti­gen Entfaltung hervorgehoben, während zugleich auf die irreversible geistige Verkümmerung hingewiesen wird, die das Ergebnis ungenügender Stimulation sein kann. Wir haben es hier also mit einem nichtgenetischen Fak­tor zu tun, der mit zu der überlegenen Geisteskraft des durchschnittlichen Neuguineers beiträgt.

In ihren geistigen Fähigkeiten sind die Neuguineer den westlichen Menschen demnach genetisch wahrscheinlich überlegen und in dem Sinne, daß sie der verheerenden entwicklungspsychologischen Benachteiligung entgehen, der die meisten Kinder in den Industrie gesellschaft en heute ausgesetzt sind, ganz gewiß. Mit Sicherheit spricht jedenfalls nichts für eine intellektuelle Unterlegenheit der Neuguineer, die Yalis Frage ja weitgehend beant­wortet hätte. Die beiden genannten Faktoren, der ge­netische und der entwicklungspsychologische, dürft en nicht nur speziell die Bewohner Neuguineas von de­nen der westlichen Industriegesellschaft en unterschei­den, sondern ganz allgemein Jäger und Sammler sowie andere Mitglieder technisch primitiver von Angehöri­gen technisch fortgeschrittener Gesellschaft en. Damit wäre die übliche rassistische These auf den Kopf gestellt. Wie kommt es, daß die Europäer trotz ihrer genetischen Unterlegenheit und ihrer (seit einiger Zeit) unbestreit­baren entwicklungspsychologischen Benachteiligung so viel mehr materielle Güter besitzen? Warum blieben die Neuguineer trotz ihrer, wie ich glaube, überlegenen In­telligenz technisch auf primitivem Stand?

Mögliche Antworten auf Yalis Frage kommen nicht nur von der Genetik. Ein besonders bei den Bewohnern Nordeuropas beliebter Erklärungsansatz hebt die ver­meintliche Stimulationswirkung des kühlen nordischen Klimas hervor, dem der angeblich negative Einfluß des feuchtheißen Tropenklimas auf Kreativität und Ener­gie gegenübergestellt wird. Vielleicht stellen die jahres­zeitlichen Klima schwankungen in nördlichen Regio­nen ja vielfältigere Herausforderungen, die es zu bewäl­tigen gilt, als das im Jahresverlauf schwankungsarme Tropenklima. Vielleicht ist auch mehr technischer Er­findungsreichtum gefragt, um in kalten Klimazonen zu bestehen, da man sich mit warmer Kleidung und Be­hausung gegen die Kälte wappnen muß, während in den Tropen einfachere Behausungen und das Adams­kostüm genügen. Man kann das Argument auch um­drehen und zu dem gleichen Schluß gelangen: Die lan­gen Winter im hohen Norden lassen den Menschen viel Zeit, um im Warmen zu sitzen und Erfindungen aus­zubrüten.

Dieses früher vielzitierte Erklärungsmuster hält einer genauen Prüfung ebenfalls nicht stand. Wie wir sehen werden, leisteten die Völker Nordeuropas in dem Zeit­raum bis vor etwa tausend Jahren keinerlei fundamen­tale Beiträge zur eurasischen Zivilisation. Sie konnten sich glücklich wähnen, in einem geographischen Raum zu leben, wo ihnen Erfindungen (wie Landwirtschaft, Rad, Schrift, Metallurgie) aus wärmeren Teilen Eurasi­ens mehr oder weniger in den Schoß fielen. In der Neu­en Welt waren die kalten Regionen im hohen Norden technisch und kulturell noch rückständiger. Die einzigen Indianerkulturen, in denen die Schrift erfunden wurde, lagen in Mexiko südlich vom Wendekreis des Krebses. Die älteste Keramik der Neuen Welt stammt aus einem Gebiet in Äquatornähe im tropischen Südamerika. Und die in Kunst, Astronomie und anderen Bereichen wohl fortgeschrittenste Zivilisation der Neuen Welt war die der Mayas im tropischen Yucatán und in Guatemala im 1. Jahrtausend n. Chr.

