KAPITEL 8

Zebras, unglückliche Ehenund das Anna-Karenina-Prinzip

Warum die meisten großen Säugetierarten niemals domestiziert wurden

Alle domestizierbaren Tiere ähneln einander; jedes undomestizierbare Tier ist aber auf seine eigene Art undomestizierbar.

Falls Sie meinen, Sie hätten etwas Ähnliches schon ein­mal gelesen, könnten Sie sogar recht haben. Mit ein paar kleinen Änderungen wird nämlich der berühmte erste Satz von Tolstois Roman Anna Karenina daraus: »Alle glücklichen Familien ähneln einander; jede unglückli­che aber ist auf ihre eigene Art unglücklich.« Mit diesem Satz wollte Tolstoi sagen, daß eine Ehe, um glücklich zu sein, viele Voraussetzungen erfüllen muß: Die Partner müssen sich sexuell anziehend finden, sie müssen über Geldfragen und Kindererziehung einer Meinung sein, Religion und Schwiegereltern dürfen nicht zwischen ih­nen stehen und noch einiges mehr. Mangelt es an nur ei­ner dieser Grundvoraussetzungen, ist eine Ehe womög­lich zum Scheitern verurteilt, selbst wenn alle anderen Zutaten zum Familienglück vorhanden sind.

Dieses Prinzip läßt sich auch auf viele andere Lebensbereiche anwenden. Wir neigen dazu, Erfolge auf einen einzigen Faktor zurückzuführen. In Wirklichkeit hängt Erfolg bei den meisten wichtigen Dingen aber davon ab, daß viele mögliche Mißerfolgsgründe vermieden wer­den. Das Anna-Karenina-Prinzip erklärt ein Merkmal der Domestikation von Tieren, das für die Menschheits­geschichte schwerwiegende Folgen hatte. Ich meine die Tatsache, daß so viele auf den ersten Blick geeignete Säu­getierarten, wie beispielsweise Zebras und Nabelschwei­ne, nie domestiziert wurden und daß die erfolgreichen Domestikationen fast alle in Eurasien stattfanden. Nach­dem wir in den beiden letzten Kapiteln erörtert haben, warum so viele Arten von Wildpflanzen, die auf den er­sten Blick geeignet waren, nie domestiziert wurden, wol­len wir nun die gleiche Frage für Kandidaten aus dem Tierreich stellen. Statt um Äpfel oder Indianer geht es nun um die Frage: Zebras oder Afrikaner?

In Kapitel 3 hatten wir uns die vielfältige Bedeutung von Haustieren für die Gesellschaften, die sich ih­rer erfreuten, vergegenwärtigt. So waren sie Lieferan­ten von Fleisch, Milchprodukten, Düngemitteln, Leder und Wolle, dienten als Transportmittel, als Reittiere zur Kriegführung und als Zugtiere, die vor Pflüge gespannt wurden, sowie als Überträger von Krankheitserregern, einer tödlichen Waffe gegen andere Völker, die ihre Be­kanntschaft noch nicht gemacht hatten. Daneben spiel­ten natürlich auch kleine Haustiere, Federvieh und In­sekten eine wichtige Rolle für den Menschen. Zahlrei­che Vogelarten wurden wegen ihres Fleischs, ihrer Eier und Federn domestiziert: das Huhn in China, meh­rere Enten- und Gänsearten in verschiedenen Teilen Eurasiens, Truthähne in Mesoamerika, das Perlhuhn in Afrika und die Moschusente in Südamerika. Wöl­fe wurden in Eurasien und Nordamerika domestiziert und zu Hunden gezüchtet, die dem Menschen als Jagd­gefährten, Wächter, Schoßtiere und in einigen Gesell­schaften auch als Nahrung dienen. Nagetiere und ande­re Kleinsäuger, die als Schlachttiere domestiziert wur­den, waren unter anderem das Kaninchen in Europa, das Meerschweinchen in den Anden, eine Riesenratte in Westafrika und möglicherweise die Baumratte, ein Nagetier, in der Karibik. Frettchen wurden in Europa für die Kaninchenjagd abgerichtet, Katzen in Nordafri­ka und im Nahen Osten zur Bekämpfung schädlicher Nagetiere. Erst im 19. und 20. Jahrhundert domestiziert wurden Fuchs, Nerz und Chinchilla als Pelzlieferanten sowie Hamster als drollige Spielgefährten. Sogar eini­ge Insekten wurden domestiziert, insbesondere die Ho­nigbiene in Eurasien und der Seidenspinner in China.

Viele der genannten Kleintiere waren mithin Spender von Nahrung, Kleidung oder Wärme. Keins ließ sich je­doch vor Pflüge oder Wagen spannen oder von Reitern besteigen, keins mit Ausnahme des Hundes zog Schlit­ten oder diente als Kampfmaschine zur Kriegführung, und keins hatte als Nahrungslieferant auch nur annä­hernd die Bedeutung unserer großen Haustiere. Deshalb wollen wir uns im weiteren auf die großen domestizier­ten Säugetiere beschränken.

Die Bedeutung domestizierter Säugetiere fußt auf er­staunlich wenigen Arten großer landbewohnender Pflanzenfresser. (Nur landbewohnende Säugetiere wur­den domestiziert, was auf die naheliegende Tatsache zu­rückzuführen ist, daß Wasserbewohner vor Erfindung moderner Großaquarien schwer zu halten und zu züch­ten waren.) Definiert man »groß« als »schwerer als 45 Kilo«, so wurden vor Beginn des 20. Jahrhunderts nur 14 solcher Arten domestiziert (siehe Tabelle 8.1). Von diesen »klassischen 14« gewannen neun (die »übrigen Neun« aus Tabelle 8.1) nur in begrenzten Regionen der Welt Bedeutung als Haustiere: Dromedar, zweihöcke­riges Kamel, Lama/Alpaka (verschiedene Rassen mit dem gleichen Ahnen), Esel, Rentier, Wasserbüffel, Jak, Banteng und Gaur. Nur fünf Arten gelangten auf der ganzen Welt zu überragender Bedeutung. Bei diesen »großen Fünf« der domestizierten Säugetiere handelt es sich um Kuh, Schaf, Ziege, Schwein und Pferd. Auf den ersten Blick mögen Sie bei dieser Aufzählung ekla­tante Auslassungen feststellen. Warum fehlt zum Bei­spiel der Afrikanische Elefant, mit dem Hannibal die Alpen überquerte? Und wo bleibt der Asiatische Ele­fant, der noch heute in Südostasien als Arbeitstier ein­gesetzt wird? Nein, beide wurden nicht vergessen, und damit sind wir auch schon bei einer wichtigen Unter­scheidung. Elefanten wurden zwar gezähmt, aber nicht domestiziert. Hannibals Elefanten von damals waren ebenso wie die Arbeitselefanten von heute lediglich wilde Elefanten, die eingefangen und gezähmt wurden. Sie wurden nicht in Gefangenschaft gezüchtet. Demgegenüber besagt die Definition von Domestikation, daß ein Tier vom Menschen gehalten und durch Zuchtwahl im Hinblick auf seine Nützlichkeit verändert und sei­ne Fortpflanzung und Futterversorgung von Menschen bestimmt und geregelt wird.

