KAPITEL 13

Vom Egalitarismus zur Kleptokratie

Die Evolution von Herrschaft und Kleptokratie

Als ich 1979 mit befreundeten Missionaren über ein abgelegenes Sumpfgebiet in Neuguinea flog, erblick­te ich einige Hütten, die etliche Kilometer voneinander entfernt im Dschungel standen. Der Pilot erläuterte mir, daß irgendwo dort unten vor kurzem eine Gruppe in­donesischer Krokodiljäger auf eine kleine Schar neugui­neischer Nomaden gestoßen war. Beide Seiten waren in Panik geraten, und die Begegnung hatte damit geendet, daß die Indonesier mehrere der Nomaden erschossen.

Meine Bekannten äußerten die Vermutung, daß die Nomaden zu einem noch nicht kontaktierten Stamm mit dem Namen Fayu gehörten, von dem die Außenwelt nur aus schaurigen Erzählungen eines Nachbarstamms wuß­te, bei dem es sich um die einst ebenfalls nomadischen, inzwischen aber missionierten und seßhaft gewordenen Kirikiri handelte. Erstkontakte mit neuguineischen Stäm­men sind nie ungefährlich, aber diesmal stand die Begeg­nung unter einem besonders schlechten Stern. Dennoch flog mein Freund Doug mit einem Hubschrauber in das Gebiet, um friedliche Beziehungen zu den Fayu anzu­knüpfen. Er kehrte zwar lebend, aber sehr mitgenommen zurück und wußte Bemerkenswertes zu berichten.

Wie er erfahren hatte, lebten die Fayu normalerwei­se in kleinen Familienverbänden weit verstreut in den Sümpfen und trafen sich nur ein- oder zweimal jährlich in größerem Kreis zum Brauttausch. Dougs Besuch fiel zufällig mit einem dieser Treffen zusammen, an dem einige Dutzend Fayu teilnahmen. Für uns ist eine Ver­sammlung von ein paar Dutzend Menschen nichts Be­sonderes, aber für die Fayu ist das ein seltenes, furch­terregendes Ereignis. Mörder stehen plötzlich den Ver­wandten ihrer Opfer gegenüber.

So erkannte ein männlicher Fayu den Mann, der sei­nen Vater umgebracht hatte. Der Sohn hob seine Axt und rannte auf den Mörder zu, wurde aber von seinen Freunden zu Boden geworfen und festgehalten; dann kam der Mörder herbeigerannt, um mit einer Axt auf den am Boden liegenden Sohn loszugehen, und wur­de ebenfalls niedergerissen. Beide Männer schrien vor Zorn und wurden so lange festgehalten, bis sie offen­bar erschöpft genug waren, um wieder losgelassen zu werden. Andere Männer tauschten hier und da wüten­de Beschimpfungen aus und hämmerten mit ihren Äx­ten auf den Boden. Während der gesamten mehrtägigen Versammlung blieb die Atmosphäre spannungsgeladen, und Doug betete, daß sein Besuch nicht in einem Aus­bruch offener Gewalt enden möge.

Die Fayu sind eine Gruppe von etwa 400 Jäger- und Sammlernomaden, die vier verschiedenen Clans ange­hören und ein Gebiet von einigen hundert Quadratki­lometern durchstreifen. Nach eigenen Angaben betrug ihre Zahl früher etwa 2000, doch waren sie von Mord und Totschlag untereinander stark dezimiert. Es mangel­te ihnen an politischen und sozialen Mechanismen zur friedlichen Konfliktbeilegung, wie sie für uns selbstver­ständlich sind. Einige Zeit nach dem Besuch von Doug folgte ein beherztes Missionarsehepaar der Einladung einer Gruppe von Fayu und ließ sich bei ihnen nieder. Das war vor über zwölf Jahren, und mittlerweile ist es den beiden durch stetiges Bemühen gelungen, die Fayu zur Abkehr von der Gewalt zu bewegen. In der moder­nen Welt, in die sie nun eintreten, blicken die Fayu ei­ner ungewissen Zukunft entgegen.

Viele andere Gruppen von Neuguineern und Amazo­nas-Indianern, die zuvor noch keinen Kontakt zur Au­ßenwelt hatten, wurden in ähnlicher Weise durch das Wirken von Missionaren in die moderne Gesellschaft eingegliedert. Auf die Missionare folgten Lehrer und Ärzte, Verwaltungsbeamte und Soldaten. So oder ähnlich gingen Staat und Religion in der gesamten uns überlie­ferten Geschichte bei ihrem Vordringen Hand in Hand, ob nun auf friedliche (wie letztendlich bei den Fayu) oder gewaltsame Weise. Bei der gewaltsamen Variante wa­ren es oft Regierungen, die Eroberungen organisierten, während Religionen die Rechtfertigung lieferten. Mögen Nomaden und Stammesge meinschaften auch mitunter Siege über Regierungen und Religionen davontragen, so ging der Trend in den letzten 13 000 Jahren doch ein­deutig dahin, daß erstere die Verlierer und letztere die Gewinner waren.

Am Ende der letzten Eiszeit lebte ein großer Teil der Weltbevölkerung in ähnlichen Gemeinschaften wie die Fayu heute. Gesellschaftliche Ordnungen von wesent­lich höherer Komplexität gab es zu jener Zeit nirgend­wo auf der Welt. Noch im Jahr 1500 n. Chr. gehörten weniger als 20 Prozent der Landfläche unseres Plane­ten zu Staatswesen mit festen Grenzen, Verwaltungsap­paraten und Rechtsordnungen. Heute ist alles Land mit Ausnahme der Antarktis zwischen Staaten aufgeteilt. Die Nachkommen jener Gesellschaften, die als erste zentra­listische Herrschaft und organisierte Religion einführ­ten, behaupten in der heutigen Welt eine dominierende Stellung. Neben Krankheiten, Schrift und Technik war die Kombination von Staat und Religion somit eines von vier Faktorenbündeln, die das Grundmuster des Ge­schichtsverlaufs als unmittelbare Ursachen bestimmten. Wie kam es zur Entstehung von Staat und Religion?

Fayu-Gruppen und moderne Staaten verkörpern ent­gegengesetzte Pole im Spektrum menschlicher Gesell­schaften. Die moderne amerikanische Gesellschaft und die Fayu unterscheiden sich im Vorhandensein bezie­hungsweise Fehlen von Polizisten, Städten, Geld, Unter­schieden zwischen Arm und Reich sowie einer Vielzahl weiterer politischer, wirtschaftlicher und sozialer In­stitutionen. Entstanden all diese Institutionen zusam­men, oder tauchten einige früher auf als andere? Ant­wort auf diese Frage erhalten wir durch einen Vergleich heutiger Gesellschaften auf verschiedenen Organisa­tionsstufen, durch die Analyse archäologischer Indizi­en oder schriftlicher Berichte über Gesellschaften der Vergangenheit und durch Beobachtung des Wandels gesellschaftlicher Institutionen im Zeitablauf.

Von Kulturanthropologen werden menschliche Ge­sellschaften in dem Bemühen, Ordnung in die Vielfalt zu bringen, oft in bis zu sechs verschiedene Kategorien eingeteilt. Von vornherein ist aber jeder Versuch, einen evolutionären Entwicklungsprozeß in Stadien zu unter­teilen – ob in der Musik, im menschlichen Lebenszy­klus oder bei Gesellschaften – aus zwei Gründen zur Unvollkommenheit verurteilt. Erstens sind die Abgren­zungen, die gezogen werden, zwangsläufig unscharf, da sich jedes Stadium aus einem vorhergehenden entwickelt. (Ist beispielsweise ein 19jähriger noch ein Jugendlicher oder schon ein junger Erwachsener?) Zweitens mangelt es Entwicklungsphasen an Homogenität, so daß ins glei­che Stadium eingeordnete Betrachtungs gegenstände in Wirklichkeit sehr heterogen sein können. (Brahms und Liszt würden sich im Grab umdrehen, erführen sie, daß sie heute beide als Komponisten der Romantik bezeich­net werden.) Dennoch können so definierte Stadien ein nützliches Instrument zur Erörterung der Vielfalt von Musikrichtungen oder menschlichen Gesellschaften dar­stellen, sofern man sich die genannten Vorbehalte ver­gegenwärtigt. In diesem Sinne wollen wir im folgenden ein einfaches Klassifikationsschema aus nur vier Kate­gorien – Gruppe, Stamm, Häuptlingsreich, Staat (siehe Tabelle 13.1) – verwenden.

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Ein waagerechter Pfeil signalisiert, daß in diesem Punkt Unter­schiede zwischen Gesellschaften des jeweiligen Typs mit geringe­rer und höherer Komplexität bestehen.

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Tabelle 13.1 Gesellschaftstypen

Gruppen bestehen als kleinste Gesellschaftsform typi­scherweise aus fünf bis 80 Personen, von denen die mesten oder alle durch Geburt oder Heirat eng miteinander verwandt sind. In der Regel handelt es sich bei einem sol­chen Verband um eine oder mehrere verwandte Groß­familien. Heute trifft man autonom lebende Gruppen von Jägern und Sammlern fast nur noch in den entle­gensten Winkeln Neuguineas und des Amazonasgebiets. Vor nicht allzu langer Zeit gab es jedoch zahlreiche an­dere, die erst in jüngster Vergangenheit unter staatliche Herrschaft gerieten, assimiliert oder ausgerottet wurden. Hierzu zählen viele oder die meisten der afrikanischen Pygmäen, die südafrikanischen San (»Buschmänner«), die australischen Aborigines, die Eskimos (Inuit) und die indianischen Bewohner einiger mit Rohstoffen kärg­lich ausgestatteter Regionen Amerikas (z. B. Feuerland im äußersten Süden und die borealen Wälder im ho­hen Norden). Bei all diesen neuzeitlichen Kleinverbän­den handelte beziehungsweise handelt es sich nicht um seßhafte Ackerbauern, sondern um nomadische Jäger und Sammler. Bis vor 40 000 Jahren lebten vermutlich alle Menschen in solchen Gruppen, und für die meisten galt dies sogar noch vor 11 000 Jahren.

In Gruppen fehlen zahlreiche Institutionen, die uns heute als selbstverständlich erscheinen. Sie haben kei­nen dauerhaften Aufenthaltsort. Ihr Land wird von al­len gemeinsam genutzt und ist nicht zwischen einzel­nen Untergruppen oder Individuen aufgeteilt. Es fehlt die ökonomische Differenzierung, außer nach Alter und Geschlecht: Alle gesunden Personen beteiligen sich an der Nahrungssuche. Es gibt keine formellen Institutio­nen wie Polizei und Justiz, die Konflikte innerhalb von Gruppen und zwischen Gruppen regeln könnten. Oft werden solche Kleinverbände als »egalitär« beschrieben: Sie kennen keine soziale Schichtung in höhere und nied­rigere Klassen, kein formelles oder durch Vererbung ge­regeltes Führungswesen und auch keine formellen Infor­mations- und Entscheidungsmonopole. Die Bezeichnung »egalitär« darf jedoch nicht so gedeutet werden, daß etwa alle Angehörigen einer Gruppe das gleiche soziale An­sehen genössen und in gleicher Weise an Entscheidun­gen beteiligt wären. »Egalitär« heißt lediglich, daß die »Führung« einer Gruppe informell ist und durch Qua­lifikationen wie Charakterstärke, physische Kraft, Intel­ligenz und Kampfgeschick erworben wird.