Ein dritter Antworttyp auf Yalis Frage bringt die Be­deutung von Flußtälern in Tieflandzonen mit Trocken­klima ins Spiel, wo als Voraussetzung einer ertragreichen Landwirtschaft umfangreiche Bewässe rungssysteme er­richtet werden mußten, die wiederum einer zentralis­tischen Bürokratie bedurften. Diese Erklärung wur­de aus der unumstrittenen Tatsache abgeleitet, daß die ältesten bekannten Reiche und Schriftsysteme im Zweistromland von Euphrat und Tigris sowie im ägyp­tischen Niltal entstanden. Bewässerungssysteme gingen offenbar auch in anderen Regionen der Welt mit zentra­lisierter politischer Macht Hand in Hand, so im Indu­stal auf dem indischen Subkontinent und in den Tälern des Gelben Flusses und des Jangtse in China, im Maya-Tiefland in Mittelamerika und in den Wüstengebieten an der Küste von Peru. Eingehende archäologische Stu­dien ergaben jedoch, daß komplizierte Bewässerungs­systeme nicht parallel zum Aufkommen zentralistischer Bürokratien entstanden, sondern diesen mit beträcht­licher Verzögerung folgten. Das bedeutet, daß zentrali­stische Staatswesen aus anderen Gründen entstanden, bevor sie dann die Errichtung komplizierter Bewässe­rungssysteme ermöglichten. Alle entscheidenden frühe­ren Entwicklungen, die der Entstehung solcher Staats­gebilde in den besagten Regionen vorangingen, wiesen keinerlei Zusammenhang mit Flußtälern oder kompli­zierten Bewässerungssystemen auf. So lagen in dem Teil Vorderasiens, der aufgrund seiner geographischen Form als »Fruchtbarer Halbmond« bezeichnet wird, die Ur­sprünge von Landwirtschaft und Dorfgemeinschaften in Hügeln und Bergen, nicht aber in den Flußtälern des Tieflands. Das Niltal war noch 3000 Jahre nach dem Auf­keimen einer dörflichen Landwirtschaft in den Hügeln des Fruchtbaren Halbmonds kulturelle Provinz. In eini­gen Flußtälern im Südwesten der USA entwickelten sich zwar Bewässerungslandwirtschaft und komplexe Gesell­schaften, aber erst nachdem viele der Errungenschaften, die dafür die Voraussetzung bildeten, aus Mexiko im­portiert worden waren. In den Flußtälern im Südosten Australiens lebten unterdessen Stammesgesellschaften, denen Landwirtschaft gänzlich fremd war.

Ein weiterer Erklärungstyp verweist auf die unmittel­baren Faktoren, die den Europäern die Ausrottung oder Unterwerfung anderer Völker ermöglichten, also insbe­sondere Gewehre und Kanonen, Epidemien europäischer Infektionskrankheiten, Stahlwerkzeuge und Industrieer­zeugnisse. Diese Art der Erklärung führt auf die rich­tige Spur, da ja die aufgezählten Faktoren nachweislich in direktem Zusammenhang mit den Eroberungen der Europäer standen. Allerdings haben wir es noch mit ei­ner unvollständigen Hypothese zu tun, da die Nennung unmittelbarer Ursachen lediglich die Vorstufe zu einer wirklichen Erklärung darstellen kann. Immerhin wird ein Anstoß für die Suche nach den eigentlichen Ursa­chen gegeben: Warum besaßen am Ende Europäer und nicht Afrikaner oder Indianer Gewehre und Kanonen, die bösartigsten Krankheitserreger und Werkzeuge aus Stahl?

Während bei dem Versuch, die eigentlichen Ursachen der Eroberung der Neuen Welt durch Europäer zu ver­stehen, gewisse Fortschritte erzielt wurden, gibt Afrika, über Jahrmillionen Stätte der menschlichen Evolution, an der auch der anatomisch moderne Mensch herange­reift sein dürfte und wo Krankheiten wie Malaria und Gelbfieber europäische Entdecker dahinrafften, nach wie vor große Rätsel auf. Angesichts des gewaltigen zeitli­chen Vorsprungs, den Afrika zweifelsohne besaß, stellt sich die Frage, warum Kanonen und Stahl nicht zuerst in Afrika auftauchten und den Afrikanern und ihren Krankheitserregern die Macht gaben, Europa zu erobern.

Und wie erklärt es sich, daß die australischen Aborigines das Stadium von Jägern und Sammlern mit Steinwerkzeugen nie verließen?

Fragen, die sich aus dem Vergleich menschlicher Kul­turen in verschiedenen Regionen der Welt ergeben, stie­ßen bei Historikern und Geographen früher auf großes Interesse. Die wohl bekannteste Arbeit dieser Art aus neuerer Zeit ist das mehrbändige Werk von Arnold Toyn­bee mit dem Titel Der Gang der Weltgeschichte [1]. Toyn­bees Interesse galt in erster Linie der inneren Dynamik von 23 Hochkulturen, von denen 22 im Besitz der Schrift und 19 in Eurasien beheimatet waren. Weniger stark in­teressierte er sich dagegen für Vorgeschichte und für ein­fachere, schriftlose Kulturen. Dabei liegen die Wurzeln der heutigen Ungleichheit mit Sicherheit in vorgeschicht­lichen Zeiten. Toynbee stellte sich jedoch weder Yalis Frage, noch fand er eine Erklärung für das nach meiner Auffassung allgemeinste Verlaufsmuster der Geschichte. Andere Bücher zur Universalgeschichte beschäftigen sich ebenfalls vorrangig mit den eurasischen Hochkulturen der letzten 5000 Jahre; präkolumbianische indianische Kulturen werden wesentlich knapper abgehandelt, und der Rest der Welt erscheint bestenfalls am Rande, abge­sehen von seinen Berührungen mit eurasischen Zivili­sationen in der jüngeren Geschichte. Nach Toynbee sind Versuche, globale Synthesen historischer Kausalzusam­menhänge zu erarbeiten, bei den meisten Historikern in Ungnade gefallen, da sie Probleme aufwerfen, die sich ei­ner Lösung offenbar hartnäckig entziehen.

