KAPITEL 2
Kollision in Cajamarca
Warum der Inka-Herrscher Atahualpa nicht auszog und König Karl I. gefangennahm
Die größte Bevölkerungsverschiebung der jüngeren Geschichte war die Kolonisierung der Neuen Welt durch Europäer, verbunden mit der Unterwerfung, Dezimierung oder gar völligen Ausrottung der meisten amerikanischen Indianerstämme. Wie in Kapitel 1 ausgeführt, erfolgte die Erstbesiedlung der Neuen Welt um das Jahr 11 000 v. Chr. oder schon früher auf dem Wege über Alaska, die Beringstraße und Sibirien. Im Laufe der Jahrtausende entwickelten sich weit südlich jener Einfallsroute komplexe Agrargesellschaften in völliger Isolation von den ebenfalls im Entstehen begriffenen komplexen Gesellschaften der Alten Welt. Nach der ursprünglichen Besiedlung Amerikas von Asien aus fanden glaubhaft belegte Kontakte zwischen Neuer und Alter Welt lediglich zwischen Jägern und Sammlern statt, die an beiden Ufern der Beringstraße lebten. Hinzu kam wahrscheinlich eine Reise über den Pazifik, bei der die Süßkartoffel von Südamerika nach Polynesien gelangte.
Die Kontakte zwischen Völkern der Neuen Welt und Europa beschränkten sich in präkolumbianischer Zeit auf einige Fahrten der Wikinger, die zwischen 986 und etwa 1500 n. Chr. in kleiner Zahl auf Grönland siedelten und von dort aus wiederholt den Atlantik überquerten. Doch jene Wikinger-Besuche blieben ohne erkennbaren Einfluß auf die indianischen Gesellschaften in Amerika. So gesehen begann die Kollision zwischen höher entwickelten Kulturen der Alten und der Neuen Welt abrupt im Jahr 1492 mit der »Entdeckung« dichtbesiedelter Karibikinseln durch Christoph Kolumbus.
Der wohl dramatischste Moment in den sich daraufhin entwickelnden europäischindianischen Beziehungen war die erste Begegnung des Inka-Herrschers Atahualpa mit dem spanischen Konquistador Francisco Pizarro in der Stadt Cajamarca im Hochland von Peru am 16. November 1532. Atahualpa war absoluter Herrscher über das größte und fortschrittlichste Staatswesen der Neuen Welt, während Pizarro als Vertreter von Karl V, Kaiser des Heiligen Römischen Reiches (auch bekannt als Karl I., König von Spanien) und Herrscher über den damals mächtigsten Staat Europas, auftrat. Pizarro, der einen bunt zusammengewürfelten Haufen von 168 spanischen Soldaten befehligte, befand sich auf fremdem Terrain, wußte kaum etwas über die örtliche Bevölkerung, war ohne Verbindung zum nächstgelegenen spanischen Posten, der tausend Meilen weiter nördlich in Panama lag, und konnte deshalb auf keinen Fall mit rascher Verstärkung rechnen, falls er in Not geriet. Atahualpa befand sich dagegen in seinem eigenen Reich mit Millionen von Untertanen und war umgeben von seinem 80 000 Mann starken Heer, das gerade siegreich einen Krieg gegen andere Indianer geführt hatte. Dennoch brachte Pizarro Atahualpa binnen weniger Minuten, nachdem beide sich zum erstenmal in die Augen geblickt hatten, in seine Gewalt. Er hielt ihn acht Monate lang als Geisel fest und erpreßte in dieser Zeit das größte Lösegeld der Geschichte gegen das Versprechen, ihn freizulassen. Als das geforderte Lösegeld – so viel Gold, daß es einen sechseinhalb Meter langen, fünf Meter breiten und zweieinhalb Meter hohen Raum füllte – beisammen war, brach Pizarro kurzerhand sein Versprechen und ließ Atahualpa hinrichten.
Atahualpas Gefangennahme war eine wichtige Voraussetzung für die Eroberung des Inka-Reichs durch die Europäer. Zwar hätten die Spanier aufgrund ihrer waffentechnischen Überlegenheit am Ende auf jeden Fall gesiegt, doch die Gefangennahme des Herrschers beschleunigte und erleichterte die Unterwerfung erheblich. Atahualpa wurde von den Inkas als Sonnengott und absoluter Gebieter, dessen Anordnungen sogar aus der Haft befolgt wurden, verehrt. In den Monaten vor seiner Ermordung hatte Pizarro Gelegenheit zur Aussendung von Erkundungstrupps, die unbehelligt andere Teile des Inka-Reichs erforschten. Außerdem konnte er nach Verstärkung aus Panama schicken. Als nach der Hinrichtung Atahualpas schließlich Kämpfe zwischen Spaniern und Inkas ausbrachen, waren die Eindringlinge zahlenmäßig nicht mehr ganz so unterlegen.
Die Gefangennahme Atahualpas interessiert uns somit als entscheidendes Moment der größten Kollision in der jüngeren Geschichte. Sie ist überdies von allgemeinerem Interesse, da die Faktoren, die dazu führten, daß Pizarro Atahualpa in seine Gewalt bringen konnte, im wesentlichen mit denen übereinstimmten, die das Ergebnis vieler ähnlicher Kollisionen zwischen fremden Eindringlingen und Urbevölkerungen an anderen Orten der Erde bestimmten. Insofern bietet Atahualpas Gefangennahme tiefe Einblicke in den Lauf der Geschichte.