Meine eigenen Erfahrungen mit Gruppen von Jägern und Sammlern stammen aus dem sumpfigen Seentief­land von Neuguinea, der Heimat der Fayu. Dort be­gegnen mir noch heute Familienverbände, die aus ei­ner Handvoll Erwachsener samt ihren Kindern und Al­ten bestehen und die in einfachen Behelfsunterkünften an Wasserläufen hausen und sich per Kanu und zu Fuß fortbewegen. Warum leben die Bewohner des neuguin­eischen Seentieflands weiter in nomadischen Gruppen, während die meisten anderen Völker Neuguineas und fast alle übrigen Völker der Welt heutzutage in seßhaften größeren Gruppen leben? Der Grund liegt darin, daß es der Region an bedeutenden örtlichen Konzentrationen von Ressourcen mangelt, die einer größeren Bevölke­rung als Existenzgrundlage dienen könnten; zudem gab es (bis zur Ankunft von Missionaren, die Kulturpflan­zen mitbrachten) in der Region keine heimischen Pflan­zen für eine ertragreiche Landwirtschaft. Das Grund­nahrungsmittel der Fayu liefert die Sagopalme, aus de­ren reifem Stamm ein Stärkemehl gewonnen wird. Daß die Fayu als Nomaden leben, folgt schon daraus, daß sie weiterziehen müssen, wenn in einem Gebiet alle Sago­palmen gefällt sind. Die Größe ihrer Gruppen wird be­grenzt durch Krankheiten (vor allem Malaria), den im Sumpfland herrschenden Mangel an bestimmten Roh­materialien (selbst Steine für Werkzeuge müssen durch Tauschhandel beschafft werden) und die begrenzte Nah­rungsmenge, die die Sümpfe hergeben. Eine ähnlich be­schränkte Ressourcenausstattung (unter Berücksichti­gung der vorhandenen Techniken) kennzeichnete auch die anderen Regionen der Welt, die bis vor kurzem den Lebensraum von Nomadengruppen bildeten.

Unsere engsten Verwandten im Tierreich, die Gorillas, Schimpansen und Bonobo, leben ebenfalls in Gruppen. Vermutlich galt dies auch für den Menschen, bis verbes­serte Techniken zur Nahrungsgewinnung einigen Jägern und Sammlern in von der Natur besonders reich geseg­neten Gebieten die Möglichkeit gaben, seßhaft zu werden und permanente Behausungen zu errichten. Die Grup­pe ist somit das politische, wirtschaftliche und soziale Vermächtnis unserer Jahrmillionen währenden Evolu­tionsgeschichte. Alles, was nach ihr kam, spielte sich in den letzten Jahrzehntausenden ab.

Das erste Stadium jenseits der Gruppe ist der Stamm, der sich dadurch unterscheidet, daß er größer ist (in der Regel hat er einige hundert statt einige Dutzend Angehörige) und für gewöhnlich feste Siedlungen umfaßt. Allerdings gibt es auch Viehzüchterstämme, die mit ih­ren Herden in bestimmten Jahreszeiten an andere Orte ziehen.

Ein Beispiel für den Stamm als Organisationsform menschlicher Gesellschaften liefern die neuguineischen Hochlandbewohner, bei denen vor der Errichtung der Kolonialherrschaft das Dorf oder eine Gruppe benach­barter Dörfer die wichtigste politische Einheit bildete. Diese politische Definition des Begriffs »Stamm« ist da­mit in vielen Fällen enger gefaßt als das, was Linguisten und Kulturanthropologen im allgemeinen darunter ver­stehen – nämlich einen Kreis von Personen mit gleicher Sprache und Kultur. Im Jahr 1964 begann ich mit Feld­studien bei den Foré, einem Volk im neuguineischen Hochland. Nach linguistischen und kulturellen Maßstä­ben gab es zum damaligen Zeitpunkt 12 000 Foré, die zwei Dialekte sprachen (die für die Sprecher des jeweils anderen Dialekts zu verstehen waren) und in 65 Dör­fern mit jeweils mehreren hundert Bewohnern lebten. Die Dörfer der Foré-Sprecher bildeten jedoch keines­wegs eine politische Einheit. Alle benachbarten Dörfer waren ständig in Kriege untereinander verwickelt und schmiedeten wechselnde Allianzen, wobei es überhaupt keine Rolle spielte, ob es sich um Sprecher der Foré- oder einer anderen Sprache handelte.

Stämme, die erst vor kurzem ihre Unabhängigkeit ver­loren haben und seither der Hoheit von Nationalstaaten unterstehen, bilden noch heute einen Großteil der Be­völkerung Neuguineas, Melanesiens und des Amazonas­gebiets. Archäologische Funde früher Siedlungen, die schon beachtlich groß waren, aber noch nicht die Merk­male von Häuptlingsreichen aufwiesen, die ich weiter unten erläutern werde, lassen auf die Existenz stamme­sähnlicher Organisationsformen schließen. Nach diesen Funden zu urteilen, begann die Entstehung von Stäm­men vor etwa 13 000 Jahren im Bereich des Fruchtbaren Halbmonds und später auch in einigen anderen Regio­nen. Eine Voraussetzung für das Leben in festen Sied­lungen besteht darin, daß entweder Landwirtschaft be­trieben wird oder die jeweilige Region von der Natur besonders reichhaltig ausgestattet ist, so daß ihre Ga­ben in geringem Umkreis gejagt und gesammelt werden können. Aus diesem Grund entstanden in jener Zeit, als Klimaveränderungen in Kombination mit verbesserten Techniken das Ernten großer Mengen Wildgetreide er­möglichten, an vielen Orten Vorderasiens Siedlungen und somit, nach der hier verwendeten Definition, auch Stämme.

Stämme unterscheiden sich von Gruppen nicht nur durch die feste Siedlungsweise und die größere Zahl von Menschen, die ihnen angehören, sondern auch darin, daß sie sich aus mehr als einer anerkannten Sippenge­meinschaft(Clan) zusammensetzen, die untereinander Heiratspartner austauschen. Das Land ist im Besitz ein­zelner Clans, nicht des gesamten Stammes. Zahlenmä­ßig ist ein Stamm dabei immer noch so überschaubar, daß jeder jeden mit Namen kennt und ihn verwandt­schaftlich einzuordnen weiß.

Auch für andere Gruppentypen ist eine Größenordnung von »ein paar Hundert« offenbar die Obergren­ze, bis zu der noch jeder jeden kennen kann. In unse­rer heutigen Gesellschaft kennt beispielsweise ein Schul­leiter womöglich noch die meisten Schüler mit Namen, wenn nicht mehr als ein paar hundert Kinder auf seine Schule gehen, nicht aber, wenn es einige tausend sind. Ein Grund für den Übergang vom Stamm zum Häupt­lingsreich in Gesellschaften mit mehr als einigen hundert Mitgliedern liegt in dem schwierigen Problem der Rege­lung von Konflikten zwischen Fremden, das sich bei zu­nehmender Größe immer dringlicher stellt. In Stämmen werden potentielle Probleme dieser Art dadurch unter­drückt, daß fast jeder mit jedem verwandt ist – blutsver­wandt, durch Heirat oder beides. Die Verwandtschaft s­beziehungen zwischen allen Stammesangehörigen ma­chen Polizei, Justiz und andere Institutionen, die in größeren Gesellschaften zur Konfliktregelung dienen, überflüssig, da zwei Streithähne stets zahlreiche gemein­same Verwandte haben, die sie von einer Gewaltanwen­dung abhalten, indem sie Druck auf sie ausüben. In der traditionellen neuguineischen Gesellschaft kommt es vor, daß einander fremde Einheimische, die außerhalb ihrer jeweiligen Dörfer durch Zufall aufeinandertreffen, zu­nächst lang und breit diskutieren, mit wem jeder von ihnen verwandt ist, um so eine Art von Beziehung auf­zubauen und einen Grund zu haben, sich nicht gegen­seitig nach dem Leben zu trachten.

Bei allen Unterschieden zwischen Gruppen und Stäm­men bleiben jedoch zahlreiche Gemeinsamkeiten. Auch Stämmen ist eine informelle, »egalitäre« Herrschafts­form eigen. Grundsätzlich kann jeder Stammesangehöri­ge an Informationen und Entscheidungen teilhaben. Ich hatte im neuguineischen Hochland Gelegenheit zur Be­obachtung von Dorfversammlungen, bei denen alle Er­wachsenen anwesend waren und, auf dem Boden sitzend, den Reden verschiedener Dorfbewohner lauschten, wo­bei ich nie den Eindruck hatte, daß irgend jemand den »Vorsitz« führte. In vielen Dörfern im Hochland gibt es so etwas wie einen »Big­man«, einen Anführer, der unter den Bewohnern das größte Ansehen genießt. Diese Stel­lung ist aber kein offizielles Amt und birgt nur begrenz­te Machtbefugnisse. Der Anführer besitzt keine unab­hängige Entscheidungsgewalt, ist kein Träger diploma­tischer Geheimnisse und kann lediglich versuchen, den gemeinsamen Entscheidungsprozeß nach seinen Vorstel­lungen zu beeinflussen. Sein Status ist auch nicht ver­erbbar, sondern beruht ausschließlich auf persönlichen Eigenschaften.

Gemeinsam ist Stämmen und Gruppen auch ein »ega­litäres« Gesellschaftssystem ohne soziale Klassen oder auf Abstammung basierenden Privilegien. Abgesehen von der Nichterblichkeit des sozialen Rangs kann auch kein Mit­glied eines traditionellen Stammes oder einer Gruppe durch eigene Anstrengungen übermäßig reich werden, da jedes Individuum bei vielen anderen in der Schuld steht oder Verpflichtungen ihnen gegenüber hat. Ein Fremder kann deshalb vom bloßen Ansehen nicht wissen, welcher Dorfbewohner der Anführer ist: Seine Hütte sieht genau­so aus wie die der anderen, er trägt die gleiche Kleidung und den gleichen Schmuck oder ist sogar nackt wie sie.

Wie in Jäger-Sammler-Gruppen gibt es auch in Stäm­men weder Bürokratie noch Polizei oder Steuern. Die Stammesökonomie basiert auf dem Güteraustausch zwi­schen Individuen oder Familien und nicht auf der Um­verteilung von Tributen, die an eine Zentralgewalt ent­richtet werden. Die berufliche Spezialisierung ist noch wenig ausgeprägt: Niemand widmet sich ausschließlich einem Handwerk, und jeder gesunde Erwachsene (auch der Anführer) beteiligt sich an der Nahrungsbeschaf­fung durch Landwirtschaft, Jagen und Sammeln. Als ich einmal auf einer der Salomoninseln bei einer Wande­rung an einer Plantage vorbeikam, erblickte ich in eini­ger Entfernung einen Mann, der gerade den Boden bear­beitete und mir zuwinkte. Zu meinem Erstaunen stellte ich fest, daß es sich um meinen Freund Faleteau han­delte, den berühmtesten Holzschnitzer der Salomonin­seln. Er war ein Künstler von großer Originalität, aber das befreite ihn nicht von der Notwendigkeit, seine ei­genen Süßkartoffeln anzubauen. Da Stämme also kei­ne Spezialisten für verschiedene Aufgaben kennen, ist ihnen auch die Sklaverei fremd, da es sozusagen kein »Berufsbild« für niedere Tätigkeiten gibt, die Sklaven verrichten könnten.

Wie die Komponisten der Klassik von C. Ph. E. Bach bis Schubert reichen und damit das gesamte Spektrum von der Barockmusik bis zur Romantik umfassen, ge­hen auch Stämme auf der einen Seite in Gruppen und auf der anderen in Häuptlingsreiche über. So weist die Funktion des Anführers beispielsweise bei der Auftei­lung des Fleischs von Schweinen, die für wichtige Fe­ste geschlachtet werden, schon deutlich in die Richtung des Häuptlings als Einzieher und Umverteiler von Nah­rung und Gütern. Ein weiteres Merkmal, das norma­lerweise Stämme von Häuptlingsreichen unterscheidet, ist das Vorhandensein beziehungsweise Fehlen von Ge­meinschaftsbauten. Indessen findet man in Neuguinea in größeren Dörfern häufig ein Kulthaus (haus tambu­ran, wie man am Sepik-Fluß dazu sagt), das durchaus als Vorbote religiöser und weltlicher Bauten in Häupt­lingsreichen angesehen werden kann.