Mit anderen Worten geht es bei der Domestikation darum, Wildtiere in etwas anderes, für den Menschen Nützlicheres zu verwandeln. Domestizierte Tiere unter­scheiden sich in verschiedener Hinsicht von ihren wildle­benden Vorfahren, wobei die Unterschiede auf zweierlei Weise hervorgerufen werden: zum einen dadurch, daß der Mensch diejenigen Einzeltiere einer Art auswählt, die für ihn nützlicher sind als andere der gleichen Art, und zum anderen durch die ganz von selbst erfolgenden Anpassungsreaktionen der Tiere auf die veränderten Be­dingungen der natürlichen Selektion in einer von Men­schen beherrschten Umwelt im Vergleich zu ihrer natür­lichen Umwelt. In Kapitel 6 wurde gezeigt, daß dies für die Pflanzendomestikation ganz genauso gilt.

Domestizierte Tiere wiesen vielfältige Unterschiede zu ihren wildlebenden Vorfahren auf: Bei manchen Ar­ten änderte sich der Wuchs: Kühe, Schweine und Scha­fe wurden im Zuge der Domestikation kleiner, Meer­schweinchen hingegen größer. Bei Schafen und Alpakas richtete sich die Auslese auf möglichst viel Wolle, bei Kü­hen auf eine große Milchmenge. Einige Haustiere zeich­nen sich durch ein kleineres Hirnvolumen und schlech­ter entwickelte Sinnesorgane im Vergleich zu ihren wild­lebenden Vorfahren aus. Der Grund ist wohl, daß die größeren Gehirne und schärferen Sinne, die einst erfor­derlich waren, um natürlichen Feinden zu entkommen, in der Gefangenschaft überflüssig sind.


Die großen Fünf

  1. Schaf. Wildlebender Vorfahre: asiatisches Mufflon aus West- und Zentralasien. Heute weltweite Verbreitung.
  2. Ziege. Wildlebender Vorfahre: Bezoar-Ziege aus Westasien. Heute weltweite Verbreitung.
  3. Kuh, Rind. Wildlebender Vorfahre: der inzwischen ausge­storbene, in Eurasien und Nordafrika beheimatete Auerochse. Heute weltweite Verbreitung.
  4. Schwein. Wildlebender Vorfahre: Wildschwein, beheimatet in Eurasien und Nordafrika. Heute weltweite Verbreitung. Das Schwein ist in Wirklichkeit ein Allesfresser (verzehrt regelmä­ßig tierische und pflanzliche Kost), während die anderen 13 der »klassischen 14 Arten« Pflanzenfresser im strengeren Sinne sind.
  5. Pferd. Wildlebender Vorfahre: inzwischen ausgestorbene Wildpferde aus Südrußland; eine andere Unterart überlebte in der Wildnis bis in die Neuzeit: das Prschewalskipferd in derMon­golei. Heute weltweite Verbreitung.

 

Die übrigen Neun

  1. Dromedar (einhöckeriges Kamel). Wildlebender Vorfahre: ausgestorben, lebte früher in Arabien und angrenzenden Re­gionen. Verbreitungsgebiet immer noch weitgehend auf Arabi­en und Nordafrika beschränkt; ausgewilderte Dromedare sind in Australien anzutreffen.
  2. Zweihöckeriges Kamel. Wildlebender Vorfahre: ausgestor­ben, lebte früher in Zentralasien. Verbreitungsgebiet immer noch weitgehend auf Zentralasien beschränkt.
  3. Lama und Alpaka. Wahrscheinlich handelt es sich um zwei stark differenzierte Rassen der gleichen Art und nicht um zwei verschiedene Arten. Wildlebender Vorfahre: das Guanako aus den Anden. Verbreitungsgebiet beschränkt sich immer noch weitgehend auf die Anden; aber auch Haltung und Zucht in Nor­damerika als Packtier.
  4. Esel. Wildlebender Vorfahre: Afrikanischer Wildesel in Nord­afrika und früher womöglich auch im benachbarten Vorderasien. Wurde ursprünglich nur in Nordafrika und im westlichen Eura­sien als Haustier genutzt, in jüngerer Vergangenheit jedoch auch in anderen Regionen.
  5. Rentier. Wildlebender Vorfahre: Rentier im nördlichen Eu­rasien. Verbreitungsgebiet beschränkt sich immer noch weitge­hend auf diese Region; einige werden jedoch auch in Alaska als Haustiere genutzt.
  6. Wasserbüffel. Wildlebender Vorfahre ist in Südostasien be­heimatet. Wird immer noch vor allem in dieser Region als Haus­tier genutzt, aber auch in Brasilien. Einige entlaufene Wasserbüf­fel leben wieder in der Wildnis, insbesondere in Australien.
  7. Jak. Wildlebender Vorfahre: Wildjak im Himalaja und im angrenzenden Hochland von Tibet. Verbreitungsgebiet als Haus­tier beschränkt sich immer noch auf diese Region.
  8. Bali-Rind. Wildlebender Vorfahre: Banteng (ein Verwand­ter des Auerochsen) in Südostasien. Verbreitungsgebiet als Haus­tier beschränkt sich immer noch auf diese Region.
  9. Gaur. Wildlebender Vorfahre: Dschungelrind (ein weite­rer Verwandter des Auerochsen) in Indien und Burma. Verbrei­tungsgebiet als Haustier beschränkt sich immer noch auf diese-Region.

Tabelle 8.1 Die klassischen 14 Arten großer pflanzenfressender domestizierter Säugetiere

Eine lebhafte Vorstellung von den Veränderungen, die sich im Zuge der Domestikation einstellten, vermittelt ein Vergleich von Wölfen, den Wildvorfahren unserer Hunde, mit den vielen verschiedenen Hunde rassen, die wir heute kennen. Einige Hunde sind erheblich größer als Wölfe (deutsche Dogge), andere viel kleiner (Pekine­se). Einige sind von schlankerer Statur und für Rennen geradezu prädestiniert (Windhunde), andere kurzbei­nig und geborene Nachzügler (Dackel). Haarform und -farbe variieren kolossal, und auch gänzlich unbehaar­te Rassen sind zu finden. Polynesier und Azteken züch­teten Hunderassen, die speziell als Schlachtvieh dien­ten. Vergleicht man einen Dackel mit einem Wolf, wür­de man ohne Vorwissen sicher keine Verwandtschaft vermuten.

Die wildlebenden Vorfahren der »klassischen 14« wa­ren geographisch sehr ungleichmäßig verteilt. Südame­rika hatte nur einen solchen Ahnen, von dem Lama und Alpaka abstammen, vorzuweisen. Nordamerika, Au­stralien und Afrika südlich der Sahara waren mit kei­nem einzigen gesegnet. Das Fehlen örtlich domestizier­ter Haustiere in Afrika südlich der Sahara überrascht um so mehr, als die dortige Großtierwelt jedes Jahr Millionen von Touristen nach Afrika lockt. Dagegen beschränkte sich das Verbreitungsgebiet der Wildvor­fahren von 13 der »klassischen 14« (einschließlich der »großen Fünf«) auf Eurasien. (Hier und an verschiede­nen anderen Stellen dieses Buches ist bei Verwendung der Bezeichnung »Eurasien« Nordafrika mitgemeint, da diese Region biogeographisch und auch kulturell in vielerlei Hinsicht eher Eurasien als Afrika südlich der Sahara zuzuordnen ist). Natürlich kamen nicht alle 13 dieser wildlebenden Vorfahren überall in Eurasien vor. Keine Region besaß alle 13, und einige Arten waren so­gar aufrecht kleine Gebiete beschränkt, wie beispiels­weise der Jak auf Tibet und angrenzende Hochlandre­gionen. In vielen Teilen Eurasiens waren jedoch relativ viele der 13 Arten anzutreffen. So kamen im Gebiet des Fruchtbaren Halbmonds sieben wildlebende Vorfahren domestizierter Säugetiere vor.