Was sich an jenem Tag in Cajamarca abspielte, ist genau überliefert, da viele daran beteiligte Spanier das Geschehen schriftlich festhielten. Um einen lebendigen Eindruck der Ereignisse zu gewinnen, wollen wir uns mit Hilfe von Passagen aus Augenzeugenberichten von sechs Gefolgsleuten Pizarros, darunter seine Brüder Hernando und Pedro, in die Vergangenheit zurückversetzen lassen:
»Die Besonnenheit, innere Kraft, soldatische Disziplin, die endlosen Mühen, gefahrvollen Reisen und gefochtenen Schlachten der Spanier – Vasallen des ruhmreichen Kaisers des Heiligen Römischen Reiches, unseres Königs und Gebieters – werden die Gläubigen entzücken und die Ungläubigen in Schrecken versetzen. Aus diesem Grunde, zur Ehre Gottes des Allmächtigen und zum Wohle seiner Katholischen Majestät des Kaisers befand ich es für recht, diesen Bericht zu schreiben und Eurer Majestät zu übermitteln, damit jedermann erfahren könne, was darin zu lesen steht. Mein Bericht mehrt den Ruhm Gottes, weil es unter seiner Führung gelang, eine so unermeßliche Zahl von Heiden zu unterwerfen und zu unserem Heiligen Katholischen Glauben zu bekehren. Er mehrt auch den Ruhm unseres Kaisers, weil sich die Geschehnisse, von denen mein Bericht handelt, dank seiner überaus großen Macht und der Gunst der Vorsehung unter seiner Herrschaft zugetragen haben. Es wird den Gläubigen wohlklingen, daß so große Siege errungen, Länder entdeckt und erobert, Reichtümer zum Wohle des Königs und ihrer selbst heimgebracht wurden und daß unter den Ungläubigen Schrecken und unter allen Menschen Bewunderung gesät wurde.
Denn wann in der Geschichte wurden jemals so heldenhafte Taten von so wenigen im Kampf gegen so viele, in so vielen Gefilden, über so viele Meere und so große Entfernungen zu Lande vollbracht, um das unbekannte Fremde zu bezähmen? Wessen Taten sind vergleichbar mit denen Spaniens? Unsere Spanier, wenige an der Zahl, niemals mehr als 200 oder 300 Mann und manchmal nur hundert oder gar noch weniger, haben in unseren Tagen mehr Länder erobert als je einer vor ihnen – auch mehr, als all jene gottesgläubigen und heidnischen Fürsten ihr eigen nennen. Ich will hier nur aufschreiben, was sich bei der Eroberung zutrug, und werde mich knapp fassen, um Weitschweifigkeit zu vermeiden.
Statthalter Pizarro wollte Informationen von einigen Indianern, die aus Cajamarca unseres Weges gekommen waren, und ließ sie foltern. Sie gaben preis, daß Atahualpa in Cajamarca auf unseren Führer wartete. Der Statthalter ordnete darauf an, den Vormarsch fortzusetzen. Als wir den Eingang zu der Stadt erreichten, erblickten wir das Lager von Atahualpa in drei Meilen Entfernung am Fuße der Berge. Das Lager der Indianer bot einen Anblick wie eine sehr schöne Stadt. Der Zelte waren so viele, daß uns alle eine große Besorgnis überfiel. Noch nie hatten wir in der Neuen Welt etwas Vergleichbares gesehen. Furcht und Verwirrung ergriff unsere Herzen. Doch wir durften uns nichts anmerken lassen, und auch ein Rückzug kam nicht in Betracht, denn hätten uns die Indianer auch nur die kleinste Schwäche angemerkt, so hätten uns selbst jene, die als Führer mit uns marschierten, den Garaus gemacht. Also gaben wir uns zuversichtlich und stiegen nach sorgfältiger Beobachtung der Stadt und der Zelte in das Tal hinab und betraten Cajamarca.
Wir redeten viel über das, was nun zu tun sei. Jeder von uns war voller Furcht, da wir so wenige waren und uns so tief in ein Gebiet vorgewagt hatten, wo jede Hoff-nung auf Verstärkung vergebens war. Alle versammelten sich und debattierten mit Statthalter Pizarro, was am nächsten Tag geschehen sollte. Nur wenige legten sich zur Ruhe. Statt dessen hielten wir Wache auf dem Platz von Cajamarca. Die Lagerfeuer des Indianerheeres, die von dort zu sehen waren, boten einen furchterregenden Anblick. Die meisten befanden sich an einem Hang und waren so dicht beieinander, daß man an einen Himmel, übersät mit leuchtenden Sternen, denken mochte. In jener Nacht gab es keinen Unterschied zwischen Edelmännern und Gemeinen, Reitern und Fußvolk. Jeder verrichtete seinen Wachdienst in voller Bewaffnung. Auch der gute alte Statthalter wachte mit und ging von einem zum anderen, um den Männern Mut zu machen. Sein Bruder Hernando Pizarro verkündete, das Indianerheer sei 40 000 Mann stark, was aber eine Lüge war, dazu gedacht, uns Mut einzuflößen, denn in Wahrheit waren es über 80 000.
Am nächsten Morgen traf ein Bote von Atahualpa ein, und der Statthalter erklärte ihm: ›Sage deinem Herrn, daß er kommen solle, wann und wie er wünscht, und daß ich ihn als Freund und Bruder empfangen werde. Ich bete, daß er bald kommen möge, denn ich habe den großen Wunsch, ihm zu begegnen. Ihm soll kein Haar gekrümmt werden.‹
Der Statthalter versteckte seine Soldaten rund um den Platz von Cajamarca und teilte die Kavallerie in zwei Gruppen auf, von denen er eine seinem Bruder Hernando Pizarro, die andere Hernando de Soto unterstellte. Desgleichen teilte er die Infanterie auf und übernahm selbst die eine Hälfte, während er die andere unter den Befehl seines Bruders Juan Pizarro stellte. Zur gleichen Zeit schickte er Pedro de Candia und zwei oder drei Infanteristen mit Trompeten zu einer kleinen Befestigung auf dem Platz, wo sie sich mit einem Geschütz postieren sollten. Wenn alle Indianer, Atahualpa eingeschlossen, den Platz erreicht hatten, würde der Statthalter Candia und seinen Männern ein Signal geben, auf das sie mit dem Feuern der Kanone und dem Blasen der Trompeten beginnen sollten. Zum Klang der Trompeten sollten die Reiter aus dem Versteck, in dem sie lauerten, hervorpreschen.