Während eine kleine Zahl von Jäger-Sammler-Grup­pen und -Stämmen in abgelegenen Regionen auf wirt­schaftlich unbrauchbarem Land bis in die Gegenwart außerhalb staatlichen Zugriffs überlebt hat, verschwan­den die letzten wirklich unabhängigen Häuptlingsrei­che schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts, da sie meist in Gebieten angesiedelt waren, die auch von Staaten be­gehrt wurden. Im Jahr 1492 waren dagegen Häuptlings­reiche im Osten der heutigen USA, in fruchtbaren, noch nicht in einheimische Staaten eingegliederten Regionen Süd- und Mittelamerikas und Afrikas südlich der Saha­ra sowie überall in Polynesien weit verbreitet. Archäo­logische Funde, auf die ich noch näher eingehen werde, legen den Schluß nahe, daß die ersten Häuptlingsrei­che um 5500 v. Chr. im Bereich des Fruchtbaren Halb­monds und um 1000 v. Chr. in Mesoamerika und den Anden entstanden. Betrachten wir zunächst einmal die typischen Merkmale von Häuptlingsreichen, die sich deutlich von modernen europäischen und amerikani­schen Staaten, aber auch von Gruppen und einfachen Stammesgesellschaften unterscheiden. Von der Bevöl­kerungszahl her waren Häuptlingsreiche mit einigen tausend bis zu mehreren zehntausend Bewohnern er­heblich größer als Stämme. Darin lag ein ernstes Kon­fliktpotential, da der einzelne in einem Häuptlingsreich mit den meisten anderen weder verwandt oder ver­schwägert war noch ihre Namen kannte. Mit dem Auf­kommen von Häuptlingsreichen vor rund 7500 Jahren wurden Menschen erstmals in der Geschichte vor die Notwendigkeit gestellt, regelmäßig mit Fremden zu ver­kehren, ohne ihnen gleich nach dem Leben zu trachten.

Die Lösung des Problems lag zum Teil in der Über­tragung des Gewaltmonopols auf eine zentrale Instanz in der Person des Häuptlings. Im Unterschied zum An­führer eines Stammes war ein Häuptling Inhaber eines offiziellen Amtes, das ihm durch Vererbung zustand. Im Gegensatz zur dezentralistischen Anarchie einer Dorf­versammlung verkörperte er eine dauerhafte zentralisti­sche Instanz, traf alle größeren Entscheidungen und be­saß ein Monopol für wichtige Informationen (zum Bei­spiel, welche Drohungen ein Nachbarhäuptling gerade ausgestoßen hatte oder wie die nächste Ernte laut Verhei­ßung der Götter ausfallen würde). Anders als Anführer waren Häuptlinge schon von weitem an der äußeren Er­scheinung zu erkennen – so auf der Pazifikinsel Rennell durch einen großen, über der Schulter getragenen Fä­cher. Ein gemeiner Mann mußte, wenn er einem Häupt­ling gegenübertrat, diesem auf rituelle Weise Respekt bezeugen, etwa, indem er sich vor ihm auf den Boden warf (Hawaii). Die Anweisungen des Häuptlings wurden meist durch eine oder zwei bürokratische Ebenen an das Volk weitergegeben, wobei die Bürokraten oft Häuptlinge niedrigeren Ranges waren. Im Unterschied zu modernen Verwaltungsbeamten hatten Bürokraten in Häuptlings­reichen jedoch keine hochspezialisierten Funktionen. So trieben in der polynesischen Gesellschaft Hawaiis die gleichen Bürokraten (»Konohiki« genannt) Tribut ein, führten die Aufsicht über die Bewässerung und orga­nisierten Frondienste für den Häuptling; in staatlichen Verwaltungen ist dagegen jeder Bereich mit eigenen Spe­zialisten gesegnet (etwa Steuerbeamte, Bezirksbeauftrag­te für Wasserwirtschaft, Einberufungskommission, um beim Beispiel von Hawaii zu bleiben).

Die größere, auf ein kleines Gebiet konzentrierte Be­völkerung eines Häuptlingsreichs erforderte große Nah­rungsmengen, die in der Regel durch Landwirtschaft produziert wurden, in einigen Fällen jedoch auch durch Jagen und Sammeln, wenn es die Natur besonders gut mit einer Region meinte. So lebten die Indianer an der nördlichen Pazifikküste (Kwakiutl, Nootka, Tlingit und andere Stämme) in von Häuptlingen regierten Dörfern, in denen weder Ackerbau getrieben noch Haustiere ge­halten wurden, da Flüsse und Meer reiche Lachs- und Heilbuttfänge bescherten. Die von »gemeinen« Stam­mesangehörigen erwirtschafteten Nahrungsüberschüs­se gingen an die Häuptlinge und ihre Familien, an Bü­rokraten und spezialisierte Handwerker, die beispiels­weise Kanus bauten, Spucknäpfe herstellten oder sich als Vogelfänger oder Tätowierer betätigten.

Luxusgüter, zu denen derlei Werke, aber auch im Fernhandel eingetauschte seltene Dinge gehörten, wa­ren Häuptlingen vorbehalten. In Hawaii besaßen die Herrscher Federumhänge, die manchmal aus Zehntau­senden einzelner Federn bestanden, so daß ihre Anfer­tigung viele Generationen dauerte (die Umhangmacher stammten natürlich aus den Reihen der Normalsterb­lichen). Dank der Konzentration von Luxusgütern im Besitz von Häuptlingen ist es Archäologen oft möglich, Häuptlingsreiche daran zu erkennen, daß einige Grä­ber (die der Häuptlinge) viel kostbarere Gegenstände enthalten als andere (die des gemeinen Volks), worin ein deutlicher Unterschied zum Grabstätten-Egalitaris­mus der früheren Menschheitsgeschichte liegt. Überdies lassen sich einige frühgeschichtliche Häuptlingsreiche durch die Überreste größerer öffentlicher Bauten (bei­spielsweise von Tempeln) sowie durch eine Hierarchie der Siedlungen von Stammessiedlungen unterscheiden, wobei ein Ort (der Wohnsitz des obersten Häuptlings) größer ist als alle anderen und auch mehr administra­tive Gebäude und Artefakte aufweist.

Wie Stämme bestanden auch Häuptlingsreiche aus ei­ner Vielzahl von Abstammungslinien, deren Angehöri­ge am gleichen Ort zusammenlebten. Während die Ab­stammungslinien bei Stämmen gleichberechtigte Sippen (Clans) bildeten, besaßen in Häuptlingsreichen alle An­gehörigen der Abstammungslinie des Herrschers Privi­legien, die weitervererbt wurden. Praktisch war die Ge­sellschaft in erbliche Klassen von Adligen und Nicht­adligen gespalten, wobei etwa der hawaiianische Adel wiederum in acht hierarchische Abstammungslinien un­tergliedert war, deren Angehörige vornehmlich inner­halb der eigenen Linie heirateten. Da Häuptlinge Dienst­boten für niedere Arbeiten und Handwerker benötigten, unterschieden sich Häuptlingsreiche von Stämmen auch darin, daß es zahlreiche Tätigkeiten gab, die von Skla­ven verrichtet werden konnten. Diese wurden typischer­weise auf eigens zu diesem Zweck veranstalteten Skla­venjagden gefangen.

In wirtschaftlicher Hinsicht war das auffälligste Merk­mal von Häuptlingsreichen die Abkehr von ausschließlich reziproken Aus tauschbeziehungen, wie sie für Gruppen und Stämme typisch sind. Dabei erhält A ein Geschenk von B, wofür B von A ein Geschenk von vergleichbarem Wert irgendwann in der Zukunft erwartet. Bürger mo­derner Staaten praktizieren ein derartiges Verhalten zwar noch an Geburtstagen und bei manch anderer Gelegen­heit, doch das Gros des Güteraustauschs vollzieht sich heute durch Kauf und Verkauf gegen klingende Mün­ze nach dem Gesetz von Angebot und Nachfrage. Die Häuptlingsreiche behielten den reziproken Austausch bei und führten noch kein Geld als Zahlungsmittel ein, schufen aber etwas Neues: die Umverteilungswirtschaft. In ihrer einfachsten Form bestand sie darin, daß ein Häuptling zur Erntezeit von jedem Bauern seines Rei­ches beispielsweise einen Teil der Weizenernte erhielt und dann für alle ein Fest veranstaltete, auf dem Brot gereicht wurde; oder er bewahrte den Weizen auf und verteilte ihn in den Monaten vor der nächsten Ernte. Er­hielt die einfache Bevölkerung einen großen Teil der ab­gelieferten Güter nicht wieder zurück, sondern wurden diese von Häuptlingssippen und Handwerkern einbe­halten und verbraucht, so wurde aus Umverteilung Tri­but (ein Vorläufer unserer Steuern). Neben mate riellen Gütern verlangten die Häuptlinge von ihren Unterta­nen auch Fronarbeit bei öffentlichen Bauvorhaben, die entweder dem Volk selbst zugute kamen (beispielswei­se Bewässerungssysteme für die Landwirtschaft ) oder in erster Linie den Häuptlingen nützten (aufwendig ge­staltete Grabmäler und dergleichen).

Wir haben bisher über Häuptlingsreiche gesprochen, als ob sie alle gleich wären. In Wirklichkeit gab es er­hebliche Unterschiede. Größere Reiche waren in der Re­gel durch einen mächtigeren Herrscher, einen größeren Adelsstand, krassere Unterschiede zwischen Häuptling und gemeinem Volk, höhere Tributleistungen an den Häuptling, mehr bürokratische Ebenen und prächtige­re öffentliche Bauwerke gekenn zeichnet. Dazu ein Bei­spiel: Die Gesellschaften auf den kleineren polynesischen Inseln ähnelten Stammesgesellschaften mit einem »Big­man« an der Spitze im Grunde sehr stark, nur daß ihre Häuptlinge erblichen Status hatten. So sah die Häupt­lingshütte aus wie jede andere, es gab weder Bürokratie noch öffentliche Bauwerke, der Häuptling gab die mei­sten Güter, die er von seinen Untertanen erhielt, wie­der an diese zurück, und das Land war im Besitz der Gemeinschaft. Auf den größeren polynesischen Inseln wie Hawaii, Tahiti und Tonga waren die Häuptlinge da­gegen schon auf den ersten Blick an ihrem prächtigen Schmuck zu erkennen, öffentliche Bauten wurden von Heerscharen von Arbeitern errichtet, der Tribut wurde zum größten Teil von den Häuptlingen einbehalten, und alles Land stand unter ihrer Kontrolle. Ein weiteres Dif­ferenzierungsmerkmal zwischen Gesellschaften mit auf Abstammung basierenden Privilegien ist die Größe der politischen Einheit, wobei das Spektrum von einem ein­zigen autonomen Dorf bis hin zu einer verstreuten An­sammlung von Dörfern reichte, von denen das größte einem obersten Häuptling als Sitz diente, der von dort aus die anderen Dörfer beherrschte, denen wiederum rangniedrigere Häuptlinge vorstanden.

Bis hierher sollte deutlich geworden sein, daß in Häupt­lingsreichen erstmals ein Dilemma in Erscheinung trat, das für alle nichtegalitären Gesellschaften mit zentra­listischer Herrschaft von grundlegender Bedeutung ist. Im besten Falle tun solche Gesellschaften Gutes, indem sie aufwendige Dienstleistungen erbringen, die sich der einzelne nicht leisten kann. Im schlimmsten Fall han­delt es sich um schamlose Kleptokratien, die das Volk ausplündern und den von ihm erarbeiteten Reichtum nach oben umverteilen. Solch nobles beziehungsweise selbstsüchtiges Verhalten bildet zwei Seiten einer Me­daille, wobei der Schwerpunkt in der Realität, wie jeder weiß, sehr unterschiedlich gesetzt werden kann. Zwi­schen Kleptokrat und weisem Staatsmann, zwischen Räuberbaron und dem Hüter der Armen besteht nur ein gradueller Unterschied, der davon abhängt, wie hoch der Prozentsatz des Tributs ist, der in den Taschen der Elite verschwindet, und wie sehr dem einfachen Volk mit dem, wozu der umverteilte Tributanteil verwendet wird, gedient ist. Wir halten beispielsweise den ehema­ligen Präsidenten von Zaire, Mobutu, für einen Klep­tokraten, weil er zuviel Tribut (man spricht von Mil­liardenbeträgen) in die eigenen Taschen scheffelte und zu wenig an sein Volk zurückgab (Zaire besitzt nicht einmal ein funktionierendes Telefonnetz). George Was­hington erscheint uns dagegen als Staatsmann, weil er, statt sich als Präsident selbst zu bereichern, mit Steuer­geldern Programme finanzierte, die als löblich galten. Es darf allerdings erwähnt werden, daß George Was­hington in reiche Verhältnisse hineingeboren wurde und daß Wohlstand in den USA sehr viel ungleicher verteilt ist als in den Dörfern Neuguineas.