Diese höchst ungleiche Verteilung der Ahnen unse­rer späteren Haustiere auf die verschiedenen Kontinen­te trug in bedeutender Weise dazu bei, daß die Eurasi­er und nicht die Völker anderer Kontinente den Weg zur modernen Zivilisation als erste fanden. Wie erklärt sich nun aber diese Konzentration der »klassischen 14« auf Eurasien?

Einer der Gründe ist simpel. Eurasien beherbergt die größte Zahl wilder landbewohnender Säugetierarten, ob Vorfahren von Haustieren oder nicht. Wir wollen unse­ren »Domestikationskandidaten« einmal definieren als landbewohnenden Pflanzen- oder (nicht in erster Li­nie fleischfressenden) Allesfresser, der im Durchschnitt mindestens 45 Kilo auf die Waage bringt. Aus Tabelle 8.2 geht klar hervor, daß die meisten Arten, die diesen Kriterien genügen, 72 an der Zahl, in Eurasien zu fin­den sind – wie es auch bei vielen anderen Gruppen von Pflanzen und Tieren der Fall ist. Das liegt daran, daß Eurasien die größte zusammenhängende Landmasse der Welt darstellt und sehr vielfältige Lebensräume bietet, von ausgedehnten tropischen Regenwäldern über Wäl­der in gemäßigten Klimazonen, Wüsten und Sümpfen bis hin zu riesigen Tundren.

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Unter »Kandidat« wird hier ein wildlebendes Landsäugetier (Pflanzen- oder Allesfresser) mit einem durchschnittlichen Ge­wicht von mindestens 45 Kilo verstanden.

Tabelle 8.2 Domestikationskandidaten

In Afrika südlich der Sa­hara finden wir mit 51 Arten deutlich weniger Kandida­ten, was wiederum der Situation bei den meisten ande­ren Gruppen von Pflanzen und Tieren entspricht – Afri­ka ist eben kleiner und ökologisch weniger vielfältig als Eurasien. So sind Afrikas Regenwälder nicht so groß wie die Südostasiens; außerdem sind jenseits des 37. Breiten­grades überhaupt keine Lebensräume mit gemäßigten klimatischen Verhältnissen anzutreffen. In Nord- und Südamerika dürfte es, wie bereits in Kapitel 1 erörtert, früher einmal fast so viele Domestikationskandidaten gegeben haben wie in Afrika, doch die meisten großen Säugetiere der Neuen Welt (einschließlich der Pferde, der meisten Kamele und anderer Arten, die, hätten sie überlebt, womöglich domestiziert worden wären) star­ben vor etwa 13 000 Jahren aus. Australien, der kleinste und abgelegenste Kontinent, war seit jeher mit weniger Arten großer Säugetiere als Eurasien, Afrika oder Nord- und Südamerika ausgestattet. Wie in Amerika starben die wenigen australischen Kandidaten, mit Ausnahme des roten Riesenkänguruhs, zur Zeit der ersten Besied­lung des Kontinents durch den Menschen allesamt aus.

Ein Teil der Erklärung dafür, daß die meisten großen Säugetiere in Eurasien domestiziert wurden, lautet so­mit, daß auf diesem Kontinent von vornherein die mei­sten in Frage kommenden Arten beheimatet waren und von diesen in den letzten 40 000 Jahren weniger ausstar­ben als anderswo. Doch die Zahlen in Tabelle 8.2 sagen uns auch, daß es noch andere Gründe geben muß. Ne­ben der absoluten Zahl ist nämlich auch der Prozentsatz tatsächlich domestizierter Kandidaten in Eurasien mit 18 Prozent am höchsten und in Afrika südlich der Sa­hara mit 0 Prozent am geringsten (von den 51 dortigen Kandidaten wurde kein einziger domestiziert!). Beson­ders überraschend ist die große Zahl afrikanischer und amerikanischer Säugetiere, die nie domestiziert wur­den, obgleich ihre nahen Verwandten beziehungswei­se Pendants in Eurasien sehr wohl zu Haustieren wur­den. Woran lag es, daß die Pferde Eurasiens domestiziert wurden, nicht aber die Zebras der afrikanischen Step­pen? Warum Eurasiens Schweine, aber nicht die ameri­kanischen Nabelschweine oder die drei echten afrikani­schen Wildschweinarten? Warum Eurasiens fünf Wild­rinder (Auerochse, Wasserbüffel, Jak, Gaur und Banteng), aber nicht der afrikanische Büffel oder der amerikani­sche Bison? Warum das asiatische Mufflon (der Vorfah­re des Hausschafs), aber nicht das nordamerikanische Dickhornschaf?

Hatten etwa die Völker Afrikas, Nord- und Südame­rikas und Australiens trotz ihrer kolossalen sonstigen Vielfalt bestimmte kulturelle Merkmale gemein, die sie daran hinderten, Säugetiere zu domestizieren? Lag es beispielsweise in Afrika an dem vorhandenen Überfluß an Großwild zum Jagen, daß die Menschen sich nicht die Mühe machen wollten, Haustiere zu hüten?

Die Antwort auf diese Frage lautet eindeutig: Nein! Fünf Fakten sprechen dagegen: die schnelle Übernah­me europäischer Haustiere durch nichteurasische Völker, die universelle menschliche Vorliebe für die Gesellschaft von Haustieren, die rasche Domestikation der »klassi­schen 14«, die wiederholte unabhängige Domestikation einiger der »klassischen 14« und der relativ bescheidene Erfolg neuzeitlicher Domestikationsbemühungen.

Als die »großen fünf« eurasischen Haustiere nach Afri­ka südlich der Sahara gelangten, wurden sie von vielen afrikanischen Völkern übernommen, sofern die Bedin­gungen halbwegs geeignet waren. Die »frischgebacke­nen« afrikanischen Viehzüchter errangen sofort einen riesigen Vorteil gegenüber Jägern und Sammlern, die binnen kurzer Zeit von ihnen verdrängt wurden. Ins­besondere Bantu-Bauern breiteten sich, nachdem sie in den Besitz von Rindern und Schafen gelangt waren, von ihrer Heimat in Westafrika aus und überrannten in­nerhalb kurzer Zeit den größten Teil des übrigen Afri­ka südlich der Sahara, wo bis dahin Jäger und Sammler gelebt hatten. Auch ohne Anbaupflanzen verdrängten Khoisan-Völker, seit rund 2000 Jahren im Besitz von Rindern und Schafen, die Jäger- und Sammlerbevölke­rung in weiten Teilen des südlichen Afrika. Die Ankunft des domestizierten Pferdes in Westafrika führte zu einer Revolution der Kriegführung in dieser Region, verbun­den mit der Entstehung einer Reihe von Königreichen, die sich auf Reitertruppen stützten. Der einzige Faktor, der die weitere Ausbreitung des Pferdes über Westafri­ka hinaus verhinderte, war die von Tsetsefliegen über­tragene Schlafkrankheit.