Experten unterschiedlicher Disziplinen ist es inzwi­schen gelungen, in ihren jeweiligen Fachgebieten ent­sprechende Synthesen zu entwickeln. Besonders wert­volle Beiträge kommen von der Umweltgeographie, der Kulturanthropologie, der biologischen Forschung über Pflanzen- und Tierdomestikation sowie von einer For­schungsrichtung, die dem Einfluß von Infektionskrank­heiten auf den Lauf der Geschichte nachgeht. Solche Un­tersuchungen haben zwar Licht auf einzelne Elemen­te des Rätsels geworfen, doch eine allgemeine Synthese fehlt nach wie vor.

Von einer weithin akzeptierten Antwort auf Yalis Fra­ge kann mithin nicht die Rede sein. Einerseits sind die unmittelbaren Ursachen klar: Einige Völker brachten schneller als andere Kanonen, Krankheitserreger, Stahl­werkzeuge und andere Dinge hervor, die ihnen politi­sche und wirtschaftliche Macht gaben, während man­che Völker überhaupt keine Anzeichen für Fortschritte in dieser Richtung erkennen ließen. Andererseits bleiben die eigentlichen Ursachen – also beispielsweise, warum Bronzewerkzeuge in einigen Regionen Eurasiens sehr früh auftauchten, in der Neuen Welt erst spät und nur vereinzelt, in Australien dagegen nie – unklar.

Das gegenwärtige Fehlen grundlegender Erklärun­gen für diese ungleiche Entwicklung stellt eine schwere Wissenslücke dar, handelt es sich hier doch um das all­gemeinste Verlaufsmuster der Geschichte. Noch schlim­mer ist jedoch die moralische Lücke, die klafft, sprich das freie Feld, das rassistischen Interpretationen überlassen wird. Jeder, ob erklärter Rassist oder nicht, weiß um das höchst unterschiedliche Los der Völker in der Geschichte. So sind die USA eine Gesellschaft europäischer Prägung, errichtet auf Land, das den indianischen Ureinwohnern entrissen wurde, und mit einer Bevölkerung, zu der die Nachfahren von Millionen Schwarzafrikanern gehören, die als Sklaven nach Amerika geschafft wurden. Das mo­derne Europa ist keine Gesellschaft schwarzafrikanischer Prägung, in der die Nachfahren von Millionen von In­dianern leben, die als Sklaven dorthin kamen.

Die Ergebnisse des Geschichtsverlaufs sind in ihrer Einseitigkeit kaum zu überbieten: Nein, es wurden nicht 51 Prozent der Fläche Amerikas, Australiens und Afri­kas von Europäern erobert und dafür 49 Prozent der Fläche Europas von Amerikanern, australischen Abori­gines oder Afrikanern. Die ganze moderne Welt wurde höchst einseitig geformt, und dafür muß es unwiderleg­liche Erklärungen geben, grundlegendere als solche, die sich mit dem Ausgang der einen oder anderen Schlacht oder dem Ursprung dieser oder jener Erfindung vor ei­nigen Jahrtausenden begnügen.

Es scheint plausibel anzunehmen, der Geschichtsver­lauf sei Ausdruck angeborener Unterschiede zwischen den Völkern. Sicher, man hat uns gelehrt, daß es sich nicht ziemt, solche Gedanken in der Öffentlichkeit zu äußern. Aber immer wieder hört man von wissenschaft­lichen Untersuchungen, in denen solche angeborenen Unterschiede angeblich nachgewiesen werden, und na­türlich läßt eine Widerlegung wegen angeblicher me­thodischer Fehler nicht lange auf sich warten. Im Alltag erleben wir, daß die Nachfahren der einst unterjochten Völker noch heute eine Unterschicht bilden, Jahrhun­derte nach der Eroberung beziehungsweise nach der Verschleppung als Sklaven. Auch dies, so sagt man uns, habe mit biologischen Faktoren nichts zu tun, sondern sei nur Ausdruck sozialer Benachteiligung und mangelnder Chancengleichheit.

Trotzdem kann man doch ins Grübeln kommen. Da sind all die eklatanten Unterschiede im Status der Völ­ker, die hartnäckig fortbestehen. Man versichert uns, daß die scheinbar einleuchtende biologische Erklärung für die schon vor 500 Jahren unübersehbaren Ungleichhei­ten auf der Welt falsch sei, läßt aber offen, wie denn die richtige Erklärung lauten müßte. Bis uns eine überzeu­gende, detaillierte und weithin akzeptierte Erklärung des allgemeinsten Verlaufsmusters der Geschichte vorliegt, werden die meisten Menschen sicher weiter die Vermu­tung hegen, daß an der rassistischen biologischen Er­klärung doch etwas dran sei. Und genau darin liegt für mich der Hauptgrund, dieses Buch zu schreiben.