Bei jeder auf sozialer Ungleichheit gegründeten Ge­sellschaft, ob Häuptlingsreich oder moderner Staat, stellt sich die Frage, warum das Volk geduldig zuschaut, wie sich Kleptokraten die Früchte seines Schweißes aneig­nen. Diese Frage, auf die Philosophen von Plato bis Marx nach Antworten suchten, wird von den Bürgern moder­ner Staaten bei jeder Wahl neu aufgeworfen. Kleptokra­tien mit wenig Halt in der Bevölkerung laufen Gefahr, gestürzt zu werden, entweder durch geknechtete Unter­tanen oder durch andere Möchtegernkleptokraten, die das Volk auf ihre Seite zu ziehen suchen, indem sie ein besseres Verhältnis von erbrachten Leistungen zu ge­stohlenen Früchten versprechen. So kam es in der Ge­schichte Hawaiis immer wieder zu Revolten gegen re­pressive Herrscher; meist wurden sie von deren jüngeren Brüdern angezettelt, die dem Volk etwas weniger Un­terdrückung versprachen. Im Zusammenhang mit dem alten Hawaii mag man darüber schmunzeln, doch soll­ten wir nicht vergessen, daß derartige Streitereien noch heute großes Elend über die Völker bringen.

Was sollte eine Elite am besten tun, um die Bevölke­rung hinter sich zu bringen und zugleich ein komfor­tableres Leben führen zu können als der kleine Mann? Kleptokraten aller Epochen haben auf diese Frage Ant­worten gefunden, die meist Kombinationen von vier ver­schiedenen Vorgehensweisen darstellten:

  1. Entwaffnung der Massen, Bewaffnung der Elite. In der heutigen Zeit der industriell hergestellten High-Tech-Waffen, die leicht von Eliten monopolisierbar sind, ist dies viel einfacher als in früheren Tagen, als Speere und Keulen noch von jedermann in Heimarbeit angefertigt werden konnten.
  2. Zufriedenstellung der Massen durch Rückgabe ei­nes hohen Anteils des Tributs, stets darauf achtend, daß die gewählten Ausgabenfelder beim Volk auch gut an­kommen. Dieses Prinzip besaß für hawaiianische Herr­scher ebenso Gültigkeit wie für heutige Politiker, bei­spielsweise in den USA.
  3. Nutzung des Gewaltmonopols zur Aufrechterhal­tung der öffentlichen Ordnung und zur Eindämmung von Gewalt. Hierbei handelt es sich um einen potentiell großen Vorteil zentralistischer gegenüber nichtzentra­listischen Gemeinwesen, der gar nicht genug betont werden kann. Von Anthropologen wurden Stammesge­sellschaften und Jäger-Sammler-Gruppen früher als sanftmütig und friedfertig idealisiert, da Wissenschaftler, die eine aus 25 Personen bestehende Gruppe besucht hatten, während eines dreijährigen Forschungsaufent­halts keinen einzigen Mord beobachtet hatten. Natürlich nicht! Man kann leicht nachrechnen, daß eine aus einem Dutzend Erwachsener und einem Dutzend Kindern be­stehende Gruppe, die schon die ganz normalen, nicht mit Mord zusammenhängenden Todesfälle verkraften muß, gar nicht existieren könnte, wenn obendrein noch alle drei Jahre einer der zwölf Erwachsenen einem an­deren aus der Gruppe den Garaus machen würde. Viel ausführlichere und über lange Zeiträume gesammelte In­formationen über Gruppen und Stammesgesellschaften haben gezeigt, daß Mord und Totschlag zu den häufig­sten Todesursachen zählen. Ich war einmal zu Besuch bei den Iyau in Neuguinea, als gerade eine Anthropologin Iyau-Frauen über ihre Lebensgeschichten befragte. Nach dem Namen des Ehemannes gefragt, gab eine nach der anderen die Namen mehrerer Männer an, die nachein­ander eines unnatürlichen Todes gestorben waren. Eine typische Antwort lautete so: »Mein erster Mann wurde bei einem Überfall der Elopi getötet. Mein zweiter Mann wurde von einem Mann umgebracht, der mich zur Frau wollte und mein dritter Mann wurde. Den hat dann der Bruder meines zweiten Ehemannes aus Rache getötet.« Derartige Biographien sind für angeblich so sanftmüti­ge Stammesangehörige keine Seltenheit und trugen mit dazu bei, daß eine Zentralgewalt mit zunehmender Grö­ße von Stammesgesellschaften akzeptiert wurde.

4. Die vierte und letzte Möglichkeit für Kleptokra­ten, sich die Unterstützung des Volkes zu sichern, ist die Ersinnung einer Ideologie oder Religion, die ihre Herrschaft rechtfertigt. In Jäger-Sammler-Gruppen und Stammesgesellschaften glaubte man bereits an überna­türliche Dinge, gar nicht viel anders als in den großen Religionsgemeinschaften unserer Zeit. Doch solche Glau­bensvorstellungen dienten nicht zur Rechtfertigung einer Zentralgewalt, zur Umverteilung von Wohlstand oder zur Wahrung des Friedens zwischen nicht miteinander verwandten Individuen. Als diese Funktionen hinzuka­men und institutionalisiert wurden, verwandelten sie sich in das, was wir Religion nennen. Die hawaiianischen Herrscher, die sich als Götter oder Nachfahren von Göt­tern ausgaben oder zumindest von sich behaupteten, ei­nen direkten Draht zu den Göttern zu haben, waren ty­pische Beispiele. So rechtfertigten viele Häuptlinge ihre Stellung unter anderem damit, daß sie sich für das Volk bei den Göttern verwendeten und die rituellen Formeln rezitierten, die aufgesagt werden mußten, um für Regen, eine gute Ernte und reiche Fischfänge zu sorgen.

Häuptlingsreiche verfügen als Stütze der Häuptlings­autorität typischerweise über eine Ideologie, den Vor­läufer einer institutionalisierten Religion. Entweder ver­eint der Häuptling dabei in seiner Person die Ämter des politischen Führers und Priesters, oder er fungiert als Schirmherr einer eigenen Gruppe von Kleptokraten (der Priester), deren Funktion darin besteht, die Stel­lung des Häuptlings ideologisch zu rechtfertigen. Hier­in liegt auch der Grund, warum in Häuptlingsreichen ein so großer Teil des erhobenen Tributs in Tempel und andere öffentliche Bauten investiert wird, die als Stätten zur Ausübung der offiziellen Religion und als sichtbare Zeichen der Häuptlingsmacht dienen.

Neben der Rechtfertigung der materiellen Privilegie­rung der Kleptokraten hat die institutionalisierte Religi­on für zentralistische Gesellschaften zwei weitere wich­tige Vorteile. Erstens schafft eine Ideologie oder Religion ein nicht auf Verwandtschaft basierendes Band der Ge­meinsamkeit und trägt damit zur Lösung des Problems bei, nicht miteinander verwandten Individuen ein Zu­sammenleben ohne Mord und Totschlag zu ermöglichen. Zweitens gibt sie Menschen ein Motiv, das eigene Leben für andere zu opfern. Auf diese Weise gewinnt eine Ge­sellschaft auf Kosten einer kleinen Zahl von Menschen, die als Soldaten auf dem Schlachtfeld sterben, insgesamt an Schlagkraft bei der Eroberung anderer Gesellschaften beziehungsweise bei der Abwehr von Feinden.

Am vertrautesten sind uns heute die politischen, wirt­schaftlichen und sozialen Institutionen von Staaten, die mittlerweile die gesamte Landfläche unseres Planeten mit Ausnahme der Antarktis unter sich aufgeteilt ha­ben. In vielen frühen und allen modernen Staaten gab es schriftkundige Eliten, und in vielen heutigen Staaten kann auch die Bevölkerung lesen und schreiben. Unter­gegangene Staaten hinterließen meist ein sichtbares ar­chäologisches Erbe, wie Tempelruinen von einheitlicher Architektur, mindestens vier Siedlungstypen von verschie­dener Größe sowie einheitliche Keramikstile, die in Ge­bieten von Zehntausenden von Quadratkilometern Grö­ße anzutreffen waren. Wir wissen deshalb, daß Staaten um 3700 v. Chr. in Mesopotamien und um 300 v. Chr. in Mesoamerika, vor über 2000 Jahren in den Anden, China und Südwestasien und vor über 1000 Jahren in Westafri­ka entstanden. In der neueren Geschichte war wiederholt zu beobachten, wie Staaten aus Häuptlingsreichen hervor­gingen. Wir besitzen somit weit mehr Informationen über Staaten und ihre Entstehung als über Häuptlingsreiche, Stämme und Gruppen aus vergangenen Zeiten.

Die ersten Staaten ähnelten in vieler Hinsicht gro­ßen (d. h. aus einer Vielzahl von Dörfern bestehenden) Häuptlingsreichen. In puncto Größe setzten sie den Trend von der Gruppe über die Stammesgesellschaft zum Häuptlingsreich fort. Während die Bevölkerung von Häuptlingsreichen in der Regel ein paar Tausend bis einige Zehntausend betrug, haben die meisten heutigen Staaten über eine Million Einwohner, China sogar über eine Milliarde. Aus dem Sitz des obersten Häuptlings wurde in vielen Fällen die Hauptstadt eines Staates. An­dere Bevölkerungszentren entwickelten sich ebenfalls zu echten Städten, wie sie in Häuptlingsreichen noch nicht anzutreffen waren. Städte unterscheiden sich von Dör­fern durch monumentale öffentliche Bauten, Paläste von Herrschern, die Anhäufung von Kapital durch Erhebung von Tribut/Steuern sowie das geballte Zusammenleben von Menschen, die anderen Tätigkeiten als der Nahrungs­produktion nachgehen.

Die frühen Staaten hatten einen Führer mit erblicher Stellung, dessen Titel dem eines Königs entsprach. Sein Amt war vergleichbar mit einem obersten Häuptling, nur daß er ein noch umfangreicheres Informations-, Ent­scheidungs- und Machtmonopol besaß.

Selbst in modernen Demokratien ist der Zugang zu kritischen Informationen auf einen kleinen Kreis von Personen beschränkt, die den Informationsfluß an die übrigen Mitglieder der Regierung kontrollieren und da­durch Einfluß auf Entscheidungen nehmen. Ein gutes Beispiel ist die Raketenkrise um Kuba von 1963. Damals waren Informationen und Diskussionen, von denen ab­hing, ob eine halbe Milliarde Menschen in den atoma­ren Abgrund gestürzt würden, anfangs auf einen zehn­köpfigen, von Präsident Kennedy ernannten Ausschuß des nationalen Sicherheitsrats beschränkt; später über­trug Kennedy die endgültige Entscheidungsgewalt auf eine Gruppe von vier Personen, der neben ihm selbst drei seiner Minister angehörten.