Nach dem gleichen Schema verlief die Entwicklung auch in anderen Teilen der Welt, wann immer Völker, in deren Lebensräumen keine zur Domestikation geeig­neten Tierarten heimisch waren, plötzlich in den Besitz eurasischer Haustiere gelangen konnten. So wurden eu­ropäische Pferde von Indianern in Nord- und Südame­rika innerhalb einer Generation, nachdem Pferde von europäischen Siedlungen entlaufen waren, bereitwillig übernommen. Die nordamerikanischen Prärieindianer, die sich bis zum 19. Jahrhundert einen Namen als berit­tene Krieger und Büffeljäger gemacht hatten, gelangten erst Ende des 17. Jahrhunderts in den Besitz von Pfer­den. Die Navajo-Indianer, die heute für ihre herrlichen gewebten Wolldecken berühmt sind, erwarben erst von den Spaniern Schafe, die ihre Kultur in ähnlicher Weise transformierten wie Pferde die Kultur der Prärieindia­ner. Binnen eines Jahrzehnts nach der Besiedlung Tas­maniens durch Europäer, in deren Gefolge auch Hunde auf die Insel kamen, begannen die Tasmanier, die nie zuvor einen Hund erblickt hatten, in großem Stil Jagd­hunde zu züchten. Daran wird erkennbar, daß bei den Tausenden von kulturell sehr unterschiedlichen Völkern Australiens, Nord- und Südamerikas und Afrikas keine kulturellen Tabus mit universeller Gültigkeit der Dome­stikation von Tieren im Weg standen.

Wären einige lokale Wildtierarten dieser Kontinente domestizierbar gewesen, so hätte es sicher einige austra­lische, amerikanische und afrikanische Völker gegeben, die sich diesen Umstand erfolgreich zunutze gemacht hätten, ganz so, wie sie sich später Vorteile durch die prompte Übernahme eurasischer Haustiere verschafften. Man denke beispielsweise an all die Völker Afrikas süd­lich der Sahara, die sich ihren Lebensraum mit wilden Zebras und Büffeln teilten. Warum gab es nicht wenig­stens einen afrikanischen Jäger- und Sammlerstamm, der diese Arten erfolgreich domestizierte und dadurch die Überlegenheit über andere afrikanische Völker er­rang, noch bevor Pferde und Rinder aus Eurasien ein­trafen? Dies alles deutet darauf hin, daß die Gründe für das weitgehende Ausbleiben von Domestikationen au­ßerhalb Eurasiens mit den örtlichen Tierarten statt mit den örtlichen Völkern zusammenhingen.

Ein zweiter Indizientyp, der zu dem gleichen Schluß führt, bezieht sich auf Haustiere als Gefährten des Men­schen. Das Zähmen und Halten von Wildtieren stellt eine Vorstufe der Domestikation dar. Haus- und Schoßtier­haltung ist jedoch von praktisch allen menschlichen Ge­sellschaften bekannt. Die Vielfalt der zu diesem Zweck gezähmten Wildtiere übersteigt die Zahl der am Ende domestizierten Arten bei weitem und umfaßt auch eini­ge, auf die man nicht so schnell kommen würde.

In den Dörfern in Neuguinea, die ich regelmäßig bei meinen Forschungen besuche, sehe ich oft Menschen mit Känguruhs, Opossums und Vögeln der verschie­densten Arten, von Schnäppern bis hin zu Fischadlern. Die meisten von ihnen wandern früher oder später in den Kochtopf, aber einige dienen auch ausschließlich zur Erbauung ihrer Besitzer. Die Neuguineer fangen so­gar regelmäßig Kasuarenjunge (den Straußen ähnelnde flugunfähige Vögel) und ziehen sie auf, um sie, wenn die Zeit gekommen ist, als Delikatesse zu verspeisen – und das, obwohl ausgewachsene Kasuare auch in Gefangen­schaft äußerst gefährlich sind und schon dem einen oder anderen Dorfbewohner den Bauch aufgeschlitzt haben. Einige asiatische Völker zähmen Adler für die Jagd, ob­gleich es immer wieder vorkommt, daß die Jäger selbst Opfer dieser mächtigen Vögel werden. Geparden wur­den von den alten Ägyptern und Assyrern ebenso wie in jüngerer Vergangenheit, von Indianern für die Jagd abgerichtet. Aus alten ägyptischen Malereien geht her­vor, daß auch Huftiere wie Gazellen und Kuhantilopen sowie Vögel wie zum Beispiel Kraniche (nicht sehr über­raschend), Giraffen (schon überraschender, da manch­mal recht gefährlich) und Hyänen (am überraschend­sten) gezähmt wurden. Afrikanische Elefanten wurden zu Zeiten Roms trotz ihrer unübersehbaren Gefährlich­keit gezähmt, während Asiatische Elefanten noch heute als Arbeitselefanten abgerichtet werden. Das vielleicht erstaunlichste Haustier ist der Braunbär (gehört zur gleichen Art wie der amerikanische Grizzly), der vom Volk der Ainu in Japan regelmäßig als Jungtier gefangen, gezähmt und aufgezogen wurde, um schließlich in einer rituellen Zeremonie getötet und verspeist zu werden.

Zahlreiche Wildtierarten erreichten, mit anderen Worten, das erste Stadium auf dem Weg zur Domestikation, doch nur wenige wurden am Ende tatsächlich zu Haus­tieren. Vor über einem Jahrhundert beschrieb der briti­sche Gelehrte Francis Galton diese Diskrepanz sehr tref­fend wie folgt: »Wie es scheint, hatte jedes Wildtier seine Chance, domestiziert zu werden, wobei eine kleine Zahl … vor langer Zeit domestiziert wurde, der große Rest de­rer aber, bei denen es manchmal nur an einem winzigen Detail haperte, zu ewigem Wildsein bestimmt ist.«

Die Zeitpunkte der Domestikation liefern eine dritte Indizienkette zur Bestätigung von Galtons Sicht, daß frühzeitliche Hirtenvölker innerhalb kurzer Zeit sämt­liche dafür geeigneten Großsäugetiere domestizierten. Alle Arten, für die der Zeitpunkt ihrer Domestikati­on aufgrund archäologischer Funde feststeht, wurden etwa zwischen 8000 und 2500 v. Chr. domestiziert, also innerhalb der ersten Jahrtausende seit Entstehung seß­hafter bäuerlicher Gesellschaften nach dem Ende der­letzten Eiszeit. Wie Tabelle 8.3 im Überblick zeigt, be­gann die Ära der Domestikation großer Säugetiere mit dem Schaf, der Ziege und dem Schwein und endete mit dem Kamel. Seit 2500 v. Chr. kamen keine bedeutenden weiteren Arten hinzu.

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Für die anderen vier domestizierten Großsäugetiere – Rentier, Jak, Gaur und Banteng – sind die Zeitpunkte der Domestikation bisher nicht überzeugend belegt. Die Angaben in der Tabelle be­ziehen sich nur auf den jeweils ältesten belegten Zeitpunkt; tat­sächlich kann die Domestikation schon früher oder an einem an­deren Ort stattgefunden haben.

Tabelle 8.3 Ungefähre Zeitpunkte der ersten belegten Säuge­tierdomestikationen

Es stimmt natürlich, daß einige Arten von Kleinsäu­getieren erstmals lange nach 2500 v. Chr. domestiziert wurden. So begann die Kaninchenhaltung erst im Mit­telalter, Mäuse und Ratten wurden erst im 20. Jahrhun­dert als Versuchstiere für die Laborforschung domesti­ziert und Hamster erst in den 30er Jahren unseres Jahr­hunderts als Käfigtiere. Daß dieser Prozeß andauert, ist nicht erstaunlich, da es Tausende von Kandidaten gibt, deren Nutzen für traditionelle Gesellschaften zu gering war, um den Aufwand der Zucht zu rechtfertigen. Die Domestikation der großen Säugetiere war hingegen vor 4500 Jahren so gut wie abgeschlossen. Bis zu diesem Zeitpunkt müssen praktisch alle der 148 großen Säuge­tierarten der Welt viele Male getestet worden sein, mit dem Ergebnis, daß nur wenige die Prüfung bestanden und keine geeigneten Kandidaten mehr übrigblieben.