Zur Mittagszeit begann Atahualpa, seine Männer aufzustellen und näher zu kommen. Binnen kurzer Zeit füllte sich die ganze Ebene mit Indianern, die in Abständen haltmachten, um auf die Nachrückenden zu warten, die in langer Reihe aus dem Lager strömten und getrennte Abteilungen bildeten. Das ging so bis in den Nachmittag. Die vorderen Abteilungen waren schon dicht bei unserem Lager, und immer noch strömten Soldaten aus dem Lager der Indianer. Zweitausend schritten vor Atahualpa her und fegten die Straße, über die er kommen würde. Dahinter marschierten die Krieger, je zur Hälfte links und rechts ihres Herrn neben dem Weg.
Als erstes kam eine Abteilung von Indianern, die nach Art eines Schachbrettmusters in verschiedenen Farben gekleidet waren. Während sie herannahten, entfernten sie alle Halme vom Boden und fegten die Straße. Als nächstes kamen drei Abteilungen von Indianern in unterschiedlicher Kleidung, die tanzten und sangen. Dann folgte eine Anzahl von Männern in Rüstungen mit großen Schilden aus Metall und Kronen aus Gold und Silber. Sie trugen so viel Gold und Silber am Leib, daß es einen wunderbaren Anblick bot, wie es in der Sonne funkelte. Zwischen ihnen thronte Atahualpa auf einer höchst vornehmen Sänfte, deren Traghölzer an den Enden mit Silber beschlagen waren. Achtzig Adlige in leuchtend blauen Gewändern trugen ihn auf ihren Schultern. Atahualpa selbst war sehr edel gekleidet, trug eine Krone auf dem Haupt und einen smaragdbesetzten Kragen um den Hals. Er saß auf einem kleinen Hocker mit dickem Polster, der auf seiner Sänfte stand. An den Seiten der mit Gold und Silber verzierten Sänfte prangten Papageienfedern in vielen verschiedenen Farben.
Hinter Atahualpa folgten zwei weitere Sänften und zwei Hängematten, in denen hohe Adlige getragen wurden, dann mehrere Abteilungen von Indianern mit Kronen aus Gold und Silber. Letztere betraten als erste mit lautem Gesang den Platz, den sie vollständig ausfüllten. Unterdessen lauerten wir Spanier allesamt mit furchterfülltem Herzen in unserem Versteck in einem Hof. Viele von uns urinierten aus schierem Entsetzen in die Hose, ohne es zu merken. In der Mitte des Platzes angekommen, verharrte Atahualpa in seiner Sänfte, während seine Soldaten von hinten weiter auf den Platz strömten.
Statthalter Pizarro schickte nun Bruder Vicente de Valverde hinaus, um mit Atahualpa zu reden und ihn im Namen Gottes und des Königs von Spanien aufzufordern, sich dem Gesetz unseres Herrn Jesus Christus zu unterwerfen und sich in den Dienst seiner Majestät des Königs von Spanien zu stellen. Ein Kreuz in der einen und die Bibel in der anderen Hand, bahnte sich Bruder Vicente den Weg durch die Indianer dorthin, wo sich Atahualpa befand, und sprach folgende Worte zu ihm: ›Ich bin ein Priester Gottes und unterweise die Christenmenschen in den Dingen des Herrn. In gleicher Manier komme ich nun, dich zu unterweisen. Gegenstand meiner Unterweisungen sind die Worte, die Gott in diesem Buch hier zu uns spricht. Deshalb fordere ich dich im Namen Gottes und der Christen auf, ihr Freund zu sein, denn so lautet Gottes Wille, und es wird auch zu deinem Wohle sein.‹
Atahualpa ließ sich die Bibel geben, damit er sie betrachten könne, und der Bruder überreichte sie ihm mit geschlossenem Deckel. Atahualpa wußte nicht, wie man sie öffnet, und so streckte der Bruder seinen Arm aus, um es für ihn zu tun, doch Atahualpa schlug den Arm mit zorniger Geste beiseite, daß die Bibel nicht geöffnet werde. Dann öffnete er sie selbst, zeigte nicht das geringste Erstaunen über die Schrift und das Papier und warf sie, purpurrot im Gesicht, in hohem Bogen fort.
Bruder Vicente wandte sich zu Pizarro um und schrie: »Kommt heraus! Kommt heraus, Christenmenschen! Bekämpft diese feindseligen Hunde, die das Wort Gottes zurückweisen. Dieser Tyrann hat das Heilige Buch auf den Boden geworfen! Habt ihr nicht gesehen? Warum höflich und servil zu diesem aufgeblasenen Hund sein, wenn die Ebene von Indianern wimmelt? Marschiert gegen ihn, denn ich erteile euch Absolution!‹
Der Statthalter gab Candia das verabredete Signal, worauf dieser begann, die Kanonen abzufeuern. Dazu ertönten die Trompeten, und die spanischen Soldaten, Kavallerie und Infanterie, stoben aus ihren Verstecken hervor mitten hinein in die Menge der unbewaffneten Indianer, die den Platz ausfüllte, und stießen dazu den spanischen Schlachtruf ›Santiago!‹ aus. Wir hatten Rasseln an die Pferde gebunden, um den Indianern Furcht einzujagen. Das Donnern der Kanonen, der Klang der Trompeten und die Rasseln an den Pferden versetzten die Indianer in Schrecken und Verwirrung. Die Spanier fielen über sie her und fingen an, sie niederzumetzeln. So voller Furcht waren die Indianer, daß sie aufeinander kletterten und sich gegenseitig erstickten. Da sie keine Waffen trugen, war der Angriff für die Christen ohne Gefahr. Die Kavallerie ritt sie nieder, tötete, verwundete und verfolgte sie. Die Infanterie ging so erfolgreich gegen die verbliebenen Indianer vor, daß binnen kurzer Zeit die meisten von Schwertern niedergestreckt waren.