Die Einflußnahme von zentraler Stelle und die wirt­schaftliche Umverteilung in Form von Tributzahlungen (umgetauft in Steuern) erreichen in Staaten ein sehr viel größeres Ausmaß als in Häuptlingsreichen. Die ökono­mische Spezialisierung ist stärker ausgeprägt, was dazu geführt hat, daß heute nicht einmal mehr die Bauern aut­ark sind. Ein Zusammenbruch staatlicher Strukturen hat deshalb katastrophale Folgen, wie Britannien nach dem Abzug der römischen Truppen und Verwaltungsbeamten zwischen 407 und 411 n. Chr. erleben mußte. Selbst die ältesten Staaten in Mesopotamien übten eine zentralisti­sche Kontrolle über die Wirtschaft aus. Nahrung wurde von vier Gruppen von Spezialisten produziert (Getrei­debauern, Viehzüchtern, Fischern und Obst- und Ge­müsebauern), von denen jede dem Staat ihre Erträge ablieferte und im Gegenzug die benötigten Güter, Ge­räte und Lebensmittel mit Ausnahme der von ihr selbst produzierten erhielt. So versorgte der Staat die Getreide­bauern mit Saatgut und Zugtieren, trieb von den Vieh­züchtern Wolle ein, tauschte diese im Fernhandel ge­gen Metall und andere wichtige Rohstoffe und entlohnte die Arbeitskräfte, die die unentbehrlichen Bewässerungs­anlagen instand hielten, mit Nahrungsrationen.

Viele, vielleicht sogar die meisten der frühen Staa­ten setzten in viel größerem Umfang auf Sklavenarbeit als Häuptlingsreiche. Das lag nicht etwa daran, daß in Häuptlingsreichen eine menschenfreundlichere Gesin­nung gegenüber besiegten Feinden herrschte, sondern vielmehr daran, daß die stärkere ökonomische Differen­zierung in Staaten, mit Massenproduktion und öffent­licher Bautätigkeit, mehr Verwendungs möglichkeiten für Sklaven schuf. Hinzu kommt, daß aufgrund einer expansiveren Kriegführung mehr Gefangene gemacht werden konnten.

Aus ein oder zwei Verwaltungsebenen in Häuptlings­reichen wurde in Staaten ein Vielfaches, wie jeder weiß, der einmal das Organigramm einer staatlichen Verwal­tung gesehen hat. Zur vertikalen Differenzierung gesell­te sich die horizontale. Im Gegensatz zu den hawaiia­nischen Konohiki, die in ihrem Verwaltungsbezirk für sämtliche bürokratischen Aufgaben zuständig waren, be­stehen staatliche Verwaltungen aus separaten Abteilun­gen für Wasserwirtschaft, Steuern, Militärdienst usw., von denen jede wiederum ihre eigene Hierarchie hat. Selbst kleine Staaten besitzen eine verzweigtere Büro­kratie als große Häuptlingsreiche. So unterschied man in der Zentralverwaltung des westafrikanischen Staa­tes Maradi über 130 Ämter, von denen jedes eine eige­ne Bezeichnung trug.

Die interne Konfliktregelung wurde in Staaten zuneh­mend durch Gesetze, Justiz und Polizei formalisiert. Ge­setze waren oft schriftlich niedergelegt, da viele Staaten (mit wichtigen Ausnahmen wie dem Inka-Reich) eine schrift kundige Herrschaftselite besaßen – die Erfindung der Schrift fiel sowohl in Mesopotamien als auch in Me­soamerika etwa in die Zeit der ersten Staatsgründungen. Demgegenüber brachte kein einziges frühes Häuptlings­reich, das nicht an der Schwelle zum Staat stand, eine eigene Schrift hervor.

Die frühen Staaten besaßen staatliche Religionen und Tempel von einheitlicher Form. Ihre Könige galten oft als göttlich und erhielten in vielerlei Hinsicht eine Son­derbehandlung. So wurden die Azteken- und Inka-Herr­scher auf Sänften getragen; bei den Inkas eilten Diener der Sänfte des Herrschers vorweg, um den Boden von jeder Unreinheit zu säubern. Die japanische Sprache ent­hält spezielle Pronomen, die ausschließlich zur Anrede des Kaisers dienen. Wenn die Könige nicht selbst Ober­haupt der Staatsreligion waren, setzten sie Hohepriester in dieses Amt ein. In Mesopotamien war der Tempel nicht nur religiöser Mittelpunkt, sondern auch Zentrum der wirtschaftlichen Umverteilung, der Schrift und der Handwerkstechnik.

Bei all diesen Merkmalen von Staaten handelt es sich lediglich um extreme Ausprägungen von Entwicklun­gen, die schon den Übergang von Stammesgesellschaften zu Häuptlingsreichen eingeleitet hatten. Darüber hinaus schlugen Staaten jedoch verschiedene neue Richtungen ein. Hierzu zählt vor allem die Konstitution von Staaten nach politischen und territorialen Kriterien statt nach verwandtschaftlicher Zusammengehörigkeit wie bei Jä­ger-Sammler-Gruppen, Stammesgesellschaften und kleineren Häuptlingsreichen. Hinzu kommt, daß sich Gruppen und Stammesgesellschaften stets und Häupt­lingsreiche in der Regel aus Angehörigen einer einzi­gen ethnischen und sprachlichen Gruppe zusammen­setzen. Staaten – und vor allem sogenannte Reiche, die durch Vereinigung oder Eroberung von Staaten entstan­den – tragen dagegen regelmäßig einen multiethnischen, multilingualen Charakter. Auch werden staatliche Bü­rokraten nicht in erster Linie nach Sippenzugehörigkeit ausgewählt, wie in Häuptlingsreichen üblich, sondern zumindest teilweise nach Kriterien wie Ausbildung und Befähigung. In der jüngeren Vergangenheit wurde die Erblichkeit des höchsten Staatsamts häufig abgeschafft; viele Staaten wandten sich auch ganz vom System erbli­cher Klassenzugehörigkeit ab, das vom Häuptlingsreich übernommen worden war.

In den letzten 13 000 Jahren ging der vorherrschende Trend hin zur Ablösung kleinerer gesellschaftlicher Ein­heiten durch größere mit höherem Differenzierungs­grad. Diese Entwicklung machte sich aber nur über sehr lange Zeiträume bemerkbar und war von zahllo­sen Rückschritten begleitet: Auf l000mal Vereinigung kam 999mal Auflösung. Wie wir täglich aus der Zei­tung erfahren, können große politische Einheiten (man nehme als Beispiel die ehemalige UdSSR, Jugoslawien oder die Tschechoslowakei) durchaus in kleinere zer­fallen, wie es schon dem Reich Alexanders des Großen vor über 2000 Jahren widerfuhr. Komplexere Einheiten tragen auch nicht immer den Sieg über weniger kom­plexe davon, wie das Beispiel der Reiche von Rom und China zeigt, die von »Barbaren« beziehungsweise mon­golischen »Horden« überrannt wurden. Der langfristi­ge Trend ging aber dennoch in die Richtung größerer, stärker differenzierter Gesellschaften, aus denen sich ir­gendwann Staaten entwickelten.

Offenkundig ist auch, daß die Siege von Staaten über weniger komplexe Gesellschaften zum Teil darauf zu­rückzuführen sind, daß erstere gewöhnlich einen gro­ßen waffentechnischen Vorsprung besitzen und von der Bevölkerungszahl her weit überlegen sind. Daneben ha­ben Häuptlingsreiche und Staaten zwei weitere potenti­elle Vorteile auf ihrer Seite. Erstens kann eine zentrale Entscheidungs instanz Streitkräfte und Ressourcen kon­zentrierter zur Geltung bringen. Zweitens wecken offi­zielle Religionen und patriotische Gesinnungen, wie sie viele Staaten bei ihren Bürgern entfachen, bei Soldaten die Bereitschaft, »bis zum letzten Blutstropfen« zu kämp­fen, sprich das eigene Leben im Kampf zu opfern.

Diese Bereitschaft wird den Bürgern moderner Staa­ten von Schulen, Kirchen und Regierungen immer wie­der eingehämmert, so daß uns gar nicht bewußt wird, welch radikale Abkehr von älteren Verhaltensweisen dar­in liegt. Fast jeder Staat hat seine eigenen Parolen, mit denen er die Bürger drängt, sich notfalls für den Staat zu opfern. »Für Volk und Vaterland« (Deutschland), »For King and Country« (England), »Por Dios y España« (Spa­nien) sind nur einige Beispiele. Ähnliche Gefühle moti­vierten im 16. Jahrhundert die Krieger der Azteken: »Es gibt nichts Schöneres als den Tod in der Schlacht, nichts ist so schön wie der blumige Tod, der Ihm [dem Azte­kengott Huitzilopochtli], der Leben schenkt, so teuer ist: In der Ferne kann ich ihn erblicken, oh, wie mein Herz sich nach ihm sehnt!«

Für Angehörige von Jäger-Sammler-Gruppen und Stämmen sind derartige Gemütsbewegungen unvorstell­bar. In allen Berichten meiner neuguineischen Freun­de über ihre früheren Stammeskriege fand ich keinen einzigen Hinweis auf Stammespatriotismus, selbstmör­derische Angriffe oder überhaupt irgendwelche militä­rischen Vorgehensweisen, bei denen das Risiko, selbst den Tod zu finden, bewußt in Kauf genommen wurde. Vielmehr wurden Hinterhalte gelegt oder Feinde mit­großer Übermacht angegriffen, um das Risiko, das ei­gene Leben für das Dorf opfern zu müssen, um jeden Preis zu vermeiden. Eine solche Haltung setzt den mi­litärischen Möglichkeiten von Stämmen verglichen mit Staaten natürlich enge Grenzen. Was patriotische und religiöse Fanatiker zu so gefährlichen Gegnern macht, ist bekanntlich ihre Bereitschaft, den Tod eines Teils der eigenen Leute in Kauf zu nehmen, um das Ziel der Aus­löschung des ungläubigen Feindes zu erreichen. Krie­gerischer Fanatismus von der Art, wie er Christen und Mohammedaner zu Eroberungszügen trieb, dürfte auf der Erde unbekannt gewesen sein, bevor innerhalb der letzten 6000 Jahre Häuptlingsreiche und insbesondere Staaten die Bühne der Weltgeschichte betraten.

Wie kam es, daß aus kleinen, nichtzentralistischen, auf Sippenzugehörigkeit basierenden Gemeinwesen große zentralistische Gesellschaften wurden, in denen zwi­schen den meisten Menschen keine engen Verwandt­schaftsbeziehungen bestehen? Nach Erörterung der einzelnen Phasen des Übergangs von der Jäger-Samm­ler-Gruppe zum Staat wollen wir nun fragen, was zu dieser Entwicklung führte.

Viele Male in der Geschichte bildeten sich Staaten unabhängig, also ohne das Vorbild von Nachbarstaa­ten vor Augen. Mit Ausnahme Australiens und Norda­merikas kam es auf jedem der Kontinente mindestens einmal, vielleicht sogar etliche Male zur unabhängigen Entstehung eines neuen Staates. Orte vorgeschichtli­cher Staatengründung waren Mesopotamien, Nordchi­na, das Nil- und das Industal, Mesoamerika, die Anden und Westafrika. Nach Kontakten mit Europäern gingen in den letzten drei Jahrhunderten in Madagaskar, Ha­waii, Tahiti und vielen Teilen Afrikas Staaten aus Häupt­lingsreichen hervor. Noch häufiger als Staaten wurden Häuptlingsreiche unabhängig von äußeren Vorbildern gegründet; dies geschah in allen eben erwähnten Regio­nen sowie im Südosten und Nordwesten Nordamerikas, im Amazonasgebiet und in Afrika südlich der Sahara. Diese vielfältigen Ursprünge komplexer Gesellschaften haben für uns den Vorteil, daß sie eine umfangreiche Datengrundlage für den Versuch bieten, die Vorgänge zu verstehen, die zu ihrer Entstehung führten.

Von den vielen Theorien, die sich mit dem Problem der Staatenbildung befassen, tut sich die einfachste da­durch hervor, daß sie das Problem schlichtweg leugnet. Aristoteles sah im Staat die natürliche Form menschli­chen Zusammenlebens, die keiner weiteren Erklärung bedurfte. Sein Irrtum war verständlich, da ihm nur die griechischen Gesellschaften des 4. Jahrhunderts v. Chr.