Einen vierten Indizientyp, der dafür spricht, daß eini­ge Säugetierarten weit besser domestizierbar sind als andere, liefern unabhängige Domestikationen der glei­chen Art. Molekularbiologische Auswertungen des An­teils der sogenannten Mitochondrien-DNS bestätigten kürzlich, was schon lange vermutet worden war, daß nämlich indische Buckelrinder und europäische buckellose Rinder die Nachfahren zweier getrennter Po­pulationen von Wildrindern sind, deren gemeinsamer Stammbaum sich vor Hunderttausenden von Jahren gabelte. Demnach domestizierten Inder die örtliche in­dische Unterart, vorderasiatische Völker die vordera­siatische Unterart und Nordafrikaner womöglich die nordafrikanische Unterart des Auerochsen.

Ähnlich wurden aus Wölfen in Amerika und wahr­scheinlich auch in mehreren Regionen Eurasiens ein­schließlich Chinas und Vorderasiens unabhängig von­einander Hunde gezüchtet. Die Hausschweinarten, die wir heute kennen, sind das Ergebnis unabhängiger Do­mestikationen in China, Vorderasien und vielleicht noch weiteren Gebieten. Diese Beispiele unterstreichen ein mal mehr, daß eine kleine Zahl geeigneter Säugetierarten die Aufmerksamkeit zahlreicher Völker in den verschiedensten Regionen erregte.

Neuzeitliche Mißerfolge bei Domestikationsbemü­hungen sind der letzte Typ von Indizien, die belegen, daß die gescheiterte Domestikation des großen Rests der prinzipiell in Frage kommenden Arten in den Unzuläng­lichkeiten dieser Arten, nicht aber in denen bestimmter frühzeitlicher Völker begründet ist. Die heutigen Euro­päer können unter den Bewohnern der Erde auf eine der längsten Traditionen der Domestikation von Tieren zu­rückblicken. Der Anfang wurde vor rund 10 000 Jahren in Vorderasien gemacht. Seit dem 15. Jahrhundert brei­teten sich Europäer auf der ganzen Welt aus und trafen dabei auf viele wilde Säugetierarten, die sie aus Europa nicht kannten. Europäische Siedler wie jene, denen ich in Neuguinea immer wieder mit zahmen Känguruhs und Opossums begegne, zähmten – genau wie die Ein­heimischen – eine Vielzahl örtlicher Säugetiere. Euro­päische Viehzüchter und Ackerbauern, die auf andere Kontinente auswanderten, unternahmen dort ebenfalls ernsthafte Anstrengungen zur Domestikation örtlicher Tierarten. Im 19. und 20. Jahrhundert wurden mit min­destens sechs großen Säugetieren – Elenantilope, Hirsch, Elch, Moschusochse, Zebra und amerikanischer Bison – großangelegte Domestikationsversuche unter Beteili­gung wissenschaftlicher Experten unternommen. So war die Elenantilope, die größte afrikanische Antilopenart, Objekt systematischer Selektion nach Fleischqualität und Milchquantität; durchgeführt wurden die Bemühun­gen im zoologischen Garten von Askanija-Nova in der Ukraine, aber auch in England, Kenia, Simbabwe und Südafrika. Eine Versuchsfarm für Hirsche wurde unter der Leitung des Rowett-Forschungsinstituts im schot­tischen Aberdeen betrieben, eine für Elche im Natio­nalpark Petschero-Ilytsch in Rußland. Der Erfolg dieser Bemühungen war jedoch äußerst begrenzt. Zwar findet man in amerikanischen Supermärkten zuweilen Büffel­fleisch, und in Schweden und Rußland werden hier und da Elche geritten, gemolken und vor Schlitten gespannt. Der wirtschaftliche Nutzen dieser Anstrengungen war jedoch nicht überzeugend genug, um eine größere Zahl von Viehzüchtern zur Nachahmung zu veranlassen. Be­sonders verblüffend ist, daß die jüngeren Bemühungen zur Domestikation der Elenantilope in Afrika selbst, wo sie durch ihre Krankheitsresistenz und Anpassung an das örtliche Klima einen großen Vorteil gegenüber ein­geführtem eurasischem Vieh besitzt, das viel eher Op­fer afrikanischer Krankheiten wird, nicht zum Erfolg geführt haben.

Somit gelang es weder einheimischen Viehzüchtern, die über Tausende von Jahren Seite an Seite mit den verschiedensten Domestikationskandidaten lebten, noch modernen Genetikern, weitere große Säugetiere neben den »klassischen 14«, die vor mindestens 4500 Jahren domestiziert wurden, in nützliche Haustiere zu verwan­deln. Dabei könnten heutige Wissenschaftler zweifellos, wenn sie nur wollten, bei den meisten Arten den Teil der Definition von Domestikation erfüllen, bei dem es um die Regelung der Fortpflanzung und Futterversorgung geht. So sind die letzten überlebenden Kalifornischen Kondore in den Zoos von San Diego und Los Angeles heute einer weitaus strengeren Fortpflanzungskontrolle unterworfen als irgendein domestiziertes Haustier. Je­der einzelne Kondor wurde genetisch identifiziert, und mit Hilfe eines Computerprogramms wird entschieden, welches Männchen sich mit welchem Weibchen paaren darf – alles um der Erreichung bestimmter, vom Men­schen definierter Ziele willen (in diesem Fall: Maximie­rung der genetischen Vielfalt zwecks Erhaltung der be­drohten Art). Ähnliche Zuchtprogramme werden von Zoos mit vielen anderen bedrohten Tierarten durchge­führt, etwa mit Gorillas und Nashörnern. Bei der rigo­rosen Selektion des Kalifornischen Kondors besteht je­doch keine Aussicht auf ein wirtschaftlich nützliches Produkt. Das gleiche gilt für Projekte mit Nashörnern,

obwohl diese über drei Tonnen Fleisch zu bieten hätten. Wie wir sehen werden, sind Nashörner (und die meisten anderen großen Säugetiere) mit fatalen Nachteilen be­haftet, die ihrer Domestikation im Wege stehen.

Alles in allem bestanden von den 148 großen landbe­wohnenden Pflanzenfressern – den Domestikationskandidaten – nur 14 den Test. Woran scheiterten die übrigen 134 Arten? Und worauf spielte Francis Galton an, als er schrieb, diese übrigen Arten seien »zu ewigem Wildsein bestimmt«?

Die Antwort ergibt sich aus dem Anna-Karenina-Prin­zip. Zur erfolgreichen Domestikation bedarf eine Art vieler verschiedener Merkmale. Mangelt es ihr an nur einem einzigen, sind alle Domestikations bemühungen zum Scheitern verurteilt, ganz ähnlich wie beim Zim­mern einer glücklichen Ehe. Wenn wir einmal für das Gespann Mensch – Zebra und andere Fehlpaarungen den Eheberater spielen, erkennen wir mindestens sechs Arten von Gründen, an denen die glückliche Ehe scheiterte.