Der Statthalter selbst nahm sein Schwert und seinen Dolch, begab sich mit einigen Begleitern mitten hinein ins Getümmel der Indianer und erreichte mit großem Mut Atahualpas Sänfte. Furchtlos packte er Atahualpa am linken Arm und schrie dazu ›Santiago!‹, doch es gelang ihm nicht, Atahualpa aus seiner Sänfte zu zerren, da sie hochgehalten wurde. Obwohl wir die Sänftenträger einen nach dem anderen töteten, nahmen andere sofort ihren Platz ein und hielten die Sänfte hoch, so daß wir lange Zeit damit beschäftigt waren, Indianer zu überwältigen und zu töten. Schließlich gaben sieben oder acht Spanier ihren Pferden die Sporen, sprangen von einer Seite auf die Sänfte und warfen sie mit großer Anstrengung auf die Seite. Auf diese Weise wurde Atahualpa gefangengenommen, und der Statthalter brachte ihn zu seiner Unterkunft. Die Sänftenträger und jene Indianer, die Atahualpa eskortiert hatten, blieben bis zuletzt an seiner Seite und mußten alle sterben.
Erschreckt vom Donner der Kanonen und dem Anblick der Pferde – beides war ihnen völlig neu –, versuchten die Indianer, die noch auf dem Platz waren, in großer Panik zu entfliehen, indem sie die Mauer an einer Stelle einrissen und in die Ebene dahinter liefen. Unsere Kavallerie setzte ihnen nach und blies zum Angriff, wozu die Parole ausgegeben wurde: Jagt die mit den feinen Gewändern! Laßt keinen entkommen! Spießt alle auf!‹ Das Indianerheer, das Atahualpa mitgebracht hatte, wartete unterdessen eine Meile vor Cajamarca, bereit zur Schlacht, doch es regte sich nicht, und während des ganzen Geschehens erhob nicht ein einziger Indianer seine Waffe zum Kampf gegen die Spanier. Als diejenigen Abteilungen, die in der Ebene vor der Stadt stehengeblieben waren, sahen, wie die anderen Indianer schreiend flohen, gerieten die meisten ebenfalls in Panik und ergriffen die Flucht. Es war ein seltsamer Anblick, denn das ganze Tal war auf 15 oder 20 Meilen voller Indianer. Die Nacht war bereits angebrochen, und unsere Kavallerie war immer noch damit beschäftigt, Indianer zu verfolgen und in den Feldern niederzumachen, als eine Trompete ertönte und uns das Signal zur Rückkehr ins Lager gab.
Wäre es nicht Nacht geworden, hätten nur wenige der über 40 000 indianischen Krieger ihr Leben retten können. Sechs-, wenn nicht sogar siebentausend Indianer waren getötet, und viele weitere hatten einen Arm verloren und waren verwundet. Atahualpa gestand selbst ein, daß wir in der Schlacht 7000 seiner Männer getötet hatten. Der Mann in einer der Sänften, der ebenfalls den Tod gefunden hatte, war der Herrscher von Chincha, der hoch in Atahualpas Gunst stand. Die Sänftenträger waren offenbar alle hohe Würdenträger und Ratsmitglieder gewesen. Keiner von ihnen überlebte, und gleiches galt auch für die Träger der anderen Sänften und Hängematten. Der Fürst von Cajamarca fiel ebenso wie viele andere, doch waren ihrer so viele, daß man sie nicht zählen konnte, denn alle, die Atahualpa persönlich dienten, waren hohe Herren. Es war ungewöhnlich, Zeuge zu werden, wie ein so mächtiger Herrscher in so kurzer Zeit gefangengenommen werden konnte, war er doch in Begleitung eines so starken Heeres gekommen. Wahrlich, dieses Werk konnte von uns wenigen Mannen nicht aus eigener Kraft vollbracht werden. Das konnte nur durch Gottes Gnade geschehen, die groß ist.
Atahualpas Gewand war ihm vom Leibe gerissen worden, als ihn die Spanier aus seiner Sänfte gezerrt hatten. Der Statthalter ließ ihm Kleidung bringen, und als Atahualpa angezogen war, befahl er ihm, bei sich Platz zu nehmen, und beschwichtigte ihn in seiner Wut und Empörung über seinen plötzlichen Sturz aus so hoher Position. Der Statthalter sprach zu Atahualpa: ›Nimm es nicht als Schmach, daß du besiegt und gefangen bist, denn zusammen mit den Christen, die mich begleiten und derer nur wenige an der Zahl sind, habe ich schon größere Reiche als deines unterworfen und mächtigere Fürsten als dich besiegt und in ihren Ländern die Herrschaft des Kaisers errichtet, dessen Vasall ich bin und der König von Spanien und des ganzen Erdballs ist. Wir sind gekommen, dieses Land in seinem Namen in Besitz zu nehmen, auf daß seine Bewohner Gott kennenlernen und den Heiligen Katholischen Glauben annehmen mögen. Um unserer guten Mission willen läßt Gott, der Schöpfer des Himmels und der Erde und aller Dinge und Lebewesen darauf, zu, daß dies geschieht, damit du ihn annehmen mögest und aus dem Leben in Finsternis und Barbarei, das du führst, befreit werdest. Dies ist der Grund, warum wir, so wenige an der Zahl, dein riesiges Heer bezwingen. Wenn du die Irrtümer erkannt hast, in denen du lebst, wirst du begreifen, daß wir dir Gutes taten, als wir auf Geheiß seiner Majestät des Königs von Spanien in dein Land kamen. Unser Herr hat es so gewollt, daß dein Stolz gebrochen werde und daß kein Indianer die Macht haben solle, sich an einem Christenmenschen zu vergreifen.‹«
Wir wollen einmal die Kausalkette zurückverfolgen, die zu dieser außergewöhnlichen Konfrontation führte, angefangen mit dem unmittelbaren Geschehen. Wie kam es beim Zusammentreffen von Pizarro und Atahualpa in Cajamarca dazu, daß Pizarro den Inka-Herrscher in seine Gewalt brachte und so viele Männer in dessen Gefolge tötete, statt daß umgekehrt Atahualpas Streitkräfte, die doch eine enorme Übermacht besaßen, Pizarro und seine Männer besiegten? Immerhin bestand Pizarros Streitmacht nur aus 62 Reitern und 106 Fußsoldaten, während Atahualpa ein Heer von rund 80 000 Mann befehligte. Und weiter: Wie kam es überhaupt,
daß Pizarro in Amerika war? Warum war nicht Atahualpa nach Spanien gefahren, um König Karl I. gefangenzunehmen? Warum tappte Atahualpa in eine, wie man im Rückblick sagen muß, so durchsichtige Falle? Kamen die Faktoren, die bei der Begegnung Atahualpas und Pizarros eine Rolle spielten, auch bei anderen Begegnungen zwischen Völkern der Alten und der Neuen Welt zum Tragen?