– allesamt staatliche Gemeinwesen – bekannt gewesen sein dürften. Wie wir heute wissen, bestand die Welt des Jahres 1492 n. Chr. jedoch zum großen Teil aus Häupt­lingsreichen, Stammesgesellschaften und Jäger-Samm­ler-Gruppen. Somit bedarf die Entstehung von Staaten in der Tat einer Erklärung.

Die nächste Theorie ist wohl die bekannteste. Der französische Philosoph Jean Jacques Rousseau speku­lierte, die Gründung von Staaten würde durch einen Gesellschaftsvertrag (»Contrat social«) erfolgen; diesen beschrieb er als den rationalen, von Menschen nach Ab­wägung ihrer eigenen Interessen gefaßten Beschluß, daß es ihnen in einem Staat besser ergehen werde als in einem einfacher organisierten Gemeinwesen, woraufhin letz­teres freiwillig abgeschafft würde. Die Geschichte kennt allerdings keinen einzigen Fall einer Staatsgründung in einer derartigen Atmosphäre von Unvoreingenommen­heit und Weitsicht. Kleinere politische Einheiten geben ungern ihre Souveränität auf, um mit größeren zu ver­schmelzen. Dazu kommt es nur durch Eroberung oder unter dem Druck äußerer Umstände.

Eine dritte, noch heute von einigen Historikern und Ökonomen vertretene Theorie geht von der unstrittigen Tatsache aus, daß sowohl in Mesopotamien als auch in Nordchina und Mexiko um die Zeit der ersten Staaten­gründungen großangelegte Bewässerungssysteme gebaut wurden. Die Theorie postuliert nun, daß die Schaffung und Erhaltung eines umfangreichen Bewässerungssy­stems beziehungsweise einer komplizierten Wasser­wirtschaft eine zentrale Bürokratie erfordere. Aus der beobachteten groben zeitlichen Korrelation wird eine Kausalkette abgeleitet. Demnach hatten Mesopotamier, Nordchinesen und Mexikaner offenbar die Vorteile vor­ausgesehen, die ihnen ein großangelegtes Bewässerungs­system bringen würde, obwohl es damals im Umkreis von Tausenden von Kilometern (oder überhaupt irgend­wo auf der Welt) kein derartiges System gab, das ihnen diese Vorteile hätte vor Augen führen können. Darauf­hin beschlossen jene weitsichtigen Menschen, ihre ineffi­zienten kleinen Häuptlingsreiche zu größeren Staaten zu vereinigen, die in der Lage waren, ihnen die Segnungen einer umfangreichen Bewässerung zu bescheren.

Gegen diese »hydraulische Theorie« der Staatenbil­dung sind die gleichen Einwände zu erheben wie all­gemein gegen Theorien, die Gesellschaftsverträge po­stulieren. Sie widmen sich lediglich dem Endstadium der Evolution komplexer Gesellschaften und lassen of­fen, was den Übergang von Jäger-Sammler-Gruppen zu Stammesgesell schaften und von Stammesgesellschaften zu Häuptlingsreichen in den vielen Jahrtausenden, be­vor die Aussicht auf bewässerte Felder am Horizont her­aufzog, bewirkte. Eine genaue Auswertung historischer und archäologischer Daten unterstützt die Interpretation der Bewässerung als Triebkraft der Staatenbildung kei­neswegs. So gab es in Mesopotamien, Nordchina, Mexi­ko und Madagaskar lange vor der Gründung der ersten Staaten kleinere Bewässerungsanlagen. Die Errichtung komplexer wasserwirtschaftlicher Systeme ging auch nicht mit der Entstehung von Staaten einher, sondern erfolgte in jeder der genannten Regionen erst viel spä­ter. In den meisten Staaten, die in der mesoamerikani­schen Maya-Region und den Anden gegründet wurden, änderte sich nichts daran, daß Bewässerungssysteme von lokalen Gemeinschaften selbst gebaut und unterhalten wurden und von entsprechend bescheidenem Umfang waren. Komplexe wasserwirtschaftliche Systeme waren mithin selbst in jenen Gebieten, in denen sie schließlich entstanden, ein sekundäres Resultat der Staatenbildung, für die es andere Ursachen geben muß.

Eine in meinen Augen zutreffende Annahme über die Entstehung von Staaten basiert auf einer unbestrittenen Tatsache, die sehr viel weitreichendere Gültigkeit besitzt als die Korrelation zwischen Bewässerungsprojekten und der Entstehung einer kleinen Zahl von Staaten – nämlich, daß die Einwohnerzahl einer Region den höchsten Pro­gnosewert für den Grad der gesellschaftlichen Komplexi­tät besitzt. Wir wissen, daß Jäger-Sammler-Gruppen eine Größe von ein paar Dutzend Individuen, Stämme von ei­nigen hundert, Häuptlingsreiche von einigen tausend bis zu einigen zehntausend und Staaten von über ca. 50000 haben. Neben dieser groben Korrelation von regionaler Bevölkerungsgröße und Gesellschaftstyp(Jäger-Sammler-Gruppen, Stamm usw.) gibt es innerhalb jeder dieser Ka­tegorien einen näheren Zusammenhang zwischen Bevöl­kerung und gesellschaftlicher Komplexität in dem Sinne, daß beispielsweise Häuptlingsreiche mit großer Bevölke­rung stärker zentralisiert, sozial geschichtet und differen­ziert waren als solche mit kleinerer Bevölkerung.

Diese Korrelationen deuten darauf hin, daß die regio­nale Bevölkerungsgröße oder -dichte irgendwie mit der Entstehung komplexer Gesellschaften zusammenhängt. Sie besagen aber nichts über die genaue Wirkungsweise von Bevölkerungsvariablen in einer Kausalkette, deren letztes Glied hochdifferenzierte Gesellschaften sind. Um dieser Kausalkette nachzuspüren, wollen wir zunächst noch einmal fragen, wie große, dichte Bevölkerungen eigentlich entstehen. Danach können wir untersuchen, warum eine große, aber wenig differenzierte Gesellschaft Probleme bekommt. Vor diesem Hintergrund werden wir uns dann wieder der Frage zuwenden, wie eine einfache Gesellschaft an Komplexität gewinnt, wenn die Bevöl­kerung wächst.

Wir wissen bereits, daß große Bevölkerungen bezie­hungsweise Bevölkerungsdichten voraussetzen, daß ent­weder Landwirtschaft betrieben wird oder außerordent­lich günstige Bedingungen für Jäger und Sammler herr­schen. Einige Jäger-Sammler-Kulturen erreichten den Organisationsgrad von Häuptlingsreichen, keine aber den von Staaten: Alle staatlichen Gemeinwesen ernäh­ren ihre Bürger durch Landwirtschaft. Diese Überlegun­gen haben im Zusammenhang mit der eben aufgezeig­ten Korrelation von Bevölkerungsgröße und gesellschaftlicher Komplexität eine Huhn­oder-Ei-Debatte über die Kausalzusammenhänge zwischen Landwirtschaft, Bevölkerungsvaria blen und gesellschaftlicher Komple­xität ausgelöst. War die intensive Nahrungserzeugung die Ursache, die das Wachstum der Bevölkerung aus­löste und auf irgendeine Weise zu einer komplexen ge­sellschaftlichen Organisation führte? Oder waren viel­mehr große Bevölkerungen und komplexe Gesellschaf­ten die Ursache, die irgendwie zur Intensivierung der Nahrungserzeugung führten?

Entweder-Oder führt hier nicht weiter. Vielmehr ha­ben wir es mit einer wechselseitigen Stimulation von intensivierter Nahrungserzeugung und gesellschaftli­cher Komplexität durch Autokatalyse zu tun. Das be­deutet, daß Bevölkerungswachstum über Mechanismen, auf die ich noch eingehen werde, zu gesellschaftlicher Komplexität führt, während diese ihrerseits eine Inten­sivierung der Nahrungserzeugung und dadurch auch ein verstärktes Bevölkerungswachstum bewirkt. Kom­plexe, zentralistische Gesellschaften sind besser als alle anderen in der Lage, öffentliche Bauarbeiten (z. B. Be­wässerungssysteme), Fernhandel (z. B. Import von Me­tallen für die Herstellung landwirtschaftlicher Geräte) und Aktivitäten verschiedener Gruppen von Speziali­sten zu organisieren und zu koordinieren (z. B. Versor­gung von Viehzüchtern mit Getreide von Ackerbauern und im Gegenzug Ausstattung der Bauern mit Zugtie­ren für die Feldarbeit). Derartige Fähigkeiten zentra­listischer Gesellschaften begünstigten in der gesamten Geschichte die Intensivierung der Landwirtschaft und somit auch das Bevölkerungswachstum.

Zudem trägt die Landwirtschaft auf mindestens drei Arten zu typischen Merkmalen komplexer Gesellschaf­ten bei. Erstens schwankt der Arbeitskräftebedarf in der Landwirtschaft im Rhythmus der Jahreszeiten. Ist die Ernte eingebracht, wird die Arbeitskraft der Bauern frei und kann von einer politischen Zentralgewalt für andere Zwecke eingespannt werden – etwa zur Errichtung öf­fentlicher Bauwerke als Symbole der Staatsmacht (ägyp­tische Pyramiden), zum Bau von Einrichtungen, die der Ernährung von noch mehr Menschen dienen (Bewässe­rungssysteme und Fischteiche der polynesischen Hawai­ianer), oder zur Führung von Eroberungskriegen, durch die größere politische Einheiten geschaffen werden.

Zweitens kann die Landwirtschaft so organisiert wer­den, daß Nahrungsüberschüsse erzielt und Vorräte ange­legt werden, was eine Voraussetzung der ökonomischen Differenzierung und der Gliederung der Gesellschaft in soziale Schichten darstellt. Mit den Überschüssen kön­nen Angehörige sämtlicher Ebenen einer komplexen Ge­sellschaft ernährt werden: Häuptlinge, Bürokraten und andere Mitglieder der Herrschaftsschicht; Schreiber, Handwerker und weitere Spezialisten, die selbst keine Nahrung produzieren; und schließlich die Bauern selbst in Zeiten, in denen sie Frondienst leisten müssen.

Schließlich gestattet die Landwirtschaft den Men­schen den Übergang zur Seßhaftigkeit beziehungswei­se zwingt sie sogar dazu – dies ist eine Voraussetzung für die Anhäufung von Besitztümern, die Entwicklung komplizierter Techniken und Handwerkskünste sowie die Errichtung öffentlicher Bauten. Die Bedeutung der Seßhaftigkeit für komplexe Gesellschaften erklärt auch, warum Missionare und Behörden nach Herstellung von Erstkontakten mit nomadischen Stämmen oder Grup­pen in Neuguinea oder im Amazonasgebiet am Anfang stets zwei Ziele verfolgen: Eins ist natürlich die »Befrie­dung« der Nomaden, das heißt, man versucht sie davon abzubringen, Missionare, Verwaltungsbeamte oder sich gegenseitig umzubringen. An zweiter Stelle kommt so­gleich die Ansiedlung in Dörfern, damit man sie besser finden, ihnen medizinische Betreuung und Schulunter­richt angedeihen lassen und sie missionieren und unter Kontrolle bekommen kann.

So macht die Landwirtschaft, indem sie zum Bevölke­rungswachstum beiträgt, die Besonderheit komplexer Gesellschaften in vielerlei Hinsicht erst möglich. Das beweist indes nicht, daß komplexe Gesellschaften eine zwangsläufige Folge von Landwirtschaft und Bevölke­rungswachstum sind. Wie erklärt sich nun der empi­rische Sachverhalt, daß die Organisationsformen von Jäger-Sammler-Gruppen und Stammesgesellschaften für Gruppen von mehreren hunderttausend Menschen nicht taugen und daß alle existierenden großen Gesell­schaften eine hochdifferenzierte, zentralistische Orga­nisation aufweisen? Es können mindestens vier offen­sichtliche Gründe angeführt werden.