Ernährung. Jedesmal, wenn ein Tier eine Pflanze oder ein anderes Tier verspeist, wird Biomasse umgewandelt – mit einem Wirkungsgrad von unter 100 Prozent (typi­scherweise etwa 10 Prozent). Das heißt, es werden rund 10 000 Pfund Mais benötigt, um eine 1000 Pfund schwe­re Kuh auf die Beine zu stellen. Will man dagegen einen 1000 Pfund schweren Fleischfresser, so muß man ihn mit 10 000 Pfund Pflanzenfresserfleisch füttern, wofür wiederum 100 000 Pfund Mais benötigt werden. Selbst unter Pflanzenfressern und Allesfressern sind aber viele Arten, wie beispielsweise Koalas, zu wählerisch in dem, was sie als Kost akzeptieren, als daß sie sich für die Hal­tung als Schlachtvieh empfehlen würden.

Aufgrund dieser ungünstigen Relation wurde noch nie ein fleischfressendes Säugetier als Nahrungslieferant domestiziert. (Nein, der Grund liegt nicht in zu zähem oder zu fadem Fleisch: Wir essen ständig Fischarten der fleischfressenden Sorte, und ich kann persönlich bezeu­gen, daß auch Löwenfleisch durchaus schmackhaft ist.) Einer Ausnahme am nächsten kommt der Hund. Ur­sprünglich als Kamerad und Jagdgefährte domestiziert, wurden im aztekischen Mexiko, in Polynesien und im alten China auch Rassen speziell für Schlachtzwecke ge­züchtet. Der regelmäßige Verzehr von Hundefleisch war jedoch quasi der letzte Ausweg in Gesellschaften, in de­nen chronischer Fleischmangel herrschte: Die Azteken besaßen überhaupt kein anderes Haus(säuge)tier, und Polynesier und alte Chinesen kannten nur Schwein und Hund. In Kulturen, die mit domestizierten pflanzenfres­senden Säugetieren gesegnet waren, wurden dagegen in Hunden nie Fleischlieferanten gesehen, es sei denn, man verspeiste sie als seltene Delikatesse (wie noch heute in manchen Teilen Südostasiens). Im übrigen sind Hun­de keine reinen Fleisch-, sondern Allesfresser. Falls Sie von Ihrem geliebten Hündchen etwas anderes geglaubt haben, empfehle ich einen Blick auf die Zutatenliste Ih­rer Hundefuttertüte. Die Hunde der Azteken und Po­lynesier wurden recht erfolgreich mit Gemüse und Ab­fällen gemästet.

Wachstumstempo. Damit sich die Haltung lohnt, dür­fen Haustiere nicht zu langsam wachsen. Damit kom­men Gorillas und Elefanten schon mal nicht in Frage, obwohl beide Vegetarier sind, sich bewundernswert be­scheiden, was ihre Kost betrifft, und eine stattliche Men­ge Fleisch liefern würden. Welcher Gorillazüchter in spe möchte aber 15 Jahre warten, bis seine Herde endlich voll ausgewachsen ist? Wenn in Asien heute Arbeitsele­fanten benötigt werden, ist es viel wirtschaftlicher, wil­de Elefanten zu fangen und zu zähmen.

Fortpflanzungsprobleme in Gefangenschaft. Menschen haben es nicht gern, wenn ihnen beim Geschlechtsver­kehr zugeschaut wird; einigen potentiell nützlichen Tier­arten geht es nicht anders. An diesem Problem scheiterte die Domestikation des Geparden, obwohl Tausende von Jahren starkes Interesse daran bestand, den schnellsten aller Landbewohner zu züchten.

Wie bereits erwähnt, wurden gezähmte Geparden von den alten Ägyptern und Assyrern ebenso wie von neu­zeitlichen Indern als Jagdgefährten, die Hunden un­endlich überlegen waren, hoch geschätzt. Ein indischer Mogul soll in seinen Stallungen sage und schreibe tau­send Geparden gehalten haben. Doch trotz der hohen Investitionen vieler reicher Herrscher waren ihre Gepar­den immer nur gezähmte, wild gefangene Tiere. Versu­che, Geparden in Gefangenschaft zu züchten, scheiter­ten kläglich. Erst 1960 konnten Biologen in einem Zoo erstmals die Geburt eines Gepardenjungen feiern. In der Wildnis jagen mehrere Geparden, meist Brüder, ein Weibchen mehrere Tage lang; diese derbe Liebeswer­bung, bei der große Entfernungen zurückgelegt werden, scheint erst den Eisprung auszulösen beziehungsweise die Weibchen sexuell empfänglich zu machen. In Kä­figen gehalten, verweigern Geparden das umständliche Werberitual in aller Regel.

An einem ähnlichen Problem scheiterten Bemühun­gen, Vikunjas zu züchten, in den Anden lebende Wild­kamele, aus deren Haarkleid die feinste und leichteste tierische Wolle, die es gibt, gewonnen werden kann. Die alten Inkas trieben wildlebende Vikunjas, um der Wol­le habhaft zu werden, in Korrale, schoren sie und lie­ßen sie wieder frei. Heutige Interessenten müssen, um an die kostbare Wolle zu gelangen, entweder die glei­che Methode anwenden oder wildlebende Vikunjas tö­ten. Trotz starker Anreize scheiterten alle Versuche, Vi­kunjas als Woll-Lieferanten zu züchten. Ein Grund war das ausführliche Werberitual vor der Paarung, das sich in Gefangenschaft verbietet. Weitere Gründe waren das äußerst intolerante Verhalten männlicher Vikunjas ge­genüber Geschlechtsgenossen sowie ihr Anspruch auf ganzjährige getrennte Futter- und Schlafreviere.

Unberechenbares Naturell. Ab einer bestimmten Kör­pergröße kann natürlich fast jede Säugetierart für Men­schen zur tödlichen Gefahr werden. Menschen wurden schon von Schweinen, Pferden, Kamelen und Rindern getötet. Einige Arten sind jedoch durch Veranlagung sehr viel unberechenbarer und gefährlicher als andere. Viele ansonsten ideal erscheinende Domestikationskan­didaten disqualifizierten sich aus diesem Grund.

Ein Beispiel ist der Grizzly. Bärenfleisch ist eine kost­spielige Delikatesse, Grizzlys werden bis zu 800 kg schwer, ernähren sich hauptsächlich von allerlei Pflanzen (ob­wohl sie auch sehr geschickte Jäger sind), verwerten sogar Abfälle des Menschen (was zum Beispiel im Yellowstone-Nationalpark große Probleme bereitet) und wachsen rela­tiv schnell. Würden sie sich in Gefangenschaft nur besser betragen, gäben Grizzlys fabelhafte Fleischlieferanten ab. Das Volk der Ainu in Japan wagte das Experiment und zog regelmäßig Grizzlyjunge als Teil eines kulturellen Rituals auf. Aus einleuchtenden Gründen hielten es die Ainu jedoch für angebracht, die Jungtiere zu schlachten und zu verspeisen, wenn sie ein Jahr alt waren. Der Ver­such, Grizzlys länger zu halten, käme Selbstmord gleich.

Mir ist kein Fall bekannt, in dem ein ausgewachsener Grizzly erfolgreich gezähmt worden wäre.

Ein weiterer ansonsten geeigneter Kandidat, dessen Domestikation aus dem gleichen Grund scheiterte, ist der Kaffernbüffel. Er erreicht relativ schnell sein Gewicht von bis zu einer Tonne und lebt in Herden mit ausge­prägter Dominanzordnung, einem Merkmal, auf dessen Bedeutung ich noch eingehen werde. Der Kaffernbüffel steht jedoch in dem Ruf, von allen großen afrikanischen Säugetieren das gefährlichste und unberechenbarste zu sein. Jeder, der so waghalsig war, den Versuch der Do­mestikation zu unternehmen, bezahlte dafür entweder selbst mit dem Leben oder war gezwungen, den Büf­fel zu schlachten, bevor er zu groß und bösartig wurde. Auch Nilpferde, vier Tonnen schwere Vegetarier, würden sich prächtig zur Hofhaltung eignen, wären sie nicht so gefährlich. Jahr für Jahr fallen ihnen mehr Menschen zum Opfer als jedem anderen afrikanischen Säugetier, Löwen eingeschlossen.