Autoren werden von Journalisten regelmäßig gebeten, den Inhalt eines Buchs auf eine kurze Formel zu brin­gen. Sie könnte in diesem Fall so lauten: »Daß die Ge­schichte verschiedener Völker unterschiedlich verlief, beruht auf Verschiedenheiten der Umwelt und nicht auf biologischen Unterschieden zwischen den Völkern.«

Nun ist der Gedanke, daß Umwelt- und Biogeogra­phie Einfluß auf die gesellschaftliche Entwicklung neh­men, keineswegs neu. Er ist aber in Historikerkreisen nicht sehr beliebt, da er angeblich falsch oder simplifizie­rend sei. Häufig wird er auch als Ökodeterminismus ab­getan, oder die Suche nach einer schlüssigen Erklärung für die Unterschiede auf der Welt wird als zu schwie­riges Unterfangen zurückgestellt. Daß die Geographie einen gewissen Einfluß auf den Verlauf der Geschichte hatte, ist indes unstrittig. Offen ist nur, wie stark dieser Einfluß war und ob die Geographie das allgemeine Ver­laufsmuster der Geschichte zu erklären vermag.

Unterdessen geben neue Erkenntnisse aus wissen­schaftlichen Disziplinen, die auf den ersten Blick wenig mit Geschichte zu tun haben, Anlaß zu einer erneuten Auseinandersetzung mit diesen Fragen. Von Bedeutung sind insbesondere: Genetik, Molekularbiologie und Bio­geographie in bezug auf Kulturpflanzen und ihre wild­wachsenden Vorgänger; die gleichen Disziplinen sowie die Verhaltensökologie in bezug auf domestizierte Tiere und ihre wilden Vorfahren; Molekularbiologie in bezug auf menschliche und verwandte tierische Krankheitser­reger; Epidemiologie menschlicher Krankheiten; Human­genetik; Linguistik; archäologische Untersuchungen auf allen Kontinenten und großen Inseln; Untersuchungen zur Geschichte der Technik, der Schrift und der politi­schen Organisation.

Dieses breite Spektrum von Disziplinen wirft für ein Buch, das sich die Beantwortung von Yalis Frage zum Ziel setzt, erhebliche Probleme auf. So muß der Autor über Fachkenntnisse in allen obengenannten Diszipli­nen verfügen, um relevante neue Erkenntnisse in die von ihm vorzunehmende Synthese einbringen zu können. Geschichte und Vorgeschichte jedes Kontinents müs­sen ihm ebenso gründlich bekannt sein. Gegenstand des Buchs ist die Menschheitsgeschichte; es wird jedoch eine naturwissenschaftliche Betrachtungsweise zugrunde ge­legt, bei der historische Naturwissenschaften wie Evo­lutionsbiologie und Geologie den Schwerpunkt bilden. Vom Autor muß überdies verlangt werden, daß er aus eigener Erfahrung eine Vielzahl menschlicher Kulturen kennt, von Jägern und Sammlern bis hin zu den modernen Zivilisationen des Weltraumzeitalters.

Diesen Anforderungen kann auf den ersten Blick nur ein Sammelband mit Beiträgen verschiedener Autoren gerecht werden. Ein solches Vorgehen wäre jedoch von Anfang an zum Scheitern verurteilt, da der Kern des Problems ja gerade die einheitliche Synthese ist. Des­halb führt trotz aller Schwierigkeiten kein Weg an ei­nem Einzelautor vorbei. Dieser muß sich bis zum Hals in Arbeit stürzen und unermüdlich Material aus zahl­reichen Disziplinen auswerten, wobei ihm der Rat eben­so zahlreicher Fachkollegen unverzichtbar ist.

Mein beruflicher Werdegang brachte mich mit mehre­ren der aufgeführten Disziplinen in Berührung, noch be­vor mir Yali im Jahr 1972 seine Frage stellte. Meine Mutter ist Lehrerin und Linguistin, mein Vater Arzt und Spezia­list für genetische Faktoren bei Kinderkrankheiten. Mei­nem Vater nacheifernd, wollte ich als Schüler ebenfalls Arzt werden. Mein brennendes Interesse galt aber dane­ben, seit ich sieben Jahre alt war, der Vogelkunde. Es war für mich deshalb ein leichter Entschluß, gegen Ende mei­nes Grundstudiums vom Ziel des Medizinstudiums ab­zurücken und die biologische Forschung als neues Ziel zu wählen. Während meiner gesamten Schulzeit und in den ersten vier Jahren an der Universität waren jedoch Spra­chen, Geschichte und Schreiben die Schwerpunkte mei­ner Ausbildung gewesen. Selbst nachdem ich beschlossen hatte, in Physiologie zu promovieren, hängte ich im ersten Jahr des Fachstudiums die Naturwissenschaften beinahe an den Nagel, um statt dessen Linguist zu werden.