Ein Grund ist die Problematik von Konflikten zwi­schen nicht miteinander verwandten Fremden. Sie wächst ins Astronomische, wenn die Zahl der Mitglieder einer Gesellschaft nur genügend stark zunimmt. Während es zwischen 20 Personen maximal 190 Zweierbeziehungen geben kann (20 mal 19 geteilt durch 2), sind es bei 2000 Personen schon 1 999 000 mögliche Beziehungen. Jede davon stellt eine potentielle Zeitbombe dar, die explo­dieren und in einem tödlichen Streit enden könnte. Ein Mord zieht in Jäger-Sammler-Gruppen und Stammes­gesellschaften aber in der Regel einen Racheakt nach sich, so daß ein endloser Kreislauf des Mordens mit de­stabilisierenden Folgen für das Gemeinwesen in Gang gesetzt wird.

In einer Gruppe, in der alle eng miteinander verwandt sind, schreiten bei Streitigkeiten Verwandte beider Par­teien als Schlichter ein. In einem Stamm, wo immer noch viele miteinander verwandt sind und wenigstens jeder die Namen aller anderen kennt, vermitteln gemeinsame Verwandte und Freunde zwischen Streithähnen. Ist je­doch die magische Grenze von »ein paar Hundert«, bis zu der noch jeder jeden kennen kann, überschritten, han­delt es sich bei Zweier-Interaktionen immer häufiger um solche zwischen nicht miteinander verwandten Frem­den. Bricht eine gewalttätige Auseinandersetzung unter Fremden aus, werden nur wenige gemeinsame Freunde oder Verwandte der Beteiligten anwesend sein, die ein persönliches Interesse daran hätten, den Kampf zu stop­pen. Statt dessen werden viele der Zuschauer Freunde oder Verwandte entweder der einen oder der anderen Konfliktpartei sein und sich auf deren Seite stellen, so daß eine handgreifliche Auseinandersetzung zwischen zwei Streithähnen leicht in eine Massenprügelei mün­den kann. Deshalb ist eine bevölkerungsreiche Gesell­schaft, die ihren einzelnen Mitgliedern die Konfliktre­gelung selbst überläßt, dazu verurteilt, über kurz oder lang an inneren Spannungen zu zerbersten. Dieser Fak­tor allein würde schon erklären, warum Gesellschaften mit Tausenden von Mitgliedern nur existieren können, wenn sie über eine Zentralgewalt mit Gewaltmonopol als Konfliktregelungsinstanz verfügen.

Ein zweiter Grund ist die bei zunehmender Bevölke­rungsgröße immer stärker ins Gewicht fallende Unmög­lichkeit, gemeinschaftliche Entscheidungen zu treffen. In neuguineischen Dörfern, die so klein sind, daß a) Neu­igkeiten und Informationen rasch jedermann zu Ohren kommen, b) auf Dorf-Vollversammlungen jeder jeden Redner ver stehen kann und c) jeder, der das Wort er­greifen möchte, auf Ver sammlungen auch die Gelegen­heit dazu erhält, kann noch heute die gesamte erwach­sene Dorfbevölkerung Entscheidungen gemeinsam fäl­len. In wesentlich größeren Gemeinschaften sind diese Voraussetzungen für gemeinsame Entscheidungen jedoch nicht mehr gegeben. Selbst in der heutigen Zeit der Mi­krophone und Lautsprecher ist jedem klar, daß eine Ver­sammlung mit Tausenden von Teilnehmern kein geeig­neter Weg ist, um die Probleme einer Gruppe von dieser Größenordnung zu lösen. Deshalb bedarf eine größere Gesellschaft zentralistischer Strukturen, damit Entschei­dungen auf effektive Weise getroffen werden können.

Der dritte Grund ist wirtschaftlicher Natur. Jede Ge­sellschaft benötigt Mechanismen zum Austausch von Gütern unter ihren Mitgliedern. Der einzelne findet oder produziert beispielsweise an manchen Tagen größere, an anderen kleinere Mengen eines lebensnotwendigen Guts. Da die Menschen unterschiedliche Begabungen haben, produziert jeder regelmäßig zuviel von dem ei­nen und zuwenig von einem anderen Gut. In kleinen Ge­sellschaften mit wenigen Mit glieder-Paaren (siehe oben) kann der dadurch erforderliche Güteraustausch direkt zwischen einzelnen Mitgliedern beziehungsweise Fa­milien abgewickelt werden (reziproker Austausch). Die gleichen mathematischen Verhältnisse, die der direk­ten paarweisen Konfliktlösung in großen Gesellschaf­ten entgegenstehen, lassen jedoch auch den direkten paarweisen Austausch von Wirtschaftsgütern ineffizi­ent erscheinen. Große Gesellschaften sind nur funkti­onsfähig, wenn die reziproke durch eine redistributive Ökonomie ergänzt wird. Diese beinhaltet die Abfüh­rung von Überschüssen, die von den einzelnen Mit­gliedern produziert werden, an eine zentrale Instanz, die sie dann an andere Mitglieder mit entsprechendem Defizit umverteilt.

Eine letzte Überlegung, die ebenfalls für die Not­wendigkeit einer komplexen Organisation großer Ge­sellschaften spricht, hängt mit der Bevölkerungsdichte zusammen. Große, auf Landwirtschaft gestützte Gesell­schaften haben nicht nur mehr Mitglieder, sondern auch eine höhere Bevölkerungsdichte als kleine Jäger-Samm­ler-Gruppen. Jede ein paar Dutzend Mitglieder starke Schar von Jägern und Sammlern durchstreift ein grö­ßeres Gebiet, innerhalb dessen Grenzen sie die meisten zum Leben notwendigen Dinge findet. Die übrigen be­nötigten Güter werden durch Tauschhandel mit benach­barten Gruppen beschafft, sofern man nicht gerade im Krieg mit ihnen liegt. Mit zunehmender Bevölkerungs­dichte würde das Gebiet der einzelnen, aus einigen Dut­zend Personen bestehenden Gruppe schrumpfen, so daß immer mehr Güter von außen beschafft werden müßten. Man kann eben nicht einfach beispielsweise Hollands 40 000 Quadratkilometer und 16 000 000 Einwohner in 80 0000 einzelne Reviere aufteilen, von denen jedes eine Größe von rund fünf Hektar hätte und einem autono­men Verband von 20 Menschen als Heimat zur Verfü­gung stünde, die innerhalb dieses Gebiets autark leben und nur gelegentlich einen Waffenstillstand dazu nut­zen würden, mit den Nachbarn Handelsgüter und Bräu­te zu tauschen. Das Beispiel verdeutlicht, daß in dicht­besiedelten Regionen kein Weg an großen, komplex or­ganisierten Gesellschaften vorbeiführt.

Konfliktlösung, Entscheidungsprozesse, Gütertausch, Bevölkerungsdichte – all das sind Faktoren, die für eine zentralistische Struktur großer Gesellschaften sprechen. Die Zentralisierung von Macht eröffnet jedoch unwei­gerlich denen, die sie innehaben, die Einblick in Infor­mationen besitzen, Entscheidungen treffen und Güter umverteilen, die Möglichkeit, ihre Stellung auszunutzen, um sich und die Ihren zu bereichern – was in unseren Ohren nach einer Selbstverständlichkeit klingt. In der Entstehungsphase der frühen Gesellschaften etablierten sich jene, denen die Macht zufiel, erst nach und nach als Herrschaftsschicht. Ihr Ursprung mag in einem dörfli­chen Clan gelegen haben, der im Laufe der Entwicklung »gleicher« wurde als die anderen.

Aus diesen Gründen können bevölkerungsreiche Ge­sellschaften nicht mit einer Organisationsstruktur von Jäger-Sammler-Gruppen funktionieren, sondern haben sich zu komplexen Kleptokratien entwickelt. Im Raum steht aber immer noch die Frage, wie es dazu kommt, daß kleine, schwach differenzierte Gesellschaften zu großen, komplexen wurden oder sich zu solchen Ge­bilden zusammenschlossen. Verschmelzungen, zentra­listische Konfliktregelung und Entscheidungsprozesse, Umverteilungsökonomie, kleptokratische Religion – das alles fällt nicht durch einen Rousseauschen Gesell­schaftsvertrag vom Himmel. Was gibt also den Anstoß zu dieser Entwicklung?

Ich wies am Anfang dieses Kapitels darauf hin, daß Gesellschaften, die der gleichen Kategorie zugeordnet werden, nicht alle identisch sind, da einzelne Individuen und Gruppen von Menschen unendlich verschieden sind. So sind die Anführer einiger Jäger-Sammler-Gruppen und Stämme charismatischer, mächtiger und geschick­ter im Durchsetzen von Entscheidungen als die »Big­men« anderer. Unter den großen Stämmen haben jene mit mächtigeren Anführern und somit stärkerer Zen­tralisierung in der Regel einen Vorteil gegenüber jenen mit schwächerer Zentralisierung. Stämme mit so man­gelhaften Konfliktlösungsfähigkeiten wie die Fayu zer­fallen oft in einzelne Gruppen, während sich schlecht regierte Häuptlingsreiche tendenziell in Stämme oder kleinere Häuptlingsreiche aufspalten. Gesellschaften mit wirksamer Konfliktregelung, soliden Entscheidungspro­zessen und harmonischer Umverteilungsökonomie kön­nen dagegen bessere Techniken entwickeln, ihre militä­rische Macht konzentrieren, größere und fruchtbarere Gebiete in ihren Besitz bringen und autonome kleinere Gesellschaften eine nach der anderen unterwerfen.

Die Konkurrenz zwischen Gesellschaften gleicher Komplexitätsstufe führt somit tendenziell zur Entste­hung von Gesellschaften des jeweils nächsthöheren Kom­plexitätsgrades, wenn die Umstände dies zulassen. Stäm­me unterwerfen andere Stämme oder schließen sich mit ihnen zu Häuptlingsreichen zusammen, die ihrerseits andere Häuptlingsreiche unterwerfen und die Größe von Staaten erreichen, die dann wiederum andere Staa­ten unterwerfen oder sich mit ihnen zu Reichen verei­nen. Allgemein haben größere Einheiten einen poten­tiellen Vorteil gegenüber kleineren, wenn – und dieses Wenn ist nicht zu vernachlässigen – die größeren Ein­heiten die aus ihrer Größe resultierenden Probleme zu meistern wissen, etwa die ständige Gefahr der Macht­ergreifung durch einzelne, die sich dazu berufen füh­len, die Unzufriedenheit der Untertanen mit den klep­tokratischen Verhältnissen und die Probleme der wirt­schaftlichen Integration.

Der Zusammenschluß kleinerer zu größeren Einhei­ten wurde von Historikern und Archäologen vielfältig dokumentiert. Im Gegensatz zu Rousseaus Thesen er­eigneten sich derartige Vereinigungen jedoch niemals so, daß sich kleinere Gesellschaften ohne äußere Be­drohung freiwillig und nur im Interesse der Wohlfahrt und Zufriedenheit ihrer Bürger dazu entschlossen. In der Realität sind die Führer kleiner ebenso wie großer Gesellschaften viel zu sehr auf ihre Unabhängigkeit und die eigenen Privilegien bedacht. Vereinigungen gesche­hen vielmehr auf zwei Arten: entweder unter dem Druck lauernder äußerer Gefahren oder durch Eroberung. Für beide Varianten lassen sich zahlreiche Fälle nennen.