Daß diese wegen ihres bösartigen Temperaments be­rüchtigten Tiere nicht domestiziert werden konnten, dürfte die wenigsten überraschen. Andere Disqualifi­kanten sind für ihren gefährlichen Charakter dagegen weniger bekannt. Die acht Arten von Einhufern (Pfer­de und ihre Verwandten) unterscheiden sich in ihrem Verhalten sehr stark, obwohl sie genetisch so eng mit­einander verwandt sind, daß eine Paarung ohne weite­res möglich ist und zu gesundem (wenn auch in der Re­gel unfruchtbarem) Nachwuchs führt. Zwei von ihnen, das Pferd und der Afrikanische Wildesel (der Vorfah­re des Hausesels), wurden erfolgreich domestiziert. Eng verwandt mit dem Afrikanischen Wildesel ist der Persi­sche Halbesel, auch Onager genannt. Da zu seinem na­türlichen Verbreitungsgebiet auch der Fruchtbare Halb­mond gehörte, die Wiege der westlichen Zivilisation und der früheste Ort der Domestikation von Tieren, ist da­von auszugehen, daß schon sehr früh ausgiebig mit ihm experimentiert wurde. Aus sumerischen und späteren Quellen wissen wir, daß Onager regelmäßig gejagt, ein­gefangen und mit Eseln und Pferden gekreuzt wurden. Einige Schilderungen pferdeähnlicher Tiere, die zum Reiten und als Zugpferde dienten, beziehen sich mögli­cherweise auf Onager. Jeder, der über sie schrieb, von den alten Römern bis hin zu modernen Zoologen, äußerte sich jedochmißbilligend über ihre Übellaunigkeit und Bissigkeit. Die Folge war, daß Onager trotz ihrer großen Ähnlichkeit mit anderen Vorfahren unseres Hausesels nie domestiziert wurden.

Als noch schlimmer erwiesen sich die vier Zebraar­ten. Bei den verschiedentlichen Domestikationsversu­chen kam man immerhin so weit, Zebras vor Wagen zu spannen: Im 19. Jahrhundert experimentierte man in Südafrika mit Zebras als Zugtieren, und der exzen­trische Lord Walter Rothschild fuhr in einer mit Zebras bespannten Kutsche durch die Straßen Londons. Leider Gottes werden Zebras mit wachsendem Alter äußerst ge­fährlich. (Das soll nicht heißen, daß nicht auch Pferde oftmals ein schwieriges Gemüt haben, aber für Zebras und Onager gilt dies in viel stärkerem Maße und mit viel weniger Ausnahmen.) Zebras haben die unerfreuli­che Angewohnheit, Menschen zu beißen und dann nicht wieder loszulassen. Auf diese Weise verletzen sie jedes Jahr mehr Tierpfleger in Zoos als selbst Tiger! Es ist auch praktisch unmöglich, Zebras mit dem Lasso einzufan­gen – dieses Kunststück gelingt nicht einmal Cowboys, die auf Rodeos beim Einfangen von Pferden Meister­leistungen vollbringen. Der Grund liegt in einer Fähig­keit von Zebras, die sie nie im Stich läßt und die darin besteht, eine auf sie zufliegende Schlinge zu beobachten und sich im richtigen Moment wegzuducken.

Deshalb gelang es nur selten (oder nie), ein Zebra zu satteln und auf ihm zu reiten, und die Begeisterung für die Domestikation dieses Pferdeverwandten hat sich denn auch in Südafrika wieder gelegt. Unberechenbar­keit und Aggressivität großer, potentiell gefährlicher Säu­getiere erklären auch zum Teil, warum den anfangs so vielversprechenden Experimenten der jüngeren Vergan­genheit mit Elchen und Elenantilopen kein größerer Er­folg beschert war.

Neigung zu panikartiger Flucht. Die großen pflanzen­fressenden Säugetiere reagieren auf die Bedrohung durch Raubtiere oder Menschen auf unterschiedliche Weise. Einige Arten sind nervös, flink und auf sofortige Flucht bei Gefahr programmiert. Andere sind langsamer, weni­ger nervös, suchen Schutz in Herden, geben bei Gefahr nicht so leicht nach und ergreifen nur als letztes Mittel die Flucht. Die meisten Hirsch- und Antilopenarten (mit Ausnahme des Rentiers) gehören zum ersten Typ, Scha­fe und Ziegen zum zweiten. – Nervöse Tiere eignen sich naturgemäß nicht gut zur Haltung als Vieh. Eingepfercht in Gehege, geraten sie schnell in Panik und sterben ent­weder vor Angst oder beim verzweifelten Anrennen ge­gen den Zaun, der sie von der Freiheit trennt. Das gilt beispielsweise für Gazellen, die in manchen Gebieten Vorderasiens jahrtausendelang das am meisten gejagte Wild darstellten. Bei keinem anderen Säugetier hatten die ersten seßhaften Bewohner jener Region mehr Ge­legenheit, Domestikationsversuche zu unternehmen, als bei Gazellen. Es wurde jedoch keine einzige Gazellen­art je domestiziert. Man stelle sich nur vor, man sollte ein Tier halten, das ständig davonläuft, sich in blinder Panik gegen Mauern wirft, fast 10 Meter hoch springen und 80 Kilometer pro Stunde schnell sprinten kann!

Soziale Rangordnung. Die wildlebenden Vorfahren fast sämtlicher Arten großer domestizierter Säugetiere ha­ben drei soziale Merkmale gemein: Sie leben in Herden, weisen eine stark entwickelte Dominanzordnung auf und beanspruchen kein Revier für sich allein, d. h., die Wei­degebiete der Herden können sich überschneiden. So be­steht beispielsweise bei Wildpferden eine Herde aus ei­nem Hengst und bis zu einem halben Dutzend Stuten mit ihren Fohlen. Stute A ist ranghöher als die Stuten B, C, D, E usw.; Stute B ist rangniedriger als A, aber rang­höher als C, D, E usw.; C ist rangniedriger als B und A, aber ranghöher als D und E – und so weiter. Ist die Her­de auf Wanderschaft, wird eine feste Marschordnung eingehalten: Den Schluß bildet der Hengst, die Spitze das ranghöchste Weibchen, gefolgt von ihrem jüngsten und dann den übrigen Fohlen. Dahinter kommen die anderen Stuten in der Reihenfolge ihres Rangs, jeweils mit ihren Fohlen im Gefolge. Auf diese Weise kann eine größere Zahl erwachsener Tiere in einer Herde zusam­menleben, ohne daß ständig Kämpfe ausgetragen wer­den – jedes Tier kennt genau seinen Platz in der Rang­ordnung.

Für Zwecke der Domestikation ist eine solche Domi­nanzordnung ideal, da sich der Mensch an ihre Spit­ze setzen kann. Packpferde in einem Troß lassen sich genauso selbstverständlich von einem Menschen leiten, wie sie dem ranghöchsten Weibchen folgen würden. In Schaf-, Ziegen- und Rinderherden begegnet man eben­falls einer solchen Hierarchie; das gleiche gilt für Rudel von Wölfen, den wildlebenden Vorfahren der Hunde. Beim Aufwachsen in der Herde erfolgt eine Prägung der Jungtiere auf diejenigen Herdenangehörigen, die regel­mäßig in ihrer Nähe sind. In der Natur handelt es sich um Artgenossen, unter den Bedingungen der Gefangen­schaft können es jedoch auch Menschen sein.