Warum konnte Pizarro Atahualpa in seine Gewalt bringen? Pizarros militärische Überlegenheit bestand in den Schwertern und anderen Waffen und Rüstungen aus Stahl, in seinen Kanonen und Pferden. Dem hatten Atahualpas Soldaten nur Keulen und Äxte aus Stein, Bronze oder Holz, dazu Schleudern und leichte Rüstungen entgegenzusetzen; außerdem mangelte es ihnen an Tieren für den Ritt in die Schlacht. Dieser ungleiche Ausrüstungsstand spielte in zahllosen anderen Konfrontationen von Europäern mit Indianern und anderen Völkern eine entscheidende Rolle.
Die einzigen Indianerstämme, die sich der Unterwerfung durch Europäer viele Jahrhunderte lang erfolgreich widersetzten, waren jene, die in den Besitz von Pferden und Gewehren gelangt waren und das militärische Ungleichgewicht auf diese Weise gemindert hatten.
Erwähnt man gegenüber weißen Amerikanern das Wort »Indianer«, denken die meisten sofort an einen gewehrschwingenden Prärieindianer auf einem Pferd – ganz nach dem Bild jener Sioux-Krieger, die 1876 in der berühmten Schlacht am Little Big Horn das von General George Custer angeführte Bataillon der US-Streitkräfte vollständig aufrieben. Dabei wird oft vergessen, daß Pferde und Flinten den Indianern natürlich anfangs fremd waren. Es handelte sich um Mitbringsel der Europäer, die dann in den Stämmen, die in ihren Besitz gelangten, weitreichende Veränderungen auslösten. Dank der Beherrschung des Umgangs mit Pferden und Gewehren konnten die Prärieindianer in Nordamerika, die araukanischen Indianer in Südchile und die Pampasindianer in Argentinien die weißen Eindringlinge länger als alle anderen Indianerstämme erfolgreich abwehren. Erst in den siebziger und achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts mußten sie ihren Widerstand nach massivem militärischem Vorgehen weißer Regie rungen aufgeben.
Wir können uns heute nur schwer vorstellen, wie sich die Spanier, gestützt auf ihre bessere militärische Ausrüstung, gegen eine so ungeheure zahlenmäßige Überlegenheit durchsetzen konnten. In der Schlacht von Cajamarca siegten sie über ein Indianerheer, das 500mal mehr Soldaten zählte als Pizarros kleine Schar. Tausende von Indianern wurden getötet, ohne daß ein einziger Spanier sein Leben verlor. In Berichten über Pizarros spätere Kämpfe gegen die Inkas, über Cortés’ Sieg über die Azteken und andere frühe Feldzüge von Europäern gegen indianische Reiche werden immer wieder Begegnungen geschildert, bei denen ein paar Dutzend europäische Reiter Tausende von Indianern niedermetzelten. Als Pizarro nach dem Tod Atahualpas von Cajamarca zur Inka-Hauptstadt Cuzco zog, kam es zu vier derartigen Schlachten: bei Jauja, Vilcashuaman, Vilcaconga und Cuzco. Auf spanischer Seite waren daran nur jeweils 80, 30, 110 und 40 Reiter beteiligt, denen Tausende oder sogar Zehntausende von Indianern gegenüberstanden.
Diese Siege der Spanier lassen sich nicht ohne weiteres auf die Unterstützung durch indianische Verbündete, das psychologische Überraschungsmoment der spanischen Waffen und Pferde oder, wie oft behauptet wird, die falsche Annahme der Inkas, es handle sich bei den Spaniern um ihre heimkehrende Gottheit Viracocha, zurückführen. Es stimmt zwar, daß Pizarro und Cortés nach ihren ersten Erfolgen Verbündete unter den Indianern fanden. Jedoch wären viele dieser Stämme wohl kaum mit den Spaniern marschiert, hätten sie nicht bereits überwältigende Erfolge von Spaniern, die allein kämpften, zu der Überzeugung gebracht, daß Widerstand zwecklos und man gut beraten sei, sich auf die Seite der voraussichtlichen Sieger zu stellen. In Cajamarca war es zweifellos die Neuartigkeit von Pferden, Gewehren und Kanonen, die die Inkas wie gelähmt innehalten ließ, doch die vier Schlachten auf dem Weg nach Cuzco wurden gegen den entschiedenen Widerstand von Inka-Heeren gewonnen, die schon Erfahrung mit spanischen Waffen und Pferden besaßen. Innerhalb von einem halben Dutzend Jahren nach der ursprünglichen Eroberung erhoben sich die Inkas zweimal in verzweifelten, großangelegten und gut vorbereiteten Rebellionen gegen die Spanier. Deren Bewaffnung, die ihnen eine haushohe Überlegenheit verschaffte, ließ die Inkas beide Male scheitern.
Im 18. Jahrhundert löste das Gewehr das Schwert als augenfälligstes Symbol waffentechnischer Überlegenheit der Europäer ab. Ein besonders schauriges Beispiel für das, was sich damit anrichten ließ, lieferte der britische Seemann Charlie Savage, der, mit einigen Musketen bewaffnet, im Jahr 1808 auf den Fidschiinseln landete. Savage, der seinem Namen, der soviel wie »Barbar« bedeutet, alle Ehre machte, brachte es im Alleingang fertig, das Machtgleichgewicht auf Fidschi aus den Angeln zu heben. Eine seiner vielen Untaten war eine Kanufahrt einen Fluß hinauf zu dem Dorf Kasavu, wo er weniger als einen Pistolenschuß vom Dorfzaun entfernt haltmachte und auf die wehrlosen Bewohner zu feuern begann. Seine Opfer waren so zahlreich, daß die überlebenden Dorfbewohner die Leichen auftürmten und dahinter Schutz suchten, während sich das Wasser des Bachs, an dem das Dorf lag, von ihrem Blut rot färbte. Die Reihe derartiger Beispiele für die Macht von Feuerwaffen über Völker, die keine besitzen, ließe sich endlos fortsetzen.