Ein Beispiel für Vereinigungen angesichts äußerer Ge­fahr ist die Bildung der Cherokee-Konföderation im Süd­osten der USA. Die Cherokee lebten ursprünglich in 30 oder 40 unabhängigen Häuptlingsreichen, von denen jedes aus einem Dorf mit ca. 400 Bewohnern bestand. Die wachsende Besiedlung durch Weiße führte zu Kon­flikten zwischen Indianern und Eindringlingen. Wenn einzelne Cherokee weiße Siedler und Händler ausraub­ten oder überfielen, konnten die Weißen nicht zwischen den verschiedenen Cherokee-Häuptlingsreichen unter­scheiden und übten unterschiedslose Vergeltung in Form von Militäreinsätzen oder Handelssanktionen. In dieser Situation sahen sich die Cherokee-Häuptlingsreiche im Laufe des 18. Jahrhunderts genötigt, eine Konföderati­on zu bilden. Es begann damit, daß sich die größeren Häuptlingsreiche im Jahr 1730 auf einen gemeinsamen Führer verständigten, einen Häuptling namens Moytoy, dem 1741 sein Sohn im Amt folgte. Die erste Aufgabe des gemeinsamen Führers bestand in der Bestrafung einzelner Cherokee, die Weiße angriffen, sowie in der Pflege der Beziehungen mit der Regierung der Weißen. Ungefähr ab 1758 wurde eine jährliche Ratsversamm­lung nach dem Vorbild eines Dorfrats abgehalten, auf der gemeinsame Beschlüsse gefaßt wurden und die im­mer am gleichen Ort, einem Dorf namens Echota, statt­fand, das damit de facto zur »Hauptstadt« wurde. Nach ihrer Alphabetisierung (siehe Kapitel 11) gaben sich die Cherokee eine schriftliche Verfassung.

Die Cherokee-Konföderation entstand somit nicht durch Eroberung, sondern durch Vereinigung zuvor unabhängiger kleinerer Einheiten, die sich nur ange­sichts der Bedrohung durch mächtige äußere Kräfte zu­sammenschlossen. In ganz ähnlicher Weise sahen sich auch die weißen amerikanischen Kolonien zum Zusam­menschluß gezwungen, als ihnen die britische Monar­chie als mächtige Bedrohung gegenübertrat. Am An­fang war jede der amerikanischen Kolonien nicht min­der auf ihre Autonomie bedacht als die Häuptlingsreiche der Cherokee, weshalb der erste Versuch einer Vereini­gung im Jahr 1781 zu nichts führte, da den einzelnen Exkolonien zuviel Eigenständigkeit eingeräumt wurde. Nur im Angesicht weiterer Bedrohungen, insbesonde­re eines bewaffneten Bauernaufstands in Massachusetts (Shays’ Rebellion) im Jahr 1786 und der hohen Bela­stung durch die Kriegsschulden, gaben die Exkolonien ihren Widerstand gegen Autonomieeinbußen auf und nahmen 1787 die heutige Verfassung der USA an, die eine starke Bundesgewalt vorsieht. Ähnliche Schwierig­keiten gab es im Vorfeld der Beendigung der deutschen Kleinstaaterei im 19. Jahrhundert. Drei Versuche (Na­tionalversammlung in Frankfurt 1848, Wiederherstel­lung des Deutschen Bundes 1850, Norddeutscher Bund 1866) scheiterten, bevor eine äußere Bedrohung in Form der französischen Kriegserklärung von 1870 die deut­schen Fürsten schließlich doch veranlaßte, einen großen Teil ihrer Macht 1871 an eine kaiserliche Zentral­gewalt abzutreten.

Die andere Entstehungsform komplexer Gesellschaf­ten ist die gewaltsame Angliederung durch Eroberung. Ein gut erforschtes Beispiel hierfür ist die Entstehung des Zulu-Staates im südöstlichen Afrika. Zum Zeitpunkt des Eintreffens der ersten weißen Siedler waren die Zulu in Dutzende kleiner Häuptlingsreiche gespalten. Ende des 18. Jahrhunderts wuchs der Bevölkerungsdruck in den Zulu-Gebieten, und es kam immer häufiger zu krie­gerischen Auseinandersetzungen zwischen den einzel­nen Häuptlingsreichen. Ein Häuptling namens Dingis­wayo, der um 1807 die Macht im Häuptlingsreich Mtet­wa durch die Tötung eines Rivalen an sich riß, löste das Problem der Schaffung zentralistischer Machtstrukturen auf höchst erfolgreiche Weise. Dingiswayo baute eine schlagkräftige militärische Organisation auf, indem er junge Männer aus allen Dörfern einzog und sie nach Al­ter statt nach ihrem Heimatdorf in Regimenter einteilte. Ihm gelang auch der Aufbau zentralistischer politischer Strukturen; bei der Eroberung anderer Häuptlingsreiche verzichtete er auf Massaker, ließ die jeweilige Häuptlings­familie unversehrt und ersetzte lediglich den besiegten Häuptling durch einen zur Zusammenarbeit mit ihm gewillten Verwandten des Häuptlings. Im Bereich der Konfliktregelung erweiterte Dingiswayo mit Erfolg das bestehende Gerichtswesen. Auf diese Weise gelang es ihm, 30 andere Zulu-Häuptlingsreiche zu erobern und mit seinem Reich zu vereinigen. Seine Nachfolger stärk­ten den jungen Zulu-Staat durch den weiteren Ausbau von Polizei-, Justiz- und Zeremonienwesen.

Man könnte beliebig viele Beispiele für Staatsgründun­gen durch Eroberung nach dem Muster des Zulu-Staates anführen. So wurden Europäer im 18. und 19. Jahrhun­dert an vielen Orten der Welt Zeugen der Entstehung von Eingeborenenstaaten aus Häuptlingsreichen; darun­ter waren die polynesischen Staaten auf Hawaii und Tahi­ti, der Merina-Staat auf Madagaskar, Lesotho, Swasiland und weitere Staaten, die im südlichen Afrika neben dem Zulu-Staat entstanden, der Ashanti-Staat in Westafrika und die Staaten Ankole und Buganda in Uganda. Die Reiche der Azteken und Inkas, ebenfalls durch Erobe­rungen geschmiedet, entstanden vor Ankunft der Eu­ropäer im 15. Jahrhundert; aus mündlichen Überliefe­rungen, die von den ersten spanischen Siedlern nieder­geschrieben wurden, ist uns jedoch relativ viel über die damaligen Vorgänge bekannt. Die Gründung des rö­mischen Staates und die Expansion des makedonischen Reiches unter Alexander dem Großen wurden von zeit­genössischen Autoren ausführlich geschildert.

Diese Beispiele zeigen, daß Krieg beziehungsweise Kriegsgefahr in den meisten, wenn nicht allen Fällen, in denen aus mehreren kleineren eine größere Gesell­schaft hervorging, eine entscheidende Rolle spielte.

Kriege, selbst wenn sie nur zwischen kleinen Jäger-Sammler-Gruppen ausgefochten wurden, waren aber doch ein ständiger Faktor der Men schheitsgeschichte gewesen. Wie kam es dann, daß sie offenbar erst innerhalb der letzten 13 000 Jahre zur Entstehung größerer Ge­meinwesen führten? Wir hatten bereits gesehen, daß die Bildung komplexer Gesellschaften in irgendeiner Weise mit dem Faktor Bevölkerungsdruck zusammenhängt, so daß wir jetzt unsere Aufmerksamkeit auf einen mögli­chen Zusammenhang zwischen Bevölkerungsdruck und dem Ergebnis von Kriegen richten sollten. Warum führ­ten Kriege in dichtbesiedelten Regionen eher zu Ver­einigungen von Gesellschaften als in dünnbesiedelten? Die Antwort lautet, daß die Bevölkerungsdichte in ei­nem Gebiet mit darüber entscheidet, was mit besieg­ten Völkern geschieht. Drei mögliche Ergebnisse sind zu unterscheiden:

In sehr dünn besiedelten Regionen, um die es sich gewöhnlich bei den Lebensräumen von Jäger-Sammler-Gruppen handelt, brauchen die Überlebenden einer be­siegten Gruppe lediglich weiter von ihren Feinden fort­zuziehen. Dies ist in Neuguinea und im Amazonasge­biet häufig nach kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Nomadengruppen zu beobachten.

Bei mittlerer Bevölkerungsdichte, beispielsweise in den Siedlungsgebieten von Stämmen, die Landwirtschaft trei­ben, sind keine »leeren« Gebiete vorhanden, in die sich Überlebende einer besiegten Gruppe flüchten könnten. Stammesgesellschaften ohne intensive Landwirtschaft haben jedoch weder Bedarf an Sklaven, noch produzie­ren sie Nahrungsüberschüsse in genügender Menge, um nennenswerte Tribute leisten zu können. Deshalb haben die Sieger keine Verwendung für Überlebende eines be­siegten Stammes, vielleicht mit Ausnahme der Frauen, die zur Ehe genommen werden. Männer werden dage­gen getötet, woraufhin ihr Territorium von den Siegern in Besitz genommen werden kann.

In dichtbesiedelten Gebieten, etwa denen von Staa­ten oder Häuptlingsreichen, finden die Besiegten eben­falls keinen Raum, in den sie sich zurückziehen könn­ten. Die Sieger haben nun jedoch zwei Optionen, aus ihrem Erfolg Nutzen zu ziehen, ohne die Unterlegenen zu töten. Die ökonomische Differenzierung von Häupt­lingsreichen und Staaten ermöglicht die Ausbeutung der Besiegten als Sklaven, wie es in biblischen Zeiten gang und gäbe war. Die zweite Option ergibt sich daraus, daß viele dieser Gesellschaften intensiv Landwirtschaft be­treiben und zur Erzeugung größerer Überschüsse in der Lage sind. Das gibt den Siegern die Möglichkeit, die Be­siegten dort zu lassen, wo sie sind, ihnen aber die poli­tische Selbständigkeit zu nehmen, regelmäßige Tribute in Form von Nahrungsmitteln oder Gütern von ihnen zu fordern und ihre Gesellschaft in die des siegreichen Staates oder Häuptlingsreichs einzugliedern. Dies war in der gesamten uns überlieferten Geschichte das gewöhn­liche Ergebnis kriegerischer Auseinandersetzungen, die mit der Gründung von Staaten oder Reichen einhergin­gen. So hatten die spanischen Konquistadoren vor, den unterworfenen Völkern Mexikos Tribute aufzuerlegen, weshalb sie an den Tributverzeichnissen des Azteken-Reichs äußerst interessiert waren. Aus diesen ergab sich, daß die Azteken von den ihnen tributpflichtigen Völ­kern jährlich unter anderem 7000 Tonnen Mais, 4000 Tonnen Bohnen, 4000 Tonnen Amarantkörner, 200 0000 Baumwollumhänge und riesige Mengen an Kakaoboh­nen, Kriegstrachten, Schilden, Federkopfschmuck und Bernstein geliefert bekommen hatten.

Landwirtschaft, Konkurrenz zwischen Gesellschaf­ten und Diffusion führten somit als eigentliche Ursa­chen über Kausalketten, die sich im Detail unterschie­den, aber stets große Populationen mit hoher Siedlungs­dichte und seßhafter Lebensweise implizierten, zu den unmittelbaren Faktoren, die Eroberungen ermöglichten: zu Krankheits erregern, Schrift, Technik und zentralisti­scher politischer Ordnung. Da sich die eigentlichen Ur­sachen auf verschiedenen Kontinenten unterschiedlich entwickelten, galt das gleiche auch für die unmittelbaren Faktoren der Eroberung. In der Regel bildeten sich meh­rere gleichzeitig heraus, doch ein strikter Zusammen­hang bestand nicht: So entfaltete das Inka-Reich seine Macht ohne Schrift, während die Azteken eine Schrift be­saßen, aber nur wenige Infektionskrankheiten kannten. Das Beispiel der Zulu unter Dingiswayo zeigt, daß jeder dieser Faktoren einen unabhängigen Beitrag zum Ge­schichtsverlauf leistete. Unter den Dutzenden von Zulu-Häuptlingsreichen besaß das Mtetwa-Reich keinerlei Vorsprung gegenüber den anderen Reichen, was Technik, Schrift und Krankheitserreger betrifft, und besiegte sie dennoch alle. Seine Überlegenheit beschränkte sich auf die politische und ideologische Sphäre. Der so geschaffe­ne Zulu-Staat konnte immerhin nahezu ein Jahrhundert lang große Teile des südlichen Afrika beherrschen.