Seit Beendigung meiner Doktorarbeit im Jahr 1961 habe ich meine wissenschaftliche Betätigung zwischen zwei Bereichen aufgeteilt: Molekularphysiologie einer­seits, Evolutionsbiologie und Biogeographie andererseits. Als unvorhergesehener Pluspunkt für die Arbeit an die­sem Buch sollte sich erweisen, daß die Evolutionsbiologie als historische Naturwissenschaft zu anderen Methoden gezwungen ist als jene Disziplinen, die neue Erkennt­nisse hauptsächlich im Labor gewinnen. Aufgrund die­ser Erfahrungen waren die Schwierigkeiten beim Erar­beiten einer naturwissenschaftlichen Betrachtungsweise historischer Zusammenhänge für mich nicht ganz neu. Und da ich von 1958 bis 1962 in Europa gelebt und dort Menschen kennengelernt habe, deren Leben durch die europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts in brutal­ster Weise durcheinandergewirbelt worden war, hatte ich zudem schon früh angefangen, mir Gedanken über das Wirken und Ineinandergreifen historischer Kausal­ketten zu machen.

Die letzten 33 Jahre brachten mich im Rahmen evolu­tions biologischer Forschungen in engen Kontakt mit ei­ner Vielzahl menschlicher Kulturen. Mein Spezialgebiet ist die Vogelevolution, über die ich in Südamerika, im südlichen Afrika, in Indonesien, Australien und vor al­lem Neuguinea geforscht habe. Durch das Zusammen­leben mit den Einheimischen dieser Regionen hatte ich Gelegenheit zum besseren Kennenlernen etlicher tech­nisch primitiver Gesellschaften, von Jäger- und Samm­lervölkern bis hin zu einfachen bäuerlichen oder vom Fischfang lebenden Stammesgemeinschaften, die bis in die jüngste Vergangenheit noch Steinwerkzeuge verwen­deten. Was die meisten gebildeten Menschen als exoti­sche Lebensweise aus vorgeschichtlicher Zeit betrachten würden, ist deshalb für mich ein besonders lebendiger Teil meiner Erinnerung. Neuguinea, auf das zwar nur ein kleiner Teil der Landmasse der Erde entfällt, besitzt einen überproportional großen Anteil an der kulturellen Vielfalt unseres Planeten. Von den weltweit rund 6000 Sprachen der Gegenwart werden 1000 nur dort gespro­chen. Während meiner Vogelforschungen auf Neugui­nea entbrannte mein linguistisches Interesse neu, da es zu meinen Aufgaben gehörte, von den Einheimischen die örtlichen Vogelnamen in nahezu hundert neuguin­eischen Sprachen zu erfahren.

Diese verschiedenen Interessen bildeten die Grundlage für mein letztes Buch mit dem Titel Der dritte Schimpan­se, in dem ich die Evolution des Menschen in allgemein­verständlicher Form darzustellen versuchte. Kapitel 14 handelte unter der Überschrift »Zufällige Eroberer« von dem Ergebnis des Zusammentreffens von Europäern und amerikanischen Indianern. Nach Erscheinen des Buchs wurde mir bewußt, daß andere neuzeitliche, aber auch prähistorische Begegnungen zwischen Völkern ähnliche Fragen aufwarfen. Ich erkannte, daß die Frage, mit der ich in Kapitel 14 gerungen hatte, im Grunde die gleiche war wie jene, mit der mich Yali 1972 konfrontiert hatte, nur eben bezogen auf einen anderen Teil der Welt. Und so will ich nun, unterstützt von zahlreichen Freunden und Kollegen, endlich den Versuch wagen, Yalis Neu­gier zu befriedigen – und meine eigene.

Das Buch ist in vier Teile gegliedert. Teil I, »Von Eden nach Cajamarca«, umfaßt zwei Kapitel. Das erste (Kapi­tel 1) nimmt den Leser mit auf eine Blitzreise durch die menschliche Evolution und Geschichte, angefangen bei unserer Abzweigung vom gemeinsamen Stammbaum mit den Affen vor rund sieben Millionen Jahren bis zum Ende der letzten Eiszeit vor rund 13 000 Jahren. Wir ver­folgen die Ausbreitung unserer Urahnen von Afrika zu den anderen Kontinenten und gewinnen so eine Vorstel­lung vom Zustand der Welt, bevor jene Entwicklungen einsetzten, die oft unter dem Begriff »Aufstieg der Zivi­lisation« zusammengefaßt werden. Wie ich zeigen wer­de, hatten die Bewohner einiger Kontinente dabei einen zeitlichen Vorsprung vor denen anderer.