Tiere, die in sozialen Gemeinschaften leben, sind prin­zipiell geeignete Kandidaten für die Viehhaltung. Da sie gegenüber Artgenossen ein tolerantes Verhalten zeigen und auch in der Natur in großer Zahl auf engem Raum zusammenleben, können sie problemlos zusammen­gepfercht werden. Und da sie instinktiv einem ranghö­heren Anführer folgen und auch auf Menschen geprägt werden können, lassen sie sich mühelos von einem Schaf­hirten oder Schäferhund treiben.

Im Gegensatz dazu kommen die meisten Tierarten mit Territorialverhalten, deren Angehörige als Einzelgänger leben, für die Herdenhaltung nicht in Frage. Weder sind sie tolerant gegenüber Artgenossen, noch lassen sie sich auf Menschen prägen oder ordnen sich instinktiv unter. Oder haben Sie schon einmal eine Herde Katzen gese­hen, die friedlich hinter einem Menschen herzog? Je­der, der Katzen kennt, weiß, daß sie sich dem Menschen niemals in der gleichen Weise unterordnen wie Hunde. Katzen und Frettchen sind die einzigen Säugetierarten mit Territorialverhalten, die jemals domestiziert wurden. Dies geschah aber nur, weil unsere Absicht nicht darin bestand, sie in Herden als Schlachtvieh zu halten, son­dern weil es uns um ihren Dienst als flinke Jäger bezie­hungsweise putzige Gefährten ging.

Während also die meisten territorialen Einzelgänger nicht domestiziert wurden, ist es umgekehrt keineswegs so, daß das Gros der Herdentiere domestiziert werden kann. Bei den meisten ist dies aus mindestens einem von mehreren weiteren Gründen nicht der Fall.

Erstens leben die Herden bei vielen Arten nicht in sich überlappenden Weidegebieten, sondern verteidigen die Reviere, die sie bewohnen, gegen andere Herden. Zwei derartige Herden lassen sich genausowenig zusammen­pferchen wie zwei männliche Tiere einer Art, deren An­gehörige als Einzelgänger leben.

Zweitens zeigen viele Arten, die einen Teil des Jahres in Herden verbringen, in der Paarungszeit ein ausgepräg­tes Territorialverhalten und bekämpfen jeden Artgenos­sen, der in die Nähe kommt. Dies gilt für die meisten Hirsch- und Antilopenarten (wiederum mit Ausnahme des Rentiers) und ist einer der Hauptgründe dafür, daß keine der vielen in Herden lebenden Antilopenarten, für die Afrika so berühmt ist, domestiziert werden konnte. Bei afrikanischen Antilopen denkt man vielleicht zuerst an »endlose Herden, so weit das Auge reicht«. Während der Brunst suchen sich die Männchen jedoch eigene Re­viere, die sie gegen jeden Rivalen heftig verteidigen. Aus diesem Grund können Antilopen nicht in großer Zahl zusammengesperrt werden, wie es sich Schafe, Ziegen und Rinder klaglos gefallen lassen. Bei Nashörnern ge­sellen sich zum Territorialverhalten noch Aggressivität und langsames Wachstum als weitere Gründe, die ih­nen den Platz im Stall verwehren.

Vielen Herdentieren, so auch den meisten Hirsch- und Antilopenarten, mangelt es schließlich an einer ausge­prägten Dominanzordnung. Ihnen fehlt auch die in­stinktive Veranlagung zur Prägung auf einen ranghöhe­ren Anführer (als Voraussetzung für die »Fehlprägung« auf einen Menschen). Deshalb konnten zwar zahlreiche einzelne Rehe und Antilopen gezähmt werden (Bambi läßt grüßen), doch es gelang nie, sie in Herden zu hal­ten, wie etwa Schafe. An diesem Problem scheiterte auch die Domestikation des nordamerikanischen Dickhorn­schafs, das zur gleichen Gattung gehört wie das asiati­sche Mufflon, der Vorfahre unseres Hausschafs. Dick­hornschafe haben zahlreiche für den Menschen nützliche Eigenschaften und ähneln Mufflons in vieler Hinsicht, mit einer entscheidenden Ausnahme: Ihnen fehlt die ste­reotype Verhaltensweise, daß sie sich einer Rangord­nung unterwerfen.

Ich will nun auf das Paradoxon vom Beginn dieses Ka­pitels zurückkommen. Bei der Beschäftigung mit der Domestikation von Tieren steht man zunächst vor ei­nem Rätsel, wenn man zu erklären versucht, warum ei­nige Arten scheinbar willkürlich domestiziert wurden, ihre engen Verwandten jedoch nicht. Wie sich bei nähe­rer Untersuchung zeigt, hat das Anna-Karenina-Prinzip viel damit zu tun, warum alle bis auf eine kleine Zahl von Kandidaten aus dem Rennen schieden. Mensch und Tier – diese Kombination ergibt bei den allermei­sten Arten eine unglückliche Ehe, und zwar aus jeweils einem oder mehreren von vielen möglichen Gründen. Hierzu zählen Ernährungsgewohnheiten, Wachstum­stempo, Paarungsverhalten, Temperament, Neigung zu Panik sowie mehrere spezifische Merkmale des sozi­alen Zusammenlebens. Nur ein kleiner Prozentsatz al­ler Säugetierarten fuhr in den »Hafen der Ehe« mit dem Menschen ein. Als Voraussetzung mußten beide Part­ner in jedem einzelnen Aspekt gut miteinander harmo­nieren.

Den Völkern Eurasiens wurde eine wesentlich größere Zahl pflanzenfressender Säugetiere, die sich zur Dome­stikation eigneten, in die Wiege gelegt als den Völkern der anderen Kontinente. Dieses Faktum, das von immen­ser Tragweite für den weiteren Verlauf der Geschichte war, hat drei grundlegende geographische, historische und biologische Ursachen: Erstens besaß Eurasien ent­sprechend seiner großen Landmasse und ökologischen Vielfalt von vornherein die meisten Kandidaten. Zwei­tens verloren Australien, Nord- und Südamerika, nicht aber Eurasien und Afrika, die meisten ihrer Domesti­kationskandidaten in einer gewaltigen Welle des Arten­sterbens, die sich gegen Ende des Pleistozäns ereignete und die möglicherweise dadurch ausgelöst wurde, daß die zuerst genannten Kontinente die Bekanntschaft des Menschen relativ plötzlich und spät in der Evolutions­geschichte machten, als wir bereits beachtliche Jagdfer­tigkeiten besaßen. Und schließlich war in Eurasien ein höherer Prozentsatz der überlebenden Kandidaten als auf den anderen Kontinenten zur Domestikation geeig­net. Die nähere Untersuchung jener grundsätzlich in Frage kommenden Arten, die nicht domestiziert wur­den, wie beispielsweise die großen afrikanischen Her­dentiere, zeigt uns im einzelnen, woran die Domestika­tion scheiterte. Sicher hätte Tolstoi der Erkenntnis zu­gestimmt, die ein früherer Autor, der heilige Matthäus, in anderem Zusammenhang verkündete: »Viele werden gerufen, doch nur wenige werden auserwählt.«