Bei der Eroberung des Inka-Reichs durch die Spanier waren Schußwaffen noch von untergeordneter Bedeutung. Die Gewehre jener Zeit, sogenannte Hakenbüchsen, waren umständlich zu bedienen, und Pizarro führte lediglich ein Dutzend davon mit. Wurden sie benutzt, verfehlten sie jedoch selten ihre psychologische Wirkung. Von weit größerer Bedeutung waren die stählernen Schwerter, Lanzen und Dolche der Spanier – solide, scharfe Waffen, denen Gegner in leichten Rüstungen schnell zum Opfer fielen. Im Gegensatz dazu konnten die Indianer mit ihren stumpfen Schlagwaffen zwar die Spanier und ihre Pferde übel zurichten, aber zum Töten reichte es nur selten. Während die Stahlrüstungen oder Kettenpanzer der Spanier und vor allem ihre Helme wirksamen Schutz gegen Keulenhiebe boten, stellten die leichten Rüstungen der Indianer für Stahlwaffen kein Hindernis dar.
Die gewaltige Überlegenheit, die die Spanier dem Besitz von Pferden verdankten, wird in den Schilderungen von Augenzeugen überdeutlich. Reiter konnten den Wachposten der Indianer davongaloppieren, bevor diese Zeit hatten, ihre Einheiten zu warnen. Sie konnten jeden, der sich ihnen in den Weg stellte, mühelos über den Haufen reiten und töten. Der Schrecken, den ein Angriff mit Pferden hervorrief, die große Wendigkeit der Tiere, das hohe Tempo des Angriffs und die geschützte, weil erhöhte Kampfposition der Reiter bewirkten, daß ihnen Fußsoldaten auf offenem Feld nahezu wehrlos ausgeliefert waren. Die große Wirkung der Pferde war dabei nicht allein auf den Schrecken zurückzuführen, den sie bei jenen auslösten, die ihnen zum erstenmal gegenüberstanden. Zur Zeit des großen Inka-Aufstands von 1536 wußten die Inkas schon sehr gut, wie man sich am besten gegen Kavallerie verteidigte, nämlich durch Hinterhalte und Angriffe in engen Pässen. Doch wie allen anderen, die es je versuchten, gelang es auch den Fußsoldaten der Inkas nie, berittene Streitkräfte in offener Schlacht zu besiegen. Als Quizo Yupanqui, der beste General des Inka-Herrschers Manco, der Atahualpa im Amt nachgefolgt war, die Spanier 1536 in Lima belagerte und versuchte, die Stadt zu erstürmen, griffen zwei Schwadronen der spanischen Kavallerie die zahlenmäßig weit überlegene indianische Streitmacht auf flachem Feld an, töteten Quizo und alle seine Kommandeure beim ersten Ansturm und rieben Quizos Heer vollständig auf. Durch einen ähnlichen Kavallerieangriff, ausgeführt von nur 26 Reitern, wurden wenig später die besten Einheiten des Herrschers selbst vernichtet, als er die Spanier in Cuzco belagerte.
Die Transformation der Kriegführung durch das Pferd begann mit seiner Domestikation um 4000 v. Chr. in den Steppen nördlich des Schwarzen Meeres. Pferde verschafften ihren Besitzern die Möglichkeit, weitaus größere Entfernungen zu überwinden als zu Fuß, Überraschungsangriffe zu unternehmen und schnell zu entkommen, bevor eine überlegene Streitmacht zusammengerufen war. Ihre Rolle in Cajamarca ist somit ein Beispiel für ein militärisches Machtinstrument, das seine Wirksamkeit 6000 Jahre lang bis ins frühe 20. Jahrhundert behielt und im Laufe der Zeit auf allen Kontinenten eingesetzt wurde. Erst im Ersten Weltkrieg ging die Ära der Kavallerie zu Ende. Führt man sich vor Augen, welche Überlegenheit die Spanier aufgrund ihrer Pferde und ihrer Waffen und Rüstungen aus Stahl besaßen, sollte es nicht länger überraschen, daß sie im Kampf gegen Fußsoldaten ohne stählerne Waffen und Rüstungen trotz gewaltiger zahlenmäßiger Unterlegenheit eine Schlacht nach der anderen gewannen.
Warum war Atahualpa in Cajamarca? Atahualpa und sein Heer befanden sich in Cajamarca, weil sie gerade entscheidende Schlachten in einem Bürgerkrieg gewonnen hatten, der die Inkas gespalten und ihr Staatswesen geschwächt hatte. Pizarro begriff die Situation rasch und wußte geschickt aus den inneren Problemen der Inkas Vorteile zu schlagen. Ursache des Bürgerkriegs war eine Pockenepidemie, die sich, nachdem sie von Spaniern nach Panama und Kolumbien eingeschleppt worden war, unter den südamerikanischen Indianern ausbreitete und gegen 1526 den Inka-Herrscher Huayna Capac und fast seinen gesamten Hofstaat dahinraffte; kurz darauf fiel auch der designierte Nachfolger des Herrschers, Ninan Cuyuchi, der Seuche zum Opfer. Daraufh in entspann sich ein Kampf um die Thronfolge zwischen Atahualpa und seinem Halbbruder Huascar. Ohne die Krankheitsepidemie hätten es die Spanier mit einem geeinten Gegner zu tun gehabt.