Das zweite Kapitel führt in das Thema der Kollisio­nen von Völkern verschiedener Kontinente ein. Gestützt auf Augenzeugenberichte, wird die dramatischste Be­gegnung dieser Art, die sich wohl je in der Geschich­te abgespielt hat, nacherzählt: die Gefangennahme des letzten unabhängigen Inka-Herrschers, Atahualpa, im Beisein seiner gesamten Armee durch Francisco Pizar­ro und eine kleine Schar von Konquis tadoren in der pe­ruanischen Stadt Cajamarca. Wir erfassen die Kette un­mittelbarer Faktoren, die Pizarro in die Lage versetz­ten, Atahualpa gefangenzunehmen, und die auch bei der Unterwerfung anderer indianischer Gesellschaften eine Rolle spielten. Dazu zählten die Krankheitserreger, Pferde, das Alphabet, die politische Organisation und Technik (insbesondere Schiffe und Waffen) der Spanier. Die Analyse der unmittelbaren Ursachen ist allerdings der leichte Teil dieses Buchs; der schwierige Teil ist die Aufdeckung der eigentlichen, sie bedingenden Ursachen, die dazu führten, daß die Geschichte diesen und nicht den umgekehrten Verlauf nahm, sprich, daß nicht Ata­hualpa nach Madrid zog und König Karl I. von Spani­en gefangennahm.

Teil II, »Beginn und Ausbreitung der Landwirtschaft«, befaßt sich in den Kapiteln 3–9 mit der aus meiner Sicht wichtigsten Konstellation eigentlicher Ursachen. In Ka­pitel 3 werde ich kurz skizzieren, wie die Landwirtschaft– also die planmäßige Erzeugung von Nahrung durch Ackerbau und Viehzucht anstelle des Jagens von Wild­tieren und des Sammelns von Früchten der Natur – im Endeffekt jene unmittelbaren Faktoren auf den Plan rief, die Pizarros Sieg ermöglichten. Der Aufstieg der Land­wirtschaft verlief jedoch in den verschiedenen Regionen der Erde sehr unterschiedlich. Wie ich in Kapitel 4 zei­gen werde, erfanden manche Völker in einigen Teilen der Welt die Landwirtschaft unabhängig von anderen. Andere übernahmen sie in prähistorischer Zeit von die­sen unabhängigen Zentren, während wieder andere die Land wirtschaft weder in prähistorischer Zeit erfanden noch übernahmen, sondern bis in die jüngste Vergan­genheit Jäger und Sammler blieben. Kapitel 5 geht den verschiedenen Faktoren nach, an denen es gelegen ha­ben könnte, daß der Übergang von der Jagd- und Sam­melwirtschaft zur Landwirtschaft in einigen Regionen stattfand, in anderen jedoch nicht. In den Kapiteln 6, 7 und 8 erfährt der Leser, wie die ersten Bauern und Viehzüchter, ausgehend von Wildpflanzen und -tieren, in prähistorischer Zeit Kulturpflanzen und Vieh dome­stizierten – ganz ohne zu ahnen, was daraus folgen soll­te. Geographische Unterschiede in der örtlichen Verbrei­tung von Wildpflanzen und -tieren, die geeignete Dome­stikationskandidaten darstellten, spielen eine wichtige Rolle bei der Frage, warum sich nur wenige Regionen zu unabhängigen Zentren der Landwirtschaft entwickelten und warum die Landwirtschaft in einigen Regio­nen früher auf den Plan trat als in anderen. Von diesen wenigen Ausgangszentren fand die Landwirtschaft den Weg in einige Regionen schneller, in andere langsamer. Als wichtiger Faktor, der die unterschiedliche Ausbrei­tungsgeschwindigkeit mit erklärt, erweist sich die Aus­richtung der Kontinentalachsen. Während in Eurasien die Ost-West-Achse dominiert, ist es in Amerika und Afrika die Nord-Süd-Achse (Kapitel 9).

Wir haben also in Kapitel 2 die unmittelbaren Fakto­ren skizziert, die zum Sieg der Europäer über die India­ner führten, und in Kapitel 3 die Herausbildung dieser Faktoren auf die Landwirtschaft als eigentliche Ursache zurückgeführt. In Teil III (»Von der Landwirtschaft zur Kleptokratie«, Kapitel 10–13) wird den Zusammenhän­gen zwischen unmittelbaren und eigentlichen Ursachen im Detail nachgegangen. Den Anfang macht die Evo­lution der für Gesellschaften mit hoher Bevölkerungs­dichte charakteristischen Krankheitserreger (Kapitel 10). Weitaus mehr Indianer und andere nichteurasische Völ­ker fielen eurasischen Krankheiten zum Opfer als den stählernen Waffen der Eindringlinge. Umgekehrt war­teten auf die europäischen Eroberer in der Neuen Welt nur wenige tödliche Krankheiten. Was waren die Grün­de für dieses ungleiche Verhältnis? Aufschluß geben die Ergebnisse neuerer molekularbiologischer Studien, die einen Zusammenhang, der in Europa wesentlich intensi­ver war als in Nord- und Südamerika, zwischen Krank­heitserregern und der Entstehung der Landwirtschaft nachweisen.