Atahualpas Anwesenheit in Cajamarca wirft somit ein Schlaglicht auf einen der wichtigsten Faktoren der Weltgeschichte: Krankheiten, mit denen Völker, die ein beträchtliches Maß an Immunität besaßen, andere Völker, denen es an solcher Immunität mangelte, ansteckten. Pocken, Masern, Grippe, Typhus, Beulenpest und andere Infektionskrankheiten europäischer Herkunft spielten eine entscheidende Rolle bei den Eroberungen der Europäer, indem sie zahlreiche Völker anderer Kontinente dezimierten. So wütete eine Pockenepidemie nach dem fehlgeschlagenen ersten Eroberungsversuch der Spanier im Jahr 1520 unter den Azteken. Sie tötete nicht nur einen großen Teil der Bevölkerung, sondern forderte auch das Leben von Cuitlahuac, der nur kurze Zeit Montezumas Nachfolger als Azteken-Herrscher war. In ganz Nord- und Südamerika eilten die mitgebrachten Krankheiten den vordringenden Europäern von Stamm zu Stamm voraus und griffen um sich, lange bevor sie selbst eintrafen. Nach Schätzungen kamen auf diese Weise 95 Prozent der präkolumbianischen Indianerbevölkerung ums Leben. Die bevölkerungsreichsten und am weitesten entwickelten Zivilisationen Nordamerikas, die Reiche am Mississippi, gingen auf diese Weise zwischen 1492 und dem späten 17. Jahrhundert unter, noch bevor die Europäer ihre erste Siedlung am Mississippi errichteten. Bei der Unterwerfung des südafrikanischen San-Volks durch europäische Siedler war eine Pockenepidemie im Jahr 1713 der wichtigste Faktor. In Australien breitete sich kurz nach der Errichtung einer britischen Siedlung am Ort des heutigen Sydney im Jahr 1788 die erste einer Reihe von Epidemien aus, denen im Laufe der Zeit ein Großteil der australischen Aborigines zum Opfer fallen sollte. Ein gut dokumentiertes Beispiel aus der pazifischen Inselwelt ist die Epidemie, die 1806 wie ein Sturm über die Fidschiinseln fegte, eingeschleppt von einigen europäischen Seeleuten, die sich vom Wrack ihres Schiffs, der Argo, an Land gerettet hatten. Ähnliche Epidemien prägten auch die Geschichte Tongas, Hawaiis und anderer Pazifikinseln.
Das soll natürlich nicht heißen, daß sich die Rolle von Krankheiten in der Geschichte darin erschöpfte, europäischen Eroberern den Weg zu ebnen. Im Gegenteil: Malaria, Gelbfieber und andere Tropenkrankheiten Afrikas, Indiens, Südostasiens und Neuguineas stellten bei der Kolonisierung dieser Gebiete durch Europäer das größte Hindernis dar.
Warum war Pizarro in Cajamarca? Warum war nicht Atahualpa in Spanien, um es zu erobern? Daß Pizarro nach Cajamarca gelangte, verdankte er dem Stand des europäischen Schiffbaus, der ihm erst die Reise von Spanien über den Atlantik nach Panama und dann die Fahrt durch den Pazifik nach Peru ermöglichte. Atahualpa besaß keine großen Schiffe, und folglich waren seinem Expansionsstreben durch die Ozeane Grenzen gesetzt.
Eine weitere Voraussetzung der Anwesenheit Pizarros war die zentralistische politische Ordnung, die es Spanien ermöglichte, Schiffe zu finanzieren, zu bauen, mit Mannschaften zu besetzen und auszurüsten. Das Inka-Reich besaß ebenfalls eine zentralistische politische Ordnung, die jedoch im Endeffekt zum Nachteil für die Inkas wurde, da sich Pizarro durch die Gefangennahme Atahualpas mit einem Schlag der Befehlskette der Inkas bemächtigen konnte. Wegen der starken Ausrichtung der Inka-Bürokratie auf den als Gottkönig und absoluten Herrscher verehrten Atahualpa zerfiel sie nach dessen Tod. Auch auf anderen Kontinenten waren Schiffbau und Navigationskünste, gekoppelt mit bestimmten Formen politischer Organisation, Voraussetzung für Eroberungen nicht nur der Europäer, sondern auch vieler anderer Völker.
Ein weiterer Faktor, der beim Vordringen der Spanier nach Peru eine Rolle spielte, war die Schrift. Die Spanier besaßen sie, die Inkas nicht. Mit Hilfe der Schrift konnten Informationen weit schneller, präziser und detaillierter verbreitet werden als durch mündliche Weitergabe. Die Berichte über die Fahrten des Kolumbus und die Eroberung Mexikos durch Cortés, die nach Spanien zurückdrangen, setzten dort einen Strom von Menschen in Bewegung, der sich in die Neue Welt ergoß. Briefe und Schriften weckten zum einen das Interesse und lieferten zum anderen das für die Navigation erforderliche Wissen. Der erste veröffentlichte Bericht über Pizarros Heldentaten, verfaßt von einem seiner Kampfgefährten, Hauptmann Cristóbal de Mena, erschien im April 1534 in gedruckter Form in Sevilla, nur neun Monate nach der Hinrichtung Atahualpas. Er avancierte zum Bestseller, der rasch in andere europäische Sprachen übersetzt wurde und dafür sorgte, daß sich ein weiterer Strom spanischer Siedler in Bewegung setzte, um Pizarros Herrschaft über Peru zu festigen.
Warum ging Atahualpa in die Falle? Im Rückblick wundert man sich, daß Atahualpa so arglos in Pizarros offenkundige Falle in Cajamarca tappte. Die Spanier, die ihn gefangennahmen, waren von ihrem Erfolg selbst überrascht. Bei der Erklärung spielt letztlich die Schrift eine nicht unerhebliche Rolle.
Die unmittelbare Erklärung ist das äußerst spärliche Wissen Atahualpas über die Spanier, ihre militärische Stärke und ihre Absichten. Was er wußte, stammte aus mündlichen Quellen, wobei er sich hauptsächlich auf einen Gesandten stützte, der Pizarros Truppe zwei Tage auf dem Weg von der Küste ins Inland begleitet hatte. Dabei erlebte er die Spanier in ihrer chaotischsten Phase, so daß er Atahualpa berichtete, man habe es nicht mit Kriegern zu tun und 200 Indianer seien mehr als genug, um mit den Eindringlingen fertig zu werden. Verständlicherweise kam es Atahualpa nicht in den Sinn, daß ihn die Spanier ohne Provokation angreifen würden beziehungsweise überhaupt eine Gefahr für ihn darstellen könnten.