Eine weitere Kausalkette führt von der Landwirt­schaft zur Entstehung der Schrift, der vielleicht wich­tigsten Erfindung der letzten Jahrtausende (Kapitel 11). In der Geschichte der Menschheit wurde die Schrift nur einige wenige Male neu erfunden, und zwar in Gebie­ten, in denen die Landwirtschaft innerhalb der jeweili­gen Regionen am frühesten aufgekommen war. Alle an­deren Schriftkulturen übernahmen ihr Alphabet oder jedenfalls die Idee der Schrift von einem jener wenigen Hauptzentren. Beim Studium der Weltgeschichte läßt sich deshalb anhand der Schrift eine weitere wichtige Ur­sachenkonstellation besonders gut erforschen: der Ein­fluß der Geographie auf die Schnelligkeit und Leichtig­keit der Ausbreitung von Ideen und Erfindungen.

Was für die Schrift gilt, gilt auch für die Technik (Ka­pitel 12). Eine wichtige Frage lautet, ob es bei technischen Innovationen so sehr auf das seltene Genie einzelner Erfinderpersönlichkeiten ankommt und ob eine solche Vielzahl schwer zu systematisierender kultureller Fak­toren hineinspielt, daß allgemeine Gesetzmäßigkeiten nicht ermittelt werden können. Wie wir sehen werden, erleichtert die Vielfalt kultureller Faktoren paradoxer­weise gerade die Aufdeckung solcher Gesetzmäßigkeiten des technischen Fortschritts. Indem die Landwirtschaft Bauern in die Lage versetzte, Überschüsse zu erzeugen, gestattete sie es bäuerlichen Gesellschaften, sich hand­werkliche Spezialisten zu leisten, die selbst keine Nah­rung produzierten und ihre Energie statt dessen der Ent­wicklung neuer Techniken widmen konnten.

Neben Schreibern und Erfindern ermöglichte die Landwirtschaft den Bauern überdies auch den Unter­halt von Politikern (Kapitel 13). Bei umherziehenden Scharen von Jägern und Sammlern herrschen vergleichs­weise egalitäre Zustände, und die Politik beschränkt sich auf das Territorium der jeweiligen Gruppe sowie auf wechselnde Allianzen mit Nachbargruppen. Mit dem Aufkommen seßhafter, Nahrung produzierender, dich­ter Populationen ging der Aufstieg von Fürsten, Köni­gen und Bürokraten einher. Bürokratische Apparate wa­ren nicht nur die Voraussetzung für die Ausübung der Herrschaft über große, dicht besiedelte Gebiete, sondern auch für den Unterhalt stehender Heere, die Aussendung von Flotten zur Erkundung ferner Länder und zum Or­ganisieren von Eroberungskriegen.

Teil IV (»Reise um die Erde in fünf Kapiteln«, Kapi­tel 14–18) wendet die in Teil II und III gewonnenen Er­kenntnisse auf jeden der Kontinente sowie einige wich­tige Inseln an. Gegenstand von Kapitel 14 ist die Ge­schichte Australiens und der großen Insel Neuguinea, die einst mit dem australischen Festland verbunden war. Als Heimat von Kulturen, die bis in die Neuzeit auf ein­fachstem technischem Stand verharrten, und als einzi­ger Kontinent, der die Landwirtschaft nicht eigenstän­dig hervorbrachte, ist Australien für Theorien über in­terkontinentale Unterschiede zwischen menschlichen Kulturen ein entscheidender Prüfstein. Wir werden se­hen, warum australische Aborigines Jäger und Sammler blieben, während selbst im benachbarten Neuguinea die meisten Stämme zur Landwirtschaft übergingen.

In Kapitel 15 und 16 werden die Entwicklungen in Au­stralien und Neuguinea in eine Betrachtung der Gesamt­region einschließlich des ostasiatischen Festlands und der Pazifikinseln einbezogen. Der Aufstieg der Land­wirtschaft in China war Auslöser mehrerer umfassender prähistorischer Ausbreitungsbewegungen von mensch­lichen Populationen, kulturellen Merkmalen oder bei­dem zugleich. Eine fand in China selbst statt und brach­te das politische und kulturelle Phänomen Chinas her­vor, wie wir es heute kennen. Eine andere Bewegung hatte zur Folge, daß Jäger- und Sammlerpopulationen in nahezu dem gesamten südostasiatischen Raum ver­drängt wurden; an ihre Stelle traten bäuerliche Einwan­derer, deren ursprüngliche Heimat im Süden Chinas lag. Eine dritte Ausbreitungsbewegung, die austronesische Expansion, führte in ähnlicher Weise zur Verdrängung der Jäger- und Sammlerpopulationen auf den Philippi­nen und in Indonesien; während dabei selbst die entle­gensten Inseln Polynesiens besiedelt wurden, gelang es nicht, Australien und den größten Teil Neuguineas zu kolonisieren. All diese Kollisionen von ostasiatischen und pazifischen Völkern sind für das Studium der Welt­geschichte von doppeltem Interesse: Zum einen führ­ten sie zur Entstehung von Ländern, in denen heute ein Drittel der Weltbevölkerung lebt und die immer mehr wirtschaftliche Macht auf sich vereinen. Zum anderen eignen sie sich besonders gut als Beispiele, die das Ver­ständnis der Geschichte von Völkern in anderen Regio­nen der Welt erleichtern.

Kapitel 17 wendet sich erneut dem Problem aus Ka­pitel 2 zu, der Kollision von Europäern und amerika­nischen Indianern. Eine Zusammenfassung des Ge­schichtsverlaufs in der Neuen Welt und im westlichen Eurasien in den letzten 13 000 Jahren verdeutlicht, wa­rum die Eroberung Amerikas durch Europäer lediglich den Höhepunkt zweier langer, zumeist getrennter Ent­wicklungen bildete. Entscheidende Aspekte der unter­schiedlichen Entwicklung waren insbesondere die auf jedem Kontinent vorkommenden Pflanzen und Tiere, Krankheitserreger, die Zeitpunkte der Besiedlung, die Ausrichtung der Kontinentalachsen und die ökologi­schen Barrieren.

Kapitel 18 handelt schließlich von der Geschichte Afrikas südlich der Sahara, die verblüffende Ähnlich­keiten, aber auch Unterschiede zur Geschichte der Neu­en Welt aufweist. Die gleichen Faktoren, welche die Be­gegnungen zwischen Europäern und Afrikanern prägten, bestimmten auch das Zusammentreffen mit den india­nischen Gesellschaften Nord- und Südamerikas. Bei je­dem dieser Faktoren gab es jedoch auch Unterschiede zwischen Afrika und Amerika. Sie führten dazu, daß die europäischen Eroberungszüge, außer im äußersten Sü­den des Kontinents, keine umfassende beziehungsweise dauerhafte weiße Besiedlung Afrikas südlich der Saha­ra zur Folge hatten. Von nachhaltigerer Bedeutung war eine umfangreiche Bevölkerungsverschiebung, die sich innerhalb Afrikas abspielte: die Expansion der Bantu-Völker. Sie hatte, wie wir sehen werden, in vieler Hin­sicht gleiche Ursachen wie die Ereignisse in Cajamar­ca, Ostasien, auf den Pazifikinseln, in Australien und Neuguinea.

Ich hege nicht die Illusion, daß es mir gelingen könn­te, in wenigen Kapiteln die Geschichte der letzten 13 000 Jahre auf allen Kontinenten zu erklären. Das würde si­cher den Rahmen eines einzelnen Buchs sprengen, selbst wenn alle Fragen geklärt wären, was nicht der Fall ist. Es kann hier deshalb allenfalls darum gehen, einige Kon­stellationen von Umweltfaktoren aufzuzeigen, die, wie ich meine, die Antwort auf Yalis Frage zum großen Teil beinhalten. Die Beantwortung noch offener Fragen bleibt Aufgabe für die Zukunft.

Im Epilog werden unter der Überschrift »Die Zukunft der Geschichte als Naturwissenschaft« einige dieser of­fenen Fragen umrissen, beispielsweise das Problem der Unterschiede zwischen verschiedenen Teilen Eurasiens, die Rolle kultureller Faktoren, die nicht mit der Um­welt zusammenhängen, sowie die Rolle von Individuen in der Geschichte. Die vielleicht größte ungelöste Auf­gabe ist die Etablierung der Geschichtswissenschaft als historische Naturwissenschaft neben anerkannten Dis­ziplinen wie Evolutionsbiologie, Geologie und Klimato­logie. Die Erforschung der Menschheitsgeschichte wirft zweifellos große Schwierigkeiten auf, aber manche da­von sind durchaus jenen vergleichbar, mit denen auch in den anerkannten historischen Naturwissenschaften gerungen werden muß. Deshalb könnten sich einige der in diesen Bereichen entwickelten Methoden auch in der Geschichtswissenschaft als nützlich erweisen.

Ich hoffe, daß ich Sie, liebe Leser, schon jetzt über­zeugen konnte, daß Geschichte alles andere ist als eine langweilige Aneinanderreihung von Fakten, wie viele glauben. Daß es in der Geschichte allgemeine Verlaufs­muster gibt, steht außer Frage, und die Suche nach Er­klärungen ist ebenso lohnend wie spannend.