Die Kunst des Lesens und Schreibens beherrschten in der Neuen Welt nur kleine Eliten einiger Völker des damaligen Mexiko und benachbarter Gebiete weit nördlich des Inka-Reichs. Obwohl Spanien mit der Eroberung Panamas, das von der Nordgrenze der Inkas nur rund tausend Kilometer entfernt war, schon im Jahr 1510 begonnen hatte, war offenbar noch nicht einmal die Kunde von der Existenz der Spanier zu den Inkas gedrungen, als Pizarro 1527 erstmals an der peruanischen Küste landete. Atahualpa hatte mithin nicht die leiseste Ahnung von der Eroberung der mächtigsten und bevölkerungsreichsten indianischen Reiche Mittelamerikas durch die Spanier.
Ebenso überraschend wie das Verhalten Atahualpas, das zu seiner Gefangennahme führte, erscheint uns heute sein weiteres Gebaren. Das berühmte Lösegeld bot er in dem naiven Glauben an, die Spanier würden ihn nach dessen Zahlung freilassen und sich wieder aus dem Staub machen. Er konnte nicht ahnen, daß Pizarro und seine Männer nur der Auftakt zu einer Invasion waren, der es nicht um vereinzelte Beutezüge, sondern um dauerhafte Inbesitznahme ging.
Atahualpa stand mit seinen fatalen Irrtümern nicht allein. Selbst nach seiner Gefangennahme gelang es Francisco Pizarros Bruder Hernando Pizarro, den höchsten General Atahualpas, Chalcuchima, der ein großes Heer befehligte, mit Arglist zu überreden, sich in die Gewalt der Spanier zu begeben. Chalcuchimas Fehleinschätzung markierte einen Wendepunkt, da der Widerstand der Inkas danach schwächer wurde, und insofern kam ihr fast soviel Bedeutung zu wie der Gefangennahme Atahualpas selbst. Der Azteken-Herrscher Montezuma beging einen noch größeren Fehler, als er Cortés und seine winzige Armee für eine heimkehrende Gottheit hielt und Cortés Zutritt zu seiner Hauptstadt Tenochtitlan gewährte. Die Folge war, daß Cortés erst Montezuma gefangennahm, dann Tenochtitlan eroberte und als nächstes das gesamte Azteken-Reich unterwarf.
Bei oberflächlicher Betrachtung beruhten die Fehleinschätzungen Atahualpas, Chalcuchimas, Montezumas und zahlloser anderer indianischer Herrscher, die sich von Europäern überlisten ließen, darauf, daß keine lebenden Bewohner der Neuen Welt die Alte Welt besucht hatten und also auch keine genauen Informationen über die Spanier haben konnten. Trotzdem fällt es heute schwer, nicht nachträglich etwas mehr Mißtrauen von Atahualpa zu erwarten, allein aus der Kenntnis menschlichen Verhaltens heraus. Als Pizarro nach Cajamarca kam, besaß er ebenfalls kein genaues Wissen über die Inkas, abgesehen von dem, was er durch Verhöre von Inka-Untertanen, denen er 1527 und 1531 begegnet war, erfahren hatte. Als Spanier war Pizarro jedoch, obwohl selbst Analphabet, Erbe einer Schriftkultur. Aus Büchern waren den Spaniern etliche zeitgenössische Zivilisationen außerhalb Europas bekannt, und sie besaßen auch Kenntnisse über mehrere tausend Jahre europäischer Geschichte. Der Hinterhalt, in den Pizarro Atahualpa lockte, war denn auch eine klare Nachahmung des erfolgreichen Vorgehens von Cortés bei der Eroberung des Azteken-Reichs.
Kurzum, dank der Schrift waren die Spanier Erben eines gewaltigen Wissensfundus über menschliches Verhalten und menschliche Geschichte. Im Gegensatz dazu besaß Atahualpa nicht nur keine Vorstellung von den Spaniern noch irgendwelche persönlichen Erfahrungenmit anderen Eindringlingen aus Übersee, sondern er hatte nicht einmal von ähnlichen Bedrohungen anderer Reiche an irgendeinem Ort und zu irgendeinem Zeitpunkt der Geschichte gehört (oder gelesen). Durch diese Kluft wurde Pizarro ermutigt, die Falle zu stellen, während Atahualpa aus Mangel an Erfahrung blindlings hineinlief.
Die Gefangennahme Atahualpas durch Pizarro veranschaulicht somit die Konstellation unmittelbarer Faktoren, die dazu führten, daß die Neue Welt von Europäern kolonisiert wurde und nicht umgekehrt Europa von Eindringlingen aus Amerika. Zu den Gründen für Pizarros Erfolg zählten die Militärtechnik mit Kanonen, Waffen aus Stahl und Pferden, ansteckende Krankheiten eurasischer Herkunft, Schiffbau und Navigation, die zentralistische politische Ordnung europäischer Staaten und nicht zuletzt die Schrift. Es waren diese unmittelbaren Faktoren, die Europäer in die Lage versetzten, auszuziehen und andere Kontinente zu erobern. Lange bevor irgend jemand an Kanonen und Stahl dachte, schufen jedoch ähnliche Faktoren die Voraussetzungen für Expansionsbewegungen verschiedener nichteuropäischer Völker. Davon wird in späteren Kapiteln die Rede sein.
Nach wie vor unbeantwortet ist die grundlegende Frage, warum all diese unmittelbaren Vorteile in erster Linie den Europäern und nicht den Völkern der Neuen Welt zufielen. Warum waren es nicht die Inkas, die Kanonen und Stahlschwerter erfanden, auf furchterregenden Tieren in die Schlacht ritten, Krankheitserreger in sich trugen, gegen die Europäer keine Abwehrkräfte besaßen, ozeantüchtige Schiffe bauten, fortgeschrittene politische Organisationsformen entwickelten und auf den Erfahrungsschatz einer mehrtausendjährigen Geschichtsschreibung zurückgreifen konnten? Bei dieser Frage geht es nicht mehr um unmittelbare Gründe, wie sie in diesem Kapitel erörtert wurden, sondern um die eigentlichen Ursachen. Ihnen soll in den beiden nächsten Abschnitten nachgegangen